DIE KUH AUF DER OTTOMANE ODER
Sechs Herren kamen am 1. Juni 1976 in einem Rundfunkstudio in Basel zusammen, um ein literarisches Rätsel zu lösen. Der Redakteur Rübenach las den Text vor, er bestand aus 3 Meldungen verschiedener Nachrichtenagenturen. Gegenstand der Meldungen war je eine Kuh, die sich ihrer bevorstehenden Schlachtung durch Flucht zu entziehen versuchte. Während die Kühe in Leer (Ostfriesland) und Lüdenscheid (Sauerland) jeweils dem gezielten Todesschuß deutscher Polizisten erlagen, landete die dritte in Kraljewo (Jugoslawien) nach einem beherzten Sprung durchs Dach auf der Ottomane eines Wachszieher, wo ihr von Arbeitern des Schlachthofs mittels eines Bolzenschußgeräts der Garaus gemacht wurde. Die anwesenden Literaturspezialisten machten sich über Form und Inhalt der Geschichten her. Der Autor Diggelmann setzte zu einer kühnen Interpretation an und meinte, bei den Kühen handele es sich keinesfalls um Kühe: „Er meint einen gefangenen Menschen, der ins Gefängnis geführt wird und der ausbricht. Anstelle von Kuh muß man Mensch sagen.“ Der Herr Blatter (Basel) dachte in dieser Richtung weiter: „Schießbefehl an die Polizei, gezielten Schuß und so ..." Das Rätselraten geriet zum Politikum. Wenn die Kuh also in Wirklichkeit ein Mensch war, von Polizisten gejagt, vielleicht handelte es sich um eine Parabel über die Bader-Meinhof Gruppe? Doch da tauchte ein schier unlösbares Problem auf: die jugoslawische Kuh. So daß einer der Teilnehmer resignierend eingestand: „ Ich bin in Verlegenheit, ich weiß noch nicht, was ... was will er damit eigentlich?“
Die Meldungen waren indes echt, gesammelt und veröffentlicht von Uwe Nettelbeck in dem Buch „ Mainz wie es singt und lacht.“ Das literarische Rätselgespräch ist in voller Länge nachzulesen in Nr. 10 - 15 der Zeitschrift „ DIE REPUBLIK“ . Diese erscheint seit der letzten Buchmesse in unregelmäßiger Folge. Sie nimmt, bis in die Formulierung des Impressums hinein die Tradition der „FACKEL“ wieder auf, die von Karl Kraus 1899 - 1936 in Wien herausgegeben wurde. Der bemerkenswerte Satz im Impressum lautet: .Anzeigenaufträge werden nicht entgegengenommen; unverlangt eingesandte Manuskripte und Drucksachen werden nicht geprüft, sondern vernichtet, Briefe und Anfragen an die Redaktion nicht beantwortet.“
DIE REPUBLIK beschäftigt sich im wesentlichen mit zwei Themen. Dem Zustand der westdeutschen Publizistik und der Polizei. Das erste Heft dokumentiert unter der Überschrift „Ein Sängerkrieg“ die monatelangen Auseinandersetzungen um den „Grand Prix Eurovision“ und die Verbissenheit, mit der sich die Zeitungen von BILD bis Offenbach Post dieses öden Themas annahmen. Dazu kommen die Reflexionen zweier FAZ-Lokalkommentatoren über so bewegende Fragen wie: Warum merke ich mir alte Telefonnummern und: Wieso kann ich mir die Namen neuer Staaten nicht merken, seit ich das Briefmarkensammeln aufgegeben habe. Kommentar der REPUBLIK : „ Der philatelistischen Weitsicht wie der Auslandsposten verlustig, gestern noch auf stolzen Rossen, heute Redaktionsfaktota, damit beschäftigt, ihre 1001 Meisen auseinanderzuhalten, trübsinnig geworden und marode, extemporieren sie Intimstes.“
Der Report-Moderator Klaus Stephan und sein peinlicher Roman, die Entäußerungen der Bergen-Enkheimer Stadtschreiber Krolow und Rühmkorf und nicht zuletzt die publizistischen Werke von Fritz J. Raddatz runden das Panoptikum der westdeutschen Kulturszene ab.
Das zweite große Thema, zu dem in drei Teilen umfangreiches Material zusammengetragen wurde, ist die Kriminalistik. Unter dem Titel Fantomas wurden der Aktenvorgang über einen Einbruch in Oldenburg, Auszüge aus der Monographie „System und Praxis der Daktyloskopie und der sonstigen Methoden der Kriminalpolizei“ (Heft 1), der „Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder“, der Fantomas-Film von Louis Feuillade, (Heft 2) sowie Vorträge hoher Polizeiund Justizbeamter über Alarmfahndung und EDV-Systeme (Heft 3) veröffentlicht.
Dieses sonst nur schwer oder gar nicht zugängliche Material macht die Republik zu einer wichtigen Zeitschrift. Es ist eben nicht so, wie der SPIEGEL-Kommentator Bittdorf meinte, daß das Material über die Polizei keine Inhumanität des Fahndungsapparates enthüllt.
Die Kritiker waren allesamt über die REPUBLIK etwas erschrocken. Unisono war ihre Reaktion: An Karl Kraus und die Fackel kommt die Republik nicht heran. Nun liegt die Dummheit in der heutigen Publizistik sicher auf einer anderen Ebene als damals. Daß es Nettelbeck mit der REPUBLIK gelingt, sie dem befreienden Gelächter preiszugeben, ist ein Verdienst.
Harry Oberländer
Die Republik, Vertrieb :Zweitausendeins Ein Heft umfaßt 12 Nummern.
Preis einer Nummer: 4,-- DM
im Abonnement: 3,-- DM