paar Gedanken zum 2. Juni ’67 und so ..

Zunächst hatte es geheißen, bei den Demonstrationen in Berlin gegen den Besuch des Schah von Persien sei jemand erschlagen worden: der Germanistikstudent Benno Ohnesorg. Presse, Rundfunk und Fernsehen gaben die Schuld prügelnden und Steine werfenden Demonstranten, veröffentlichen Fotos von angeblichen linken Schlägern, die mit langen Latten in der Demonstration eine Schlägerei provozierten. Erst zwei Tage später bekam der SDS einen Tip, wonach Ohnesorg erschossen worden war. Erst am 5. Juni gaben die Berliner Behörden das Obduktionsergebnis „Einschuß im HinterkopP’ bekannt. Gleichzeitig verbreiteten sie die Version, daß der Polizist, der Ohnesorg erschossen hatte, in Notwehr gehandelt habe. Wir wußten hingegen von der Frau Ohnesorgs, daß dieser zum ersten Mal zu einer Demonstration gegangen sei, um herauszubekommen, ob es stimmte, was die linken Studenten in der Uni auf Flugblättern über die brutalen Polizeieinsätze berichteten.

Und wir wußten von Zeugen, die gehört hatten, daß jemand, bevor die Schüsse fielen, gerufen hatte, „bitte nicht schießen.” Spätere Untersuchungen ergaben;der Polizist Kurras erschoß Ohnesorg von hinten, während dieser von mehreren anderen Polizisten festgehalten wurde. Und noch eine Weile später wurde bekannt, daß es sich bei den angeblichen Demonstranten, die, mit Schlagstöcken ausgerüstet,die Massenschlägerei ausgelöst hatten,in Wirklichkeit um Agenten des persichen Geheimdienstes SAVAK handelte, die im Gefolge des Schah in die Bundesrepublik eingeflogen worden waren. Die Massenpresse, spielte noch wochenlang diese Provokateure der Ereignisse am 2. Juni als Jubelperser herunter.

An diesem 2. Juni 1967 brach für viele von uns eine Welt von Illusionen zusammen, Illusionen in ein System, von dem wir glaubten, es habe die faschistische Vergangenheit überwunden. Wir hatten zwar schon zu begreifen begonnen, daß diese Gesellschaft, das Land, in dem wir lebten, nicht das war, was es vorgab zu sein, demokratisch und freiheitlich. Die Abhöraffäre einige Jahre zuvor, Vietnam . .. hatten eine winzige Minderheit von Studenten in radikalen Gegensatz zur herrschenden Gesellschaftsordnung gebracht. Bei vielen anderen hatte ein Prozeß des Zweifelns und Umdenkens begonnen. Hier und da waren schon kleinere Protestaktionen gelaufen, Vietnam-Demonstrationen und die Kampagne gegen die geplanten Notstandsgesetze, antiautoritäre Revolten mit moralischem und radikal-demokratischem Hintergrund. Wir protestierten, weil die Amerikaner in Vietnam Napalm auf die Zivilbevölkerung warf und weil die Bundesregierung dazu schwieg, ohne zu wissen, daß ein Teil der chemischen Kampfstoffe, die die USA in Vietnam einsetzten, aus der BRD stammten. Wir protestierten gegen den Imperialismus der USA, ohne konkret erfahren zu haben, was Imperialismus ist, ohne ein breites Bewußtsein davon, welche gesellschaftliche Basis Erscheinungen wie den Krieg in Vietnam oder den Krieg im Nahen Osten (der 3 Tage nach den Ereignissen in Berlin ausbrach) und den Notstandsgesetzen zugrundeliegen. Wir wollten verhindern, daß sich hier wieder eine Entwicklung anbahnt, die auch nur den Schatten von Erinnerungen an Zeiten wachrief, die wir selbst nicht kannten, die wir aber in den Strukturen, in denen wir lebten und aufgewachsen waren, glaubten nachempfinden zu können. Die Schüsse vom 2. Juni 1967 haben uns schlagartig radikalisiert. Wir protestieren nicht mehr gegen das Werfen von Napalmbomben in Vietnam, weil wir erkannten, daß sowas das Wesen des Kapitalismus ist. Stattdessen machten wir eine Kampagne „Waffen für den Vietcong”. Wir lamentieren nicht mehr über die Verleumdungskampagnen der bürgerlichen Presse, weil wir begriffen, daß diese die Funktion hat, die Öffentliche Meinung dahin zu kriegen, wo der Staat sie braucht. Stattdessen machten wir eine Kampagne „Enteignet Springer”. Wir begriffen, daß auch die Notstandsgesetze nur Ausfluß der kapitalistischen Ordnung waren. Wir kämpften zwar weiter gegen die geplanten Gesetze, aber wir konnten damals nur ahnen, wie eine mit Notstandsgesetzen ausgerüstete Staatsgewalt der Verschärfung politischer und sozialer Konflikte begegnen würde.

Aus der „kleinen radikalen Minderheit” wurde eine Studentenbewegung. Und während Che Guevara und Ho Chi Minh für uns zu Vorbildern des antiimperialistischen Kampfes und einer sozialistischen Revolution wurden, begannen wir dort, wo wir arbeiteten, also vor allem an den Universitäten und Schulen, Strukturen zu bekämpfen, in denen wir zu funktionsfähigen Unterstützern des kapitalistischen Systems herangezüchtet werden sollten. Das hat zugleich auch unser tägliches Leben verändert. Damals entstanden die ersten Kommunen, Wohngemeinschaften. Und wir suchten nach Wegen, das Ghetto Universität zu sprengen, weil wir merkten, daß wir isoliert bleiben würden, wenn es nicht gelänge, unsere Probleme so darzustellen, daß sich andere Teile der Bevölkerung darin wiederfinden. Betriebsarbeit, Arbeit mit Emigranten, Obdachlosen, Knastarbeit, Häuserkampf — da gab essehr positive Erfahrungen, in denen sich die Genossen selbst weiterentwickelten und neue Ansätze fanden, und da gab es Enttäuschungen, und zwar eigentlich immer dort, wo die Genossen sowas Ähnliches hatten wie die Rolle einer Avantgarde. Und schließlich gab es Genossen, die zogen radikalere Konsequenzen, nahmen die Knarre, gingen in den Untergrund. Die meisten von ihnen wurden gefangen... Und wieder ganz andere, haben noch den Ab sprung in irgendeine bürgerliche Karriere geschafft - und wir wissen nur wenig darüber, wie sie sich dabei fühlen.

Benno Ohnesorg blieb nicht der einzige politische Mord in der BRD. Der Staatsapparat hatte im Anschluß an die Notstandsgesetze - bis heute — in einem unvorstellbaren Ausmaß aufgerüstet und er schlug zu in einem Ausmaß, das in keinem Verhältnis zu der Gefahr stand, die von Gruppen ausging, die diesem System den bewaffneten Kampf angesagt haben. Viele Genossen, die wie wir aus der Bewegung nach dem 2. Juni 1967 kommen, sitzen heute im Gefängnis oder sind tot. Aber dieser Gewaltapparat wurde bald nicht mehr nur gegen illegale Gruppen sondern nach und nach gegen die gesamte Linke, und inzwischen nicht mehr nur gegen Linke, sondern überall dort, wo Leute begonnen haben, sich aktiv für ihre Interessen einzusetzen. Das wissen wir nicht erst seit Brokdorf.

Heute, 10 Jahre später, wissen wir: der Staatsapparat hat sich vor uns radikalisiert. Verdrehungskampagnen wie damals kennen wir heute aus nahezu allen politischen Prozessen - nur in ungleich größerem Umfang. Die Notstandsgesetze, damals in der Vorbereitungsphase, sollten nur den Rahmen für noch viel weitergehende Kompetenzen der Exekutive schaffen: die Legalisierung staatlicher Bespitzelung, Berufsverbote, Zensurparagrafen, „Terroristen”-gesetze, Schießbefehl, Vernichtung von Gefangenen durch Isolationshaft, Kriminalisierung von Widerstand, Verhinderung von politischer Verteidigung - das sind nur Stichworte, hinter denen sich eine gezielte und umfassende Repression verbirgt, eine Repression, die allerdings präventiv ist. Man braucht heute keine größere Aktionen zu bringen, der Konflikt mit dem Staatsapparat beginnt schon beim geringsten abweichenden Verhalten. Das soll nicht demoralisieren. Wir alle wissen, daß wir uns abweichend verhalten wollen, und das täglich auch tun, abweichend von den Normen dieser Gesellschaft, die uns kaputt macht. Was mir in der gegenwärtigen Situation als Problem erscheint, daß der Rechtsdruck hier bei vielen Genossen zu Resignation geführt hat und diese Resignation zu massiven Entpolitisierungserscheinungen. Wir müssen uns aber im KLaren darüber sein, daß dieser Staat hervorragende Voraussetzungen dafür hatte, diesen Rechtsruck so reibungslos durchzuziehen, Voraussetzungen, die er so schnell nicht wiederfinden wird: die jahrelange politische und ökonimische Stabilität. Und als es dann in der BRD zu kriseln begann, war dieser Staat gezwungen, seine neuen Gesetze so exemplarisch gegen Linke anzuwenden, um der Masse der Bevölkerung zu demonstrieren, wie es Leuten ergeht, die ihre verschärften Lebensbedingungen nicht stillschweigend hinnehmen. Wir sehen jetzt schon, daß der Staat damit nicht bis zum Sanktnimmerleinstag Erfolg haben kann. Gleichzeitig wurde die Bevölkerung immer damit beruhigt, die Krise sei bald zu Ende, wir wissen aber jetzt, das damit so schnell nicht zu rechnen ist. Und es kommt noch was hinzu. Die Bevölkerung selbst beginnt sich zu wehren, und zwar nicht unter der Vormundschaft irgendwelcher selbsternannten Avantgarden.

Deshalb meine ich, wenn wir unser Leben verändern wollen, geht das nicht in irgendeinem entpolitisierten Ghetto. Wenn die Rechtsentwicklung hier so weiter geht, ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann Wohngemeinschaften auch zu kriminellen Vereinigungen erklärt werden. Deshalb kann die Veränderung von unserem Leben nur im Zusammenhang mit unserem Widerstand gegen das, was sich hier in der BRD entwickelt hat und weiter entwikkelt, laufen. Dann ist Politik auch nicht einfach eine abgehobene Sache. Um noch ein Beispiel zu bringen: Wenn hier in der BRD der SAVAK die persichen Studenten bespitzelt, dann hat das eine Menge mit deren täglichem Leben zu tun. Aber der Hintergrund davon ist politisch, nämlich die Interessen der BRD in Persien. Oder ein anderes: Wenn es vor zwei Jahren der westdeutschen Sozialdemokratie gelang, in Portugal ihre Konzeption von dem, was da jetzt als Demokratie verkauft wird, durchzusetzen, dann gelang auch das nur vor dem Hintergrund, daß dieser Staat hier Ruhe und Ordnung demonstrieren konnte, eine Sache, die jetzt überall als „Modell Deutschland” angepriesen wird. Und so gesehen, denk ich, hat unser tägliches Leben mit Politik doch noch ziemlich viel zu tun.

Brigitte Heinrich

(Beitrag auf dem teach-in am 2.Juni 1977 in Frankfurt)