Liebet eure Feinde ...
Im Folgenden drucken wir den Text einer Radiosendung ab, die Ende Mai im Süd- westfunk gesendet worden ist. Der Autor, Klaus Figge berichtete in der Sendung „Kirche im Gespräch” über die Reaktion auf die Grußadresse von 28 Tübinger Theologiestudenten an Günter Sonnenberg.
„Verwirrung und Verblendung,, oder .Zynismus und Einfalt”, zwei typische Schlagzeilen über Tübinger Theologiestudenten in den letzten Tagen. Die öffentliche Empörung ist groß. Der „Fachschaftsrat” der Theologiestudenten hatte am 10. Mai mit 28 gegen 5 Stimmen beschlossen, dem mutmaßlichen Terroristen Günter Sonnenberg Brief und Blumen ins Krankenhaus zu schicken.
Die Vorgeschichte:
Badisches Tagblatt 4. Mai:
„2 hochkarätige Terroristen nach Schiesserei gefaßt.” Der im Zusammenhang mit dem Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seinen beiden Begleitern gesuchte Günter Sonnenberg und die ebenfalls als Terroristin gesuchte Verena Bekker sind gestern in Singen am Hohentwiel nach einer Verfolgungsjagd und einem heftigen Schußwechsel gefaßt worden ... Bei der Schießerei wurde Sonnenberg durch einen Kopfschuß lebensgefährlich verletzt. Ein Beamter erlitt schwere Verletzungen, Verena Becker und ein anderer Beamter leichte Verletzungen.”
Als Günter Sonnenberg transportfähig war, wurde er in eine Tübinger Klinik gebracht. In der Öffentlichkeit neu belebt wurde die Diskussion um die Todesstrafe; es erhoben sich Stimmen, welche die Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen bei Sonnenberg forderten. Die öffentliche Empörung über den Mord an Siegfried Buback in Karlsruhe ging sozusagen nahtlos über in die Empörung über die Schießerei in Singen und dann in die über den Theologiestundentenbrief an Sonnenberg in Tübingen.
Einer der Autoren sagte über die Entstehung des Briefes:
„Ich bin einer von denen, die mit auf die Idee gekommen sind diesen Antrag in den Fachschaftsrat einzubringen. Entstanden ist es aus unserem Unwohlsein darüber, in unserm Theologicum in unmittelbarer Nachbarschaft der chirurgischen Klinik hier in Tübingen zu arbeiten und zu wissen, daß dort der Mensch Günter Sonnenberg liegt, und gleichzeitig in der Öffentlichkeit hier in Tübingen mitzubekommen die Forderung nach der Todesstrafe, nach der Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen bei den Terroristen. Und das rief bei uns eben das Unwohlsein hervor. Wir sind dann davon ausgegangen, (das hat sich dann später als Fehleinschätzung der Lage herausgestellt) daß Theologiestudenten in der Öffentlichkeit einen solchen Ruf oder ein solches Ansehen genießen, daß sie es wagen können, zu solchen Tabuthemen Stellung zu nehmen, ohne daß man sie gleich der Sympathie mit Terroristen, mit Terrorismus und Gewalt verdächtigt. Wir wollten ein Zeichen setzen, daß wir Menschen, von denen man öffentlich den Tod fordert, Blumen und Genesungswünsche senden. Und dabei eben unsern Ruf als Theologiestudenten mit einsetzen.”
Wir können hier nur versuchen, mit den Mitteln der Dokumentation die Tübinger Vorgänge aufzuzeigen. Wir haben dabei den Wunsch eines der 28 Stundenten, die für den Brief gestimmt haben, berücksichtigt, anonym bleiben zu wollen; denn die 28 Namen sind keineswegs alle bekannt. Hier aber zunächst einmal der Brief im Wortlaut. Und zwar im vollen Wortlaut. „Lieber Günter Sonnenberg! Du bist hier nach Tübingen gebracht worden, wo wir in der Fachschaft ev. Theologie in der politischen Auseinandersetzung mit den Kräften stehen, mit denen auch Du zu tun hast. Wir suchen darin vermutlich andere Formen als Du (wir lehnen z.B. tötende Gewalt im Kampf um eine bessere Form des Zusammenlebens ab).
Wir wünschen Dir und uns, daß wir in nicht allzufemer Zukunft in einer Gesellschaft leben, in der Entfremdung aufgehoben, Haß und Gewalt überflüssig, Solidarität und Zärtlichkeit die menschlichen Umgangsformen sein werden.
Mit besten Genesungswünschen
Der Fachschaftsrat ev. Theologie
Übrigens wünschen wir das auch den Polizisten, die dann allerdings nicht mehr nötig sein werden.”
Der erste, der nach dem Beschluß, aber noch vor Absendung des Briefes aktiv wurde,war Martin Hengel, Prof. für Neues Testament und Antikes Judentum, gegenwärtig Dekan des Fachbereiches ev. Theologie.
Prof. Hengel:
Ich erfuhr zunächst einfach nur die Tatsache ohne die näheren Umstände, und ich bemühte mich dann leider vergeblich, in Kontakt mit den Leuten zu kommen, die nun maßgeblich an diesem Beschluß beteiligt waren, die ihn eingebracht, verteidigt hatten und die auch mit seiner Ausführung betraut waren.”
Der Mann, der Prof. Hengel informierte war der Student R. F., der gewählte Fachschaftssprecher der Studenten:
„Ich war dabei, als dieser Antrag im Fachschaftsrat gestellt worden ist. Zunächst habe ich zu bedenken gegeben, daß dies (es war einfach nur der Antrag gestellt worden, Blumen zu schicken) unbedingt mißverstanden werden mußte als Sympathieerklärung. Daraufhin hat man sich erboten, ein Begleitschreiben zu schicken, und hat dieses Begleitschreiben auch sehr schnell verlesen. Dann gab’s vielleicht ’ne halbe Stunde Diskussion, inwieweit ein solcher Blumenstrauß Mißverständnisse hervorrufen kann, inwiefern diese Mißverständnisse etwa die Diskussion ankurbeln können oder inwiefern die eigentlich nur schaden. Ich habe mich dann auch gegen diesen Brief gewandt, weil er die an sich gute Aktion nicht präzisiert, sondern zudem noch den Verdacht bestärkt, daß es sich um eine Solidaritätsaktion handelt. Wobei ich persönlich sagen will, daß ich nicht den Eindruck hatte, daß sie sich solidarisieren wollten. Aber die Ausdrücke waren derartig zweifelhaft und verschwommen, daß man sie in der Bevölkerung mißverstehen mußte. Ich hab’ dann den Gegenantrag gestellt: Daß wir zusammen eine Presseerklärung ausarbeiten, die — soweit es uns möglich ist — an die verschiedenen Zeitungen gehen sollte als Stellungnahme der gesamten Fachschaft und die wir dann auch von der Vollversammlung verabschieden lassen könnten, zum Problem des Terrorismus; daß wir zunächst dazu Arbeitskreise bilden und daß so’ne überstürzte Aktion nicht wohlbedacht ist.”
Auch F. also, der als Fachschaftssprecher gegen den Brief war, wollte in Sachen Terrorismus etwas tun:
„Ich wollte einfach, wenn man’s in Schlagworten ausdrückt, darauf hinweisen, wo zunächst mal die Grenzen zwischen Recht und Rachewunsch überschritten wird. Die Empörung in der Öffentlichkeit über solche Gewaltakte ist berechtigt. Daß das aber dann dazu führt, unmittelbar die Todesstrafe zu fordern, oder wie ich’s in der Bevölkerung oft gehört habe, einfach kurzen Prozeß zu machen mit den Leuten und ihnen auch praktisch ihre demokratischen Rechte zu entziehen, sie also zur Unperson zu erklären, das sind solche Dinge, gegen die man als Staatsbürger ganz einfach Vorgehen muß. Auch als theologische Fachschaft sollten wir hier Stellung nehmen gegen so etwas.”
Student F. also hatte den Dekan Hengel informiert.
Der Dekan:
„Daraufhin habe ich noch am Freitag den Präsidenten von dem Vorfall benachrichtigt (am 14. Mai), und dann sämtliche habilitierten Professoren und Dozenten des Fachbereiches für Samstagabend in meine Wohnung eingeladen, um diesen Vorfall, der mich sehr empört und erschreckt hat, zu besprechen. Auf Grund des Protokolls und meiner Informationen konnte ich dann meine Kollegen über den Vorfall informieren. Wir haben dann dazu nach einer längeren Diskussion, einmütig eine Resolu, tion verfaßt, in der wir unsere Bestürzung über die geistige Verwirrung einer kleinen Gruppe von Theologiestudenten zum Ausdruck bringen, die hier dem unter Mordverdacht verhafteten Günter Sonnenberg Brief und Blumen Übersand haben. Wir waren, sind der Meinung, daß ein solcher Schritt unweigerlich von der Öffentlichkeit als Solidarisierung mit diesem des Mordes Verdächtigen aufgefaßt werden mußte, und daß auch die in dem Schreiben auch offenbar vorgesehene Distanzierung von politischem Mord nicht ausreicht, um das Mißverständnis einer Solidarisierung und Sympathieerklärung zu beseitigen.”
Dies ist der volle Text der Professorenerklärung:
„Mit Bestürzung haben wir die geistige Verwirrung einer Gruppe von Theologiestudenten zur Kenntnis genommen, die sich in der Übersendung von Brief und Blumen an den wegen Mordverdacht inhaftierten Günter Sonnenberg ausdrückt. Auch Mitgefühl mit einem Schwerverletzten kann nicht Schritte legitimieren, die die Grenze zwischen Recht und Unrecht verwischen. Solche Schitte werden unweigerlich zur Sympathieerklärung für die Gesetzlosigkeit. Daran ändert auch Distanzierung von Terror und Mord nichts. Die Einsatzbereitschaft für das Bessere sollte sich nicht von den terroristischen Zielen weniger mißbrauchen lassen!”
Abgeschickt und in der Öffentlichkeit bekannt wurde der Brief an Sonnenberg erst zwei Tage später. Einer der Briefentwerfer:
„Der Brief ist von uns selbst an die Öffentlichkeit gegeben worden nach dem Wochenende; der Brief ist also Montagmorgen abgegangen mit den Blumengrüßen. Nachdem wir am Wochenende von der Reaktion unserer theologischen Lehrer erfahren hatten, die unserer Aktion ablehnend und mit sehr viel Unverständnis gegenüberstanden, und als uns klar war, daß in der Öffentlichkeit eine Diskussion über der Öffentlichkeit eine Diskussion über unsern Brief und über unsere Aktion in Gang kommen würde, und daß diese Diskussion wahrscheinlich auf eine Diffamierung von uns als Gewalttäter und Terroristen hinausliefe, haben wir den Brief gleichzeitig hier an die Ortszeitung gegeben, um so die sachliche Grundlage für diese Diskussion zu ermöglichen.”
Bekannt wurde dann auch das Parallelschreiben an die verletzten Polizisten in Singen. Hier der volle Text:
„Anlässlich unserer Genesungswünsche an Günter Sonnenberg wollen wir es nicht versäumen, auch Ihnen baldige Genesung zu wünschen. Der Fachschaftsrat ev. Theologie 74 Tübingen, Anlage: Schreiben an Günter Sonnenberg”
Dazu Dekan Hengel:
„Ärgerlich war vor allem auch die Tatsache, daß den verletzten Polizisten nur eine ganz kurze Notiz übersandt wurde und daß man den Polizisten eine Kopie des Sonnenbergbriefes beilegte. Der Brief an Sonnenberg mit der nun nachgeraden Formulierung, daß „wir in der Fachschaft ev.Theologie in derpolitischen Auseinandersetzung mit den Kräften stehen, mit denen auch Du (man beachte die vertrauliche Anrede) zu tun hast”, muß eindeutig als Solidarisierung und Symphatieerklärung gedeutet werden. Auch wenn dann der Nachsatz kam: Wir suchen darin vermutlich andere Formen als Du, wir lehen z.B. tötende Gewalt im Kampf um eine bessere Form des Zusammenlebens ab.” Wir machten die Betroffenen sofort auf dieses sonderbare „vermutlich” aufmerksam; sie versuchten sich damit zu verteidigen, daß sie damit, da Sonnenberg noch nicht rechtskräftig verurteilt sei, mit äußerster Penibilität nun zurückweisen müßten, daß es sich hier, um einen Mörder handele: das müßte erst das Gericht klären. Offenbar konnten die Verfasser nicht richtig Deutsch.”
Einen Teil der Argumentation der Briefschreiber hat Hengel damit schon vorweggenommen. Zu dem übrigen sagen sie:
„Kurz zu dem ,Du’ und ,Sie’: Günter Sonnenberg ist, soweit uns bekannt ist, Student, 23 Jahre alt, und da ist diese Anrede üblich und das Normale. Der Brief an den Polizisten wurde als zynisch aufgefaßt: Der Brief an den Polizisten wurde auch nicht mit der gleichen Sorgfalt abgefaßt, und es tut uns leid, daß er so verstanden wurde. Wir haben inzwischen dem Polizisten einen persönlichen Brief geschrieben, der nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist, in dem wir dieses Mißverständnis richtig gestellt haben, und glauben, daß wir durch diesen persönlichen Kontakt den richtigen Weg eingeschlagen haben.”
In der Folge hat es eine Fülle von öffentlicher, auch polemischer Auseinandersetzungen um diesen Brief an Sonnenberg gegeben, was die Absender offenbar völlig überrumpelt hat.
„Es war die typische Zauberlehrlingsreaktion, daß man plötzlich erschrocken feststellt, daß man die Geister, die man selber gerufen hat, und zwar ganz bewußt und zielstrebig, trotz aller Warnungen nicht mehr los wird,”
sagt Dekan Hengel. Pfarrer, Gemeindeglieder, Polizisten, Journalisten — jeder protestierte. Briefe forderten den Ausschluß vom Studium und verglichen makaber die Gehirn Verletzung Sonnenbergs mit dem Gehimzustand der 28 Briefschreiber. Die Gewerkschaft der Polizei erstattete Strafanzeige. Nur der Allgemeine Studentenausschuß der Universität Tübingen solidarisierte sich mit den 28. AstA-Referentin* „Wir vom AstA, wir haben uns hinter diese Aktion gestellt, und sie definiert als moralisch und politisch richtige Handlung, weil wir der Meinung sind, daß da, wo die Gesellschaft den Tod fordert, daß da Blumen geschickt werden.”
Zitat aus der AstA-Erklärungvom 22. Mai: „Günter Sonnenberg und der Polizist, sie sind beide Opfer ein und desselben gesellschaftlichen Prozesses, der auf Gewalt basiert, wie diese gesamte Gesellschaft basiert auf dem Gewaltverhältnis von wenigen Kapitaleignern zu vielen abhängigen Lohnarbeitern. Sonnenberg und der Polizist, sie gehören zusammen, ihre Plätze sind austauschbar.”
Damit hatte die Auseinandersetzung eine neue Stufe erreicht. Vergeblich hatte Universitätspräsident Theis noch versucht, durch rechtsaufsichtliche Verfügung den Brief an Sonnenberg zu stoppen. Zur AstA Erklärung sagt er:
„Für die Tübinger Universität ist dieses ein gewisser Schlußpunkt der Entwicklung der politischen Auseinandersetzung mit bestimmten Gruppierungen der Studentenschaft. Hier zeigt sich ganz deutlich, daß bewußt oder unbewußt (das mag denn mal dahinstehen) die Ausübung von Gewalt als Folge unserer eigenen Gesellschaft angesehen wird, daß man sich also nicht mehr bereit erklärt, an der Veränderung und Weiterentwicklung dieser Gesellschaft zu arbeiten, sondern daß man sie pauschal für nicht mehr veränderungswürdig und damit auch (im Unbewußten) für gewaltsam zu beseitigen hält. Wir meinen, daß bei dieser Situation das Ausführen rechtsaufsichtlicher Maßnahmen oder gar das Erstreiten verwaltungsgerichtlicher Maßnahmen, die solche Äußerungen verbieten, nicht weiterhilft. Wir müssen jetzt gemeinsam zwischen Lehrenden und Lernenden das Gespräch über die geistige Situation unserer Studentenschaft in Gang bringen. Wir können jetzt nicht mehr versuchen, überall den Mantel der Nächstenliebe auszubreiten, sondern müssen uns gegenseitig stellen. Wir müssen versuchen, die bisher schweigend an der Universität studierende Mehrheit, das sind weit mehr als 90%, in die Auseinandersetzung mit einzubeziehen.”
Befragt, wie er denn die „geistige Situation” seiner 18. 000 Studenten generell einschätze, sagte Uni-Präsident Theis:
„Was wir sicher sagen können, ist, daß wir eine Gruupe (ich würde sie auf weit unter 10% einschätzen) hochsensibilisierter Studenten haben, die sowohl mit den Formen in der Universität, aber auch mit den Lebensformen der sie umgebenden Gesellschaft nicht mehr zurechtkommt. Es sind Leute, die irgendwo versuchen, im geistig-theoretischen Bereich neue Formen der Gesellschaft zu entwickeln, sie z.T. in neuen Gruppierungen des menschlichen Zusammenlebens zu erproben. Sicher ist aber auch, daß wir eine kleine Gruppe entschlossener Aktivisten haben, bei denen wir uns manchmal fragen, inwieweit sie im Grunde genommen nur der verlängerte Arm (ob im Bewußten oder Unbewußten) derer sind, die östlich der Elbe das Staatsgebilde beherrschen.”
Untersucht man einmal inhaltlich die Vorwürfe gegen die 28 Theologiestudenten, die Günter Sonnenberg geschrieben haben, etwas genauer, so spielt der Marxismusverdacht eigentlich nur eine Nebenrolle.
Bei Prof. Hengel taucht er noch einmal auf: „Theologisch ist völlig falschdasMenschenbild. Hier wird die Tatsache der Sünde des Menschen, seine Ich-Sucht, seine Gewalttätigkeit, seine Eigenliebe nicht ernstgenommen. Es wird so getan, als könnte man durch gesellschaftliche Veränderungen das alles aufheben — gewissermaßen mit einer Handbewegung in nicht allzu ferner Zukunft eben Haß und Gewalt aufheben, so daß es nur noch Solidarität und Zärtlichkeit gibt und ein Staatswesen ohne Polizisten. Die politische Wirklichkeit der letzten 60 Jahre beweist ja das Gegenteil. Die Zahl der Polizisten, gemessen an der Bevölkerungszahl, ist in den sozialistischen Staaten sehr viel größer. Mir wurde gesagt, daß in der DDR es,gemessen an der Bevölkerung doppelt soviele Polizisten gibt wie in der Bundesrepublik.”
Es überrascht eigentlich, wenn man sich in Tübingen umhört, daß kaum jemand an der Universität den 28 Böswilligkeit zutraut; der Sympathie verdacht für Terrorismus wird allgemein zurückgewiesen, die gutgemeinte, aber instinktlose Symbolgeste’ betont. Was bleibt als Vorwurf im politischen Bereich, ist Kurzsichtigkeit, Ahnungslosigkeit, taktische Unklugheit – und zwar aus mancherlei Gründen.
„Jetzt im Nachhinein können wir das auch als taktische Unklugheit bezeichnen. Aber wir haben einfach für möglich gehalten, daß die Öffentlichkeit, wenn da etwas von Theologiestudenten kommt, differenzierter urteilt, als sie das getan hat”,
sagt einer der 28. Auf die Frage aber, welche Theologie denn nun eigentlich bei ihm dahintersteckt, wenn er von einer kommenden gewaltfreien Gesellschaft auf dieser Erde träume, muß erlange nachdenken:
„Eine Theologie, die auf Befreiung des Menschen zielt; eine Theologie, die den Status quo nicht hinnehmen kann als unveränderbar, sondern weiter versucht, ihn zu verändern hin auf die Selbstverwirklichungsmöglichkeit für alle Menschen in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen.” Dies aber ist im Kem ein Aspekt der gegenwärtig in der evangelischen Theologie geführten Hauptdiskussion. Die Progressiven beharren darauf, daß mit menschlicher Anstrengung zwar nicht das Reich Gottes auf Erden herbeigeführt werden kann, daß aber doch versucht werden muß, die ungerechten Verhältnisse wenigstens zu verbessern. Das leiten diese Theologen aus dem Evangelium ab. Anders die Denkweise der Konservativen, zu denen in Tübingen auch Dekan Hengel gehört. Klaus F igge fragte ihn:
„Meine Frage zielt nochmal auf das Theologische: Sie können doch nicht vom Neuem Testament her argumentierend sagen, daß es nicht eine Möglichkeit gibt, auf dieser Erde zu versuchen, einen möglichst gerechten Staat, eine möglichst gerechte Gesellschaft aufzubauen — als Utopie. Das Neue Testament verweist doch nicht nur aufs Jenseits, im Gegenteil!”
Dekan Hengel antwortete:
„Gerade hier muß man sehr deutlich unterscheiden: Ein möglichst gerechter Staat ist immer (wie alle Staaten) zugleich ein partiell ungerechter Staat, in dem Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit miteinander kämpfen. Und eben auf Grund dieses Kampfes, der zugleich ein Kampf in unserem Herzen ist, ist in jedem Staat Polizei notwendig. Der Begriff ,.möglichst” in Ihrer Frage enthält im Grunde genommen bereits die Notwendigkeit der Polizei. Ich würde wünschen, daß die Entwicklung darauf zuläuft, daß unser Staat friedlicher wird, daß es mehr Solidarität, Zärtlichkeit und Gerechtigkeit gibt. Aber hier in dem Papier ist ja davon die Rede, daß Polizisten nicht mehr nötig sein sollen und daß Haß und Gewalt völlig überflüssig sind.
Hier wird eine Utopie gezeichnet, die mit dem Menschenbild des Neuen Testament, mit dem Bild vom eigensüchtigen, bösen Herzen nicht übereinstimmt. Es werden hier in vulgärmarxistischer Weise im Grunde alle Fehler des Menschen auf falsche gesellschaftliche Verhältnisse zurückgeführt. Und wenn die Gesellschaft richtig geordnet ist, dann hören auch das Verbrechen und die Ich-Sucht des Menschen auf. Das halte ich nun freilich für einen Grundirrtum, der dem Menschenbild des Neuen Testament fundamental widerspricht. Das Reich Gottes — im eigentlichen Sinne — kann nur durch Gottes Wunder entstehen, und eben nicht durch menschliches Fortschrittsstreben.”
Ein Teil der Tübinger Auseinandersetzung geht sicher zurück auf unterschiedliche theologische Ansätze. Auf einer Vollversammlung der Theologen, an der von 1 200 Studenten 450 teilnahmen, stimmte am 24. Mai die knappe Mehrheit dafür, sich zu distanzieren:
„1. Von der eigenmächtigen Briefaktion des Fachschaftsrates, ohne jedoch die Befürworter zu diffamieren oder gar der persönlichen Verfolgung preiszugeben;
2. von jeder Form des Terrorismus und dem Versuch seiner Rechtfertigung;
3. von pseudo-theologischen Zukunftswünschen, die die Sündhaftigkeit des Menschen außer Acht lassen, da Erlösung auch wenn sie durch Menschen geschieht - Gottes alleiniges Werk ist.”
In Tübingen aber leben derweil die 28 geknickt, isoliert — in der Furcht des Herrn. Denn der Bischof hat gesprochen; ihre kirchliche Karriere ist in Gefahr. Helmut Class, Vorsitzender des Rates der ev. Kirche in Deutschland:
„Der Brief ist Ausdruck einer tiefgehenden Verwirrung und politischen Verblendung . .. Äußerungen einzelner Studenten können nicht der Kirche als Ganzes angelastet werden. Theologiestudenten stehen noch nicht im kirchlichen Dienst. Damit ist die Kirche nicht von der Verantwortung für ihre künftigen Pfarrer entbunden. Eine Denkweise die politischen Terror als Mittel zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse bejaht, ist unvereinbar mit dem Dienst in der Kirche.”
Klaus Figge