Als ich am Nachmittag des 2. Juni 1967 auf dem Nachhauseweg von einer Universitätsklinik in einem Düsseldorfer Arbeiterviertel in die Straßenbahn umstieg, fiel mir eine Gruppe älterer Leute auf, in der eine ziemlich heftige Auseinandersetzung geführt wurde. Ein Name fiel mehrfach, und dann hieß es immer: ,Dazu können wir nicht das Maul halten’. Und: ,Max muß dazu was sagen’. Noch vor der Straßenbahn löste sich die Gruppe auf. Zuhause, bei den Nachrichten, begriff ich schnell, worum es bei der Debatte der KPD-Zelle gegangen war. Benno Ohnesorg war in WestBerlin bei einer Demonstration gegen das iranische Schah-Regime von einem Polizisten erschossen worden. Die Tragweite des Ereignisses war klar. Die KPD-Zelle hatte nicht ohne Grund fast-öffentlich getagt. Sie war lediglich Teil hektischer Aktivitäten, die noch am gleichen Abend in Gang kamen. Leute, die oft jahrelang nebeneinander gewohnt hatten, ohne sich kennenzulernen, vereinbarten innerhalb von Minuten langfristige Initiativen. Politische Zirkel, die hoffnungslos dahin vegetiert hatten, reaktivierten sich. Haudegen der alten Arbeiterbewegung, die allenfalls voreinander ausgespuckt hatten, wenn sich eine Begegnung nich vermeiden ließ, setzten sich gemeinsam an den Tisch. An diesem Abend lernte ich Dutzende von Menschen neu kennen. Die Gründung einer SOS-Gruppe an der Medizinischen Hochschule, die zuvor trotz monatelanger Arbeit nicht gelungen war, war plötzlich eine Sache von Tagen. Sie war aber auch gar nicht mehr wichtig.

War der am 2. Juni ausgeführte Mord am Demonstranten Ohnesorg tatsächlich ein historischer Einschnitt, oder waren die Folgen, wie ich sie in einer Provinzstadt der APO miterlebte,untypisch für die Entwicklung dieser Junitage? Sicher nicht. Die herrschende Macht hatte durch einen Kriminalbeamten einen Manifestanten bei offener Demonstration erschossen. Die Tat war die logische Folge einer Regie, die damals genau aufgeklärt und sofort massenhaft begriffen worden ist. Daß die Zeremonie des Kopfschusses Benno Ohnesorg getroffen hatte, war willkürlich, statistisch, zufällig; die Zehn tausende, die bis dahin an den Manifestationen der aufkommenden Massenbewegung teilgenommen hatten, begriffen schlagartig, daß sie für die herrschende Macht alle Ohnesorg darstellten. Wir wurden damals mit einer Leberwurst verglichen, die es durch besondere Arten , des Draufdrückens an bestimmten Stellen zum Platzen zu bringen galt, wenn wir demonstrierten. Das waren damals neue Lebenserfahrungen. Heute handelt es sich um Alltäglichkeiten für die Massen, denn Putativ-Erschießungen und großangelegte Razzien werden heute von der Polizei praktisch an jeder Straßenecke ausgeführt. Freilich dat die herrschende Macht das Ritual des Tötens inzwischen verfeinert. 1967 vermochte sich niemand das lautlose Sterben in Etappen auszumalen, das heute in westdeutschen Gefängnissen praktiziert wird. Und obwohl viele von uns sehr früh von Albträumen geplagt wurden, hat sich wohl keiner vorzustellen vemocht, daß die militante wie renommierte konkret-Kolumnistin Ulrike Meinhof unter einer SPD-Regierung im Zuchthaus eines gewaltsamen Todes sterben würde.

Nun stellt sich die Frage, was seit in der BRD geschehen war, um die Obrigkeit nach 15-jähriger Pause zu einer neuen Serie gezielter Todesschüsse zu veranlassen. Denn vorgefallen mußte etwas sein, wenn ehrbare CDU-, FDP-, SPD-Minister und Familienväter Massendemonstrationen mit Leberwürsten verglichen, politische Morde rechtfertigten und in Anlehnung an den noch ehrbareren Promoter Springer eine Blumen streuende und allenfalls Tomaten werfende Bewegung der Disziplinlosigkeit mit den Wortausdrücken des SS- und Gestapo-Terrors im .europäischen Großwirtschaftsraum’ zwischen 1940 und 1944 würdigten. Bis zu den Springerblokkaden von 1968 war die als .Studentenbewegung’ bezeichnete Masseninitiative wirklich gewaltlos. Sie entwickelte sogar mir schier unerschöpflicher Phantasie Formen gezielter und begrenzter Regelverletzungen, um Situationen zu vermeiden, in denen für sie, in die Ecke getrieben, nur noch der aussichtslose Widerstand gegen eine bombastisch auftrumpfende staatliche Gewaltmaschine übrigzubleiben schien. Diese Phantasie fehlt heute oft,die Erinnerungen an sie ist merkwürdig verschüttet. Daß das so ist, liegt kaum an der Weiterentwicklung des Polizeistaats: zwischen Grohnde und beispielsweise der Eroberung der Hamburger Universität durch die Polizei im Jahre 1969 besteht kein Unterschied. Ich glaube, der zentrale Inhalt, der die außerparlamentarische Massenbewegung bis zum Rückschlag 1969/70 beflügelt, ist inzwischen so weit in Vergessenheit geraten, daß ein unmittelbares Verständnis der damaligen Ausdrucksformen der Massenautonomie nicht mehr möglich ist. Zumindest bis vor kurzem hätte kaum einer zu vermitteln gewagt, daß es der Arbeiterjugend, den Schülern und Studenten zwischen 1965 und 1969/7o banal darum ging, einen von neuen sozialen Lebensformen getragenen Alltag zu verwirklichen. Sie entdeckten in einer Zeit krisenhaft gesteigerter Mobilität, in der das System der kapitalistischen Macht alte Methoden der Disziplinargewalt einschränkte und noch über keine neuen verfügte, völlig neuartige Bedürfnisse. Innerhalb der Knotenpunkte des Systems kam es zu massenhaften Ausbrüchen aus einem Zustand, wo der Ellbogen mehr galt als der Kopf, wo Gewalt als Liebe, die über Lohn und Leistung vermittelte Abkapselung der Menschen voneinander als höchste Tugenden verkauft wurden. Der Marsch aus dem Herrschaftsgeflecht Schule, Fabrik, Hörsaal, Kernfamilie und gegen den politschen Machtkörper kam nicht von ungefähr. Am Horizont drohte eine weitere Verfeinerung, drohten noch genauere Verästelungen und noch absurdere Verpuppungen sozialer Individualität in einem Prozeß,bei dem sich die herrschende Macht um neue technisch-ökonomische Gewalt formen bereicherte. Die kybernetisierte Leistungsgesellschaft war angekündigt, eine neue Ära sozialer Reformen wurde propagiert. Das .Modell Deutschland* nahm im Zentrum kapitalistischer Planung erstmals Konturen an. Die westdeutsche Bevölkerung sollte in ihren arbeitenden Klassenschichten vermehrt, die Techniken der Machtergreifung über die Körper sollten noch abstrakter, gleichförmiger, gesetzmäßiger werden. Der massenhafte Ausbruch war eine vorverlegte Antwort. Die ideologischen Kulissen der Formierer, allen voran die These, daß die potenzierte Erzeugung, Auspressung und Stillegung von Arbeitskraft auf Kosten weiterer Anteile von Subjektivität nichts mit Proletarisierung zu tun habe; die Behauptung also, die verschärfte und verbreiterte Konstituierung der — freilich völlig neu zusammengesetzten — Arbeiterklasse führte zum Gegenteil, zu einer Art dienstleistender klassenloser Gesellschaft, hätten ihre Wirkung verfehlt.

1965/66 fand also eine massenhafte Abkehr von der Leistungsgesellschaft statt, ausgehend von einigen Kernen in allen Bereichen des sozialen Lebens kam es zu einer Kettenreaktion, deren Ablauf uns heute, ein Dutzend Jahre später, noch immer weitgehend unbekannt ist. Dieses Ausbrechen aus den alten und den noch unfertigen neuen Normen des Abteilens, der deterministischen Begradigung von Arbeit, Transport und Freizeit, der Prüfungen, der Tests und der zu durchlaufenden Hierarchien zwecks Verfügung über eine modernisierte Arbeitskraft, ist wörtlich zu nehmen. Instinktiv verbreiterte sich das Wissen von einer Reform der Unterwerfungsarten unter kapitalistische Gewalt, bei der die Methoden in Lehrwerkstatt und Fabrik, Fürsorgeheim und Knast, im Kernfamilien-Beton der Trabantenstädte und in immer größeren Sektoren der Hochschulen merkwürdigübereinstimmten. Und es war eine weit verbreitete, wenn auch kaum theoretisierte Erfahrung, daß dieser Prozeß, der in den Aufrissen und Memoranden der Planer der Reformhochschulen, der Kreisförderer und den vorbestimmten Zeiten in den Fabriken, den neuen Knasten Ossendorf und Preungesheim, den neuen Fließbandkliniken und den neuen Städten Gropiusstadt, Steilshoop, Neue Vahr, Chorweiler und Perlach Gestalt annahm, einen gemeinsamen Ausgangspunkt hatte: die Kernfamilie des neuen Massenarbeiters, dem als Kompensation für exzessiv gesteigerte Auspresserei die patriarchalische Despotie über unbezahlte Hausarbeit, Kinderaufzucht und Jiberalisierten* Sex angedient wurde. Die Bedrohung des bisherigen Status quo zwischen der sozialen Individualität der arbeitenden Massen und der kapitalistischen Macht wurde intensiv erlebt, wenn auch kaum auf den Begriff gebracht. Trotzdem lagen hier — und nur hier — die wirklichen Voraussetzungen der Revolte. Sie schlug zur Qualität um, als es um die Abwehr der Bestrafung ging, des exemplarischen Kopfschusses für diese „arbeitsscheuen langmähnigen Typen“, als der Tod Ohnesorgs uns alle zu Ohnesorgs gemacht hatte. Der 2. Juni 67 wurde zum Nadelöhr, zum historischen Augenblick, wo Hunderttausende zwischen der Unterwerfung unter die an die Wand gemalte neue Knechtschaft und dem endgültigen Bruch zu wählen hatten. Der Umschlag vom sporadischen Protest zur Umwälzung des sozialen Alltags fand an diesem 2. Juni 67 statt. Es waren lauter Ohnesorgs, Frauen und Männer, die seither freie Kinderläden, Jugendzentren, Wohngemeinschaften, free clinicsund andere sozial-revolutionäre Kommunalprojekte gründeten. Diese Ohnesorgs gingen dann auch in die Betriebe und in die Ausländergettos. Sie verbündeten sich mit den Arbeitsemigranten, den überausgebeuteten äußeren Stützpfeilern des ,Modell Deutschland*. Sie machten auch nicht vor den kommunalen Verästelungen der herrschenden Macht halt, die mit ihrer Sozialpolitik so unendlich dicht in das Gemeindeleben hineinragt. Sie handelten massenhaft. Keine Partei hatte es beschlossen. Kein revolutionäres Genie hatte es geplant. Dennoch war nichts davon spontan. Die Masseninitiative verausgabte sich in einerSerie selbstorganisierter Experimente, um Realisierungsformen für eine vom Arbeits- und Leistungszwang befreite soziale Selbstverwirklichung zu finden. Sie mußte schreckliche Rückschläge hinnehmen. Aber sie ist noch lange nicht ausgereift, geschweige denn gescheitert. Ohne die Erfahrungen Seit 1967 sind die aktuellen kommunalen Bewegungen undenkbar.

Das war das Wichtigste an der Außerparlamentarischen Massenbewegung bis 1969/ 7o. Die Studentenbewegung war nur ein Teil davon, und keineswegs der wichtigste. Die Massenbewegung profitierte anfänglich einiges von den .Hochburgen der Studentenrevolte*, aber sie ist keineswegs vom Campus ausgegangen. Wenn ich die erscheinenden Erinnerungsbücher über die SDS-Zeit in die Hand nehme, dann muß ich feststellen, daß sich die SDS-Studenten zwar ziemlich lautstark als führender Kern der APO verstanden, sie aber praktisch nicht verkörperten. Die Universitätsstudenten waren eine starke Strömung innerhalb dieser Masseninitiative, die besonders weit in die Mittelklasse hineinragte. Umso weniger waren sie in der Massenautonomie, die sich gegenwärtig, nach einem fünfjährigen Rückschlag zwischen 197o und 1975, mit neuer Qualität verbreitert, verankert. Eine erfolgreiche Abwanderung in die Quartiere und die Herstellung eines funktionsfähigen alternativen Zusammenhangs zwischen den Regionen und den Hochschulen kam erst zustande, als der SDS und die übrigen linken Studentenorganisationen zu Spielwiesen überkommener sozialistischer Dogmenstreite degenerierten, die mit der Klassenwirklichkeit von 1965/67 oft bemerkenswert wenig zu tun hatten. Selbst im .antiautoritären* Flügel des SDS fanden die wirklichen Triebkräfte der multizentrischen Massenkämpfe, das Heraustreten aus dem etablierten Disziplinarnetz zur Erzeugung der neuen Arbeitskraft des kybernetischen Zeitalters und der Aufbau autonomer Lebensformen, kaum Widerhall. Sie sind noch am ehesten von der Debatte um die .Verweigerungsrevolution* gestreift worden, die im Zusammenhang mit der Rezeption einiger Schriften von Herbert Marcuse und Peter Brückner in Gang kam. Neidlos muß ich selber feststellen, daß ich der .Subversiven Aktion*, der zweifellos produktivsten Strömung innerhalb des damaligen SDS, leider nicht angehört habe, und daß ich hoffe, demnächst hier in der Haft die Bücher von Herbert Marcuse kennenzulernen. Auch außerhalb des SDS fand nirgends eine befriedigende Reflexion der Inhalte der neuen Massenbewegung statt, und ich habe bis heute keinen Text gelesen, der einen überzeugenden Zusammenhang zwischen der 1967 entstandenen Massenautonomie und den zweifellos vorhandenen Sozialrevolutionären Vorläufern der Arbeitergeschichte gestiftet hätte. Die Aktivisten der ersten Stunde waren überhäuft mit den Problemen, Realitäten und Rückschlägen des aufkommenden alternativen Alltags; sie waren immerhin kompetent genug, um die Agitatoren zu bändigen, die meistens ziemlich konfus schwätzten. Auf jeden Fall hatte die Unfähigkeit, aus der Selbstorganisation heraus zu weitertreibungen Initiativen zu kommen einschneidende Folgen. Massenbewegung erarbeitete kein konzeptionelles Selbstverständnis, das geplante Verhaltensweisen gegenüber der rasch einsetzenden Eindämmungspolitik der herrschenden Macht ermöglicht hätte. Eine prinzipiell delegations- und repräsentationslose Selbstorganisation ist mitnichten notwendig spontaneistisch. Gerade weil die traditionell-linken Organisationen wie etwa der SDS im Mobilisierungsprozeß untergingen, wäre es 1968/ 69 möglich gewesen. Ausgehend von der dezentralisierten Vielfalt der kommunalen Einzelprojekte in praktisch allen westdeutschen Ballungsgebieten ein Netz autonomer Selbstorganisation aufzubau, en, das den stürmischen Verbreiterungsprozeß in der Provinz hätte stabilisieren können. Die Dringlichkeit eines solchen Projekts wurde nirgends ernsthaft zur Diskussion gestellt. Als der Gegenangriff der herrschenden Macht mit der sozialliberalen Koalition 1969 erkennbar Strukturen bekam und der polizeistaatliche Ausnahmezustand sich zur Doppelzange langfriestiger Repression (Berufsverbote etc.) und sozialpolitisch gepufferter Modernisierung der Disziplinär- und Machtstrukturen im Sinn der Leistungsgesellschaft verlängerte, stürzten sich die meisten dezentralisierten Kerne der Massenbewegung in eine verkürzte Organisationsdebatte. An den Folgen laborieren wir heute noch.

Nachträglich will es mir scheinen, daß die Funktionsträger der Macht die Sozialrevolutionäre Perspektive der Massenbewegung viel früher und präziser erfaßt haben als wir, die wir ihr zeitweilig Ausdruck gaben. Sie haben mit ihrem 2. Juni unsere Autonomie öffentlich gemacht und sie als vernichtungswürdig angeprangert, bevor sie voll ausgereift war; jeder, der wie ich auch die zwei Jahre davor miterlebt hat - Jahre intensivsten Lernens und hektischer Strategiedebatten — wird mich bestätigen. Unsere Verweigerungsrevolution wurde zum Hauptskandal im Geschäft der Mehrwertabpressung durch Disziplinierung. Die Ministerial-, Generaldirektoren und Polizeipräsidenten handelten eingedenk ihrer historisch so bewährten Maxime, so erbarmungslos und präventiv wie möglich anzugreifen. Ihr gigantischer Aufmarsch erschien vielen von uns als Popanz; wir nahmen sie nicht ganz ernst, als sie die Massenbewegung ohne Umschweife mit den heftigsten Arbeitermeuten der Vergangenheit gleichsetzten. Wir glaubten ihnen erst, als erneut Kopfschüsse abgefeuert wurden, die Schüsse auf Rudi Dutschke.

Zu einem der vielen Ohnesorgs zu gehören, war bislang trotz allem auch ein Problem der statistischen Normalverteilung und einer gegen die Angst anarbeitenden Masseninitiative gewesen. Aber Ostern 68 fand ein gezielter Akt individuellen Terrors statt, der keinen der vielen Ohnesorgs, sondern eine unumstrittene Symbolfigur herrschenden Macht noch viel systematischer vorbereitet und in ihren Medien vorweggenommen worden als die Ermordung Ohnesorgs. Die Bedrohung war jetzt viel realer, praktischer, direkter. Die Alternative zwischen Selbstaufgabe oder Fortführung der neuen Identität von Leben und Kämpfen stellte sich jetzt dringlicher, auf der Ebene der Projekte selbst. Wir demonstrierten unsere Entscheidung buchstäblich, aus Massenversammlungen heraus, weiterhin ohne repräsentative Planung und ohne Leitungsbeschlüsse. Wir ergriffen zum letztenmal eine bundesweite Initiative mit den Springerblockaden — die AntiNotstandskampagne im weiteren Verlauf des Jahres 68 mit ihren repräsentativen Halbheiten und Mythen glich dagegen dem verwalteten Rückzug in politische Abstraktionen. Nach einer Gewaltdiskussion, die wir mit großem Ernst und auf Massenbasis führten, erweiterten wir unsere Kampfformen auf die kollektive, in ständiger Massendiskussion überprüfte Gewaltanwendung gegen Sachen, ln Konfrontation mit einem ständig sich verschärfenden Ausnahmezustand wurden die Autonomie-Experimente von 1967 fortgesetzt. Aber auch jetzt stabilisierte sich nirgends ein übergreifendes Netz der Massenbewegung; die Fabrikarbeiter, die im September 1969 erstmals mit neuen Kampfmhalten in Aktion traten,bewegten sich sehr wohl in ihrem Rahmen, aber der entscheidende qualitative Sprung, der wie etwa die italienischen Arbeiter-StudentenVersammlungen die Kontinuität der neuen Massenautonomie endgültig garantiert hätte, ist ausgeblieben.

1968/69 waren Berlin, Frankfurt und Hamburg Zentren der Massenbewegung. In dieser Zeit machten die dort aktiven Basisgruppen eine Praxis, die sicher zum Wichtigsten zählt, was von den vergangenen zehn Jahren vererbt werden sollte. Während die politisierenden Funktionsflügel der Studentenbewegung im Verbandschaos versanken und, je nach Radikalisierungsgrad, entweder den SDS auflösten oder zum langen Marsch durch den Enddarm der SPD antraten;und während auch die DKP stark gemacht wurde, kämpfte die Massenautonomie ums Überleben. Es gab dezimierte Bündnisse zwischen der Arbeiterjugend, militanten Randströmungen der Arbeiterklasse und den Studenten. Wenn ich heute von den Aktionen der ,Stadtindianer‘ in Italien lese, klingt mir manches sehr vertraut. Ich glaube seither, daß wir denen, die heute in Westdeutschland erneut zu einer autonomen Masseninitiative drängen, einiges zu sagen haben. In den Jahren der Repression nach 1969 wurden freilich die Triebkräfte und Ausdrucksformen dieser Kämpfe fast vollständig wieder zugedeckt. Wir verloren die Initiative, es gelang nicht mehr, sie zurückzuerobern. Die Zeit, die uns seit 1965/66 so unendlich zur Verfügung gestanden und uns einen langen Atem zu endlosen Debatten und immer neuen Experimenten gegeben hatte, empfanden wir mehr und mehr als Diktat. Wenn die Jugendpolizei die Arbeitervorstädte tyrannisiert, wenn die Sonderkommandos der Polizei die besetzten Häuser sofort angreifen, wenn die Universität von 1000 Polizeibeamten erstürmt und geschlossen wird, und wenn das Inventar der Jugendzentren regelmäßig zerstört wird — das war die Situation im Ausnahmezustand 1969/7o, er wiederholte sich im Kontext der multinationalen Arbeiterkämpfe 1973/74 - dann wird die Zeit knapp. Dann wird es verständlich, daß nach Rückzugsgebieten gefragt wird, in denen der alternative Lebensprozeß überwintern kann. Ohne Abstriche weiterzumachen erscheint ausgeschlossen: die Zeit ist zerstückelt in ständigen Abwehraktionen, die Räume hat der Polizeistaat in Regie genommen. Der sozialpsychische Prozeß, der seit 197o abstrakte Arbeitsdisziplin, Asketismus, Hierarchiedenken und das Bedürfnis nach lückenlosen Erklärungsmustern für diese so schrecklich zugerichtete Welt bis in die Wohngemeinschaften vorkriechen ließ, war falsch, aber verständlich. Wir sollten uns heute vorurteilslos mit jenen dramatischen Monaten auseinandersetzen, während welcher innerhalb der Kollektive die Schutz- und Abwehrreaktionen vor dem Ausnahmezustand abliefen. Verschonen wir auch nicht die Denkprozesse, die dies nachträglich auf falscher Ebene rechtfertigen sollten die bisherige Verankerung in der so konkret .anderen 1 Massenautonomie wurde durch die Orientierung an falsch überhöhten und idealisierten Vergangenheiten einer ihrerseits geschlagenen Arbeiterbewegung ersetzt, aber sie war als Schritt der Selbstdisziplinierung durch ein schicksalhaft verkehrtes Unterdrückungserlebnis notwendig konsequent. Dies war die eine Seite des seit 1970 einsetztenden Rückzugs, der uns das ganze geschichtliche Spektrum der geschlagenen deutschen Arbeiterbewegung gleich auf einmal und in freundlichster Konkurrenz gegeneinander bescherte: der SDS als Sammelbecken all dieser Tendenzen erlebte im Augenblick seiner Auflösung eine merkwürdige Wiederauferstehung. Die andere Seite hat uns vor nicht weniger gravierende Probleme gestellt. Sie entschloß sich nach einer Analyse des Ausnahmezustandes von 1969/7o. aus der Massenbewegung heraus zum bewaffneten Kampf überzugehen. Über den Inhalt der Diskussionen, die zu dieser Entscheidung führten, bin ich sehr schlecht unterrichtet. Auch sie erschien mir als Ausdruck eines zu kurzen Atems, einer unhistorischen Verkürzung und Verkleinerung des Neuen, für das und von dem wir lebten. Und auch auf dieser Seite der Entscheidung sind die gemeinsamen Wurzeln mit dem Neo-Leninismus/Stalinismus nicht zu verkennen. Wir werden, so wurde wohl auch hier festgestellt, im Kampf für freie soziale Individualität jenseits des sich modernisierenden Arbeitszwangs massiv unterdrückt. Da das so ist, müssen wir den alternativen Lebensalltag von den Kampfformen trennen. Der Fighter* wird vorrangig. Effektiver Widerstand ist nur noch möglich, wenn wir einen Teil des Disziplinarkodex der herrschenden Macht übernehmen, zweifellos nur, um ihn in den Dienst einer vorübergehenden historischen Etappe zu stellen. Die Entfremdung von der durch die alternativen Bedürfnisse gespeisten Identität von Leben und Kämpfen war die gleiche wie bei den K-Gruppen-Gründern. Allerdings verschwand hier die Arbeiterklasse als Triebkraft der Massenautonomie völlig aus dem Konzept zugunsten des intellektuellen Stadtguerilleros, der nunmehr als verlängerter Arm der Befreiungsbewegungen der .Dritten Welt* in der Metropole aktiv wird; während sie bei den Parteigründern in einer sozialen und politischen Zusammensetzung wiederkehrte, wie sie vielleicht tatsächlich einmal vor der Jahrhundertwende geschichtliche Wirklichkeit gewesen ist — freilich auch dies nur aus einer sehr fragwürdigen sozialistischen Optik, die durch die jüngste Arbeitergeschichtsschreibung widerlegt ist. Indes wurden die sozialen Barrieren, die seither gegenüber der heutigen wimmelnden Realität der Klasse aufgerichtet wurden, unterschiedlich gerechtfertigt. Die Einsamkeit des Stadtguerilleros hat sich seit 1970/71 in immer neuen Akten in der Einsamkeit des Parteiaufbau-Aktivisten gespiegelt und umgekehrt. Was dem einen der Kampf um Bewußtseinsaufklärung und parteidisziplinierte Erzeugung von Klassenbewußtsein, das galt dem anderen als logistisches Problem mit der Folge, daß sich die Maschinerie staatlicher Repression als ausschließliches Mobilisierungshemmnis entgegenstellte. Ein derart hohes Maß an Einsamkeit produziert für beide strategische Konzeptionen eine gefährliche inner-indiduelle Dynamik der Selbstangleichung an die sprachlose Gewaltsamkeit der herrschenden Macht. Sie darf nicht länger kritiklos hingenommen werden.

Gleichwohl hat auch das, was die neuen Inhalte der Massenautonomie vor 1969/70 ausmachte, das folgende bittere Jahrfünft und selbst den brutalen Einstieg der Schmidt(chen)-Schleyer ins Geschäft der Klassenherrschaft seit 1974 überlebt. Dabei gibt es zweifellos schreckliche Verwirrungen in die Richtung einer neuen Innerlichkeit, absurde Tendenzen zur Geschichtslosigkeit. Eine innere Emigration, die die Einheit sozialer Befreiung als Leben und Kämpfen sozusagen in der Umkehrung angeht, hat nichts mit dem zu tun, was uns in den sechziger Jahren mobilisierte.

Die Entwicklung seit Herbst 1976 signalisiert, daß eine neue Massenbewegung bevorsteht. Für sie wird entscheidend sein, wie sie sich zu den vergangenen zehn Jahren verhält,die am 2. Juni 1967 explodierten. Sie wird auf diese historische Kontinuität nicht verzichten können: sie muß sie sich erkämpfen, sie aktiv hersteilen. Es geht dabei um sehr viel mehr als um die Vermeidung vergangener Fehler. Aufzuklären ist, welche Kampfinhalte damals fehlten, und welche inneren Triebkräfte damals vernachlässigt worden sind.

Ich möchte dies kurz erläutern am Phänomen der ,alten 1 und der ,neuen‘ Studentenbewegung. Die ,alte‘ Studentenbewegung hatte kurz gesagt den Fehler, daß sie abgesehen von einer sehr wackligen kritischen Wissenschaftstheorie a la Frankfurter Schule über keine wirkliche hochschulpolitische Konzeption verfügte, in der die studentischen Massen selbst eine Rolle spielten. Die Demokratisierung der Gremien usw. war ein naturwüchsiger Prozeß, der aus den gegen Selektion, Prüfungen und Hierarchien gespeisten Inhalten der Gesamtbewegung sozusagen von selbst resultierte. Es fehlte aber das konkrete Ziel, die Fähigkeit, die alternativen Bedürfnisse vom Studiengeld über das freie Wohnheim bis hin zur Umwälzung der von Zeitdruck und Selektionszwang befreiten Lern- und Forschungsprozesse zu summieren und als Kampfmhalt um alternative soziale Macht auszudrücken. Die kritische Universität stand neben der Gremienpolitik, der Streit ums Bafög wurde fernab von einigen Funktionären ausgefochten. Die Universität war zwar weitgehend erobert, sie wurde aber nicht umgewälzt. Der lahmgelegte Knotenpunkt, in dem das Gesellschaftskapital den Arbeitsmarkt mit hochqualifizierter Arbeitskraft belieferte, ging nicht mit seinen personellen, materiellen und last not least wissenschaftlichen Ressourcen in das aufzubauende Netz sozialrevolutionärer Macht auf kommunaler Ebene über. Diesem Ziel war der Kampfzyklus der Fachhochschulstudenten sehr viel näher, wenn auch in ausgeprägter Ambivalenz. Die Bewegung der Universitätsstudenden hatte ihm gegenüber ein auffällig herablassendes Verhältnis. Grund dafür war die eigene Unfähigkeit, die besetzten Institute als Machtstrukturen zu erfassen und geplant in die Massenautonomie einzubringen. Und aufgrund dessen gaben sich die Universitätsstudenten eine Blöße auf ureigenstem Terrain, deren Vermeidung zwar nicht die Polizeibesetzungen hätte verhindern, aber den reformistischen Begleitangriff illusorisch machen können, wie er seit 1969 gerade in den Hochburgen Hamburg, Frankfurt und Berlin in Gang gekommen ist. Sowohl die rein effizienzorientierte Umgestaltung d?r Universität in ein präsidialdiktatorisch verwaltetes Polster des in Fluß geratenen Arbeitsmarktes, die hinter dem Schlagwort ,Demokratisierung der Ordinarienuniversität 4 lauerte, blieb lange unerkannt; als auch die Forderung nach einem gleichmacherischen und alle von familiärer Einkommensherrschaft befreienden Studentenlohn war nachgerade verpönt. Die Entlohnung aller Verausgabung von Arbeitskraft, auch der im Stadium der Erzeugung befindlichen, ist aber ein entscheidendes homogenisierendes Kriterium für die heutige moderne Arbeiterklasse. Hier beginnt, wie ich zu sehen glaube, die yieue’ Studentenbewegung mit einer wichtigen Veränderung der Prioritäten. Natürlich liegt das auch daran, daß die meisten Studenten inzwischen längere Perioden klassischer Ausbeutung von Arbeitskraft durchmachen, bevor sie einen Studienplatz erwischen, und daß sie in ihrer Studentenzeit fast ohne Einkommen existieren, also ökonomisch gesprochen zu den Unterschichten des Proletariats gehören. Aber was heute auf der Hand liegt, bahnte sich 1967 schon breit an, bedurfte also der Analyse, die es nicht gegeben hat. Die SDS-Hochschuldenkschrift ist noch verdammt nahe an preußisch-reformerischen Idealen effektiverer Verwaltung einer jenseits der wirklichen Gesellschaft betriebenen Wissenschaft.

Polemisch und auch ein wenig selbstironisch möchte ich sagen: zehn Jahre nach der Studentenbewegung gibt es endlich eine — Studentenbewegung. Gerade indem sie ihre alternativen Lebensbedürfnisse mit den entscheidenden sozialökonomischen Voraussetzungen alternativer Macht verbinden, können die neuen studentischen Basisgruppen zu einem gewichtigen Faktor jener wiederauftretenden Massenautonomie werden, die seit nunmehr zehn Jahren in dezentralisierter Vielfalt das kapitalistische Disziplinarnetz in Schulen-FabrikenKliniken-Kasernen-Knästen zersetzt und den Keim zu einer Sozialrevolutionären Selbstorganisation der Massen auf kommunaler Basis legt.

Ich bin seit über zwei Jahren inhaftiert. Trotzdem hoffe ich, richtig zu hören, zu sehen und auch ein wenig zu riechen, daß es beim Denken an die Zehnjahresbrücke 1967-1977 um etwas mehr als eine trauernde Jubelfeier geht. Auch das Gefängnis, der düsterste und verschwiegenste Knotenpunkt kapitalistischer Disziplinierungsmacht ist alles andere als ein Randphänomen dieser Gesellschaft. Anfang 1977 wurde ich nach langer Isolation erstmals in die .Freistunde’ der anderen Gefangenen gelassen. Ich war verwirrt über das Gewimmel, die Gespräche, den Rest von Vielfalt, der da herrschte, auch wenn das alles — wie ich bald bemerkte — durch ein enges Geflecht von Denunziation und Delinquenz bis heute noch unter Justizkontrolle gehalten wird. Ein Beamter bemerkte meine Verwunderung. Er sagte ziemlich gehässig: „Ja ja, da ist kein Schliff mehr drin, die reden wie sie wollen, da steht keiner mehr stramm. Das wart Ihr, die APO, seit 1967 ist die Luft raus.” Diese Bemerkung machte mir ein wenig Mut. Ich begriff, wie wenig wir noch immer von den sozialen Dimension der Außerparlamentarischen Bewegung wissen. Wer denkt schon daran, daß 1966/67 auch eine kräftige Gefangenenbewegung von Berlin, Hamburg und Köln aus in Gang gekommen ist, die bis heute nachwirkt.

Zwei Jahre dieses Dezeniums muß ich also abstreichen, sie bestehen fast vollständig aus Bedingungen, unter denen individuelles Leben nur noch aus Vergangenheit besteht. Aber die Solidarität half mir entscheidend. Ich möchte bei dieser Gelegenheit meinen Dank abstatten.

Meine Freundinnen und Freunde aus der Zeit der Massenbewegung sind heute in allen Gruppierungen der neuen Linken aktiv. An sie wende ich mich zuletzt. Viele von Euch haben Einfluß in den K-Gruppen und in den Bewegungen des Parteiaufbaus. Wenn mich nicht alles täuscht, stehen wir am Anfang einer neuen und breiten antikapitalistischen Massenbewegung. Wir sollten uns nicht länger von ihnen abgrenzen, ihre Initiativen aufnehmen. Wir sollten den Mut haben, unsere meistens seit 1970 datierende Organisationsgeschichte historisch-kritisch zu überprüfen. Eine neue Sozialrevolutionäre Masseneinheit der Klasse wäre für den jetzt anstehenden Kampfzyklus keine schlechte Perspektive. Es geht um völlig neue Orientierungen. Die Organisationsfrage sollte sich aus ihnen ergeben, nicht umgekehrt. Wir sollten aus unseren Fehlern von damals lernen.

Ich wende mich auch an die Genossen der Stadtguerilla. Jede Form des Widerstands, die beansprucht, für die soziale Befreiung der Massen einzutreten, muß von den Massen ausgehen. Sie kann von ihnen aber auch wieder eingefordert werden. Auch der bewaffnete Kampf kann sich nicht von Kritik ausnehmen und auch hier sollten aus unzweideutigen Erfahrungen Konsequenzen gezogen werden. Dafür ist viel Zeit nötig. Diese Zeit ist ein zentrales politisches Problem. Wer sie sich nehmen läßt, steht in Gefahr, sich zu verselbständigen und sich abstrakt-existentialistisch in einer völlig unnötigen Niederlage zu vollenden. Eine Art Waffenruhe sollte verkündet werden, die Kerne der neuen Linken sollten helfen, daß die seit den Massenkämpfen vom Herbst 76 dringlich gewordene Strategiedebatte von allen aufgenommen werden kann. Wir sollten einen Zustand herbeiführen, der niemand in die Verzweiflung und in Attentatspolitik treibt.

Es mag viele geben, die mir das Recht absprechen, mich überhaupt zu Wort zu melden. Aber gegenwärtig melden sich sehr viele zu Wort und sprechen über die vergangenen zehn Jahre. Ich war nicht mehr und nicht weniger als sie an den Erfolgen, den Rückschlägen und den Fehlern seit 1967 beteiligt. Wir haben keinen Anlaß zur Freude. Aber wir haben den aufrechten Gang gelernt, und dabei soll es bleiben: Wir waren — sind — wir werden sein

Karl Heinz Roth