»Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr.« MEW 23, 96, Fn 33

Im vorangestellten Zitat fasst Marx eine Kritik an bürgerlichen Ökonom _innen zusammen, die vorbürgerliche Formen von Institutionen als geschichtlich und künstlich begreifen, während die bürgerlichen als natürliche gefasst werden und vergleicht dies mit dem Umgang der Kirchenväter mit vorchristlichen Religionen: »Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei Arten von Religionen unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist eine Erfindung der Menschen, während ihre eigene Religion eine Offenbarung Gottes ist.« (MEW 23, 96, Fn 33) Diese Kritik steht im Zusammenhang mit der Entwicklung des Begriffs des Warenfetischismus, der bedeutet, dass dem Produkt als Ware Eigenschaften zukommen, die ihm nur in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen anhängen, aber als natürliche Eigenschaften des Dings erscheinen. Insofern behandeln die Ökonom_innen die kapitalistische Form der Produktion als Naturnotwendigkeit, indem sie ihren spezifischen gesellschaftlichen Charakter aufgrund des Fetischismus nicht erkennen. Die ideologische Behandlung geschichtlicher faits sociaux als natürlicher Grundeigenschaften menschlicher Gesellschaft ist somit nicht nur individueller Verblendung geschuldet, sondern erwächst aus den materiellen Verhältnissen selbst, die sich als verkehrt, verrückt und in gespenstischer Gegenständlichkeit präsentieren. Insofern ist dies eine Kritik an der Vorstellung einer Stillstellung der Geschichte durch die Erklärung des Bestehenden zur Natur. Die ...umsGanze -Broschüre (uG) nun erklärt den Kapitalismus nicht zur Natur des Menschen, stellt aber gleichermaßen die Geschichte still, denn der entwickelte Kapitalismus wird als eine Art autopoietisches System gefasst, welches nur noch nach dem Gesetz der Konkurrenz laufen soll. Alle anderen Phänomene werden aus der Konkurrenz direkt abgeleitet, bzw. als automatisch aus der Konkurrenz folgend gesetzt. Insofern ist daher die Geschichte still gestellt, da jegliche Möglichkeit von Kontingenz ausgeschlossen wird aus der entwickelten Form. Indem dies postuliert wird, verschwindet schließlich jeglicher qualitative Unterschied zwischen kapitalistischem »Normalvollzug« und faschistischer/nationalsozialistischer Krisenlösung.

Diese erste noch behauptete aber nicht bewiesene Diagnose soll im Folgenden substanziiert werden. Im Zentrum der Kritik steht die in der Broschüre getätigte Eingemeindung von Auschwitz in den »kapitalistischen Normalvollzug«. Daher zuerst eine Kritik der Bestimmung des Normalvollzugs: I Ausbeutung, Freiheit, Ideologie die fehlenden Grundlagen Die Broschüre beginnt mit einer richtigen Feststellung: »In den Jahrhunderten seiner Entfaltung hat der Kapitalismus unermesslich leistungsfähige und differenzierte Industrien hervorgebracht eine organisierte gesellschaftliche Macht gegen die Naturverfallenheit primitiver Existenz. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit sind ihre technischen Kenntnisse und produktiven Fähigkeiten derart sprunghaft gestiegen. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte verfügt sie über die Mittel, um alle Menschen vor Hunger und vor den meisten Krankheiten zu schützen. Und mit jedem Tag erwirbt sie neue Fertigkeiten, die das Leben aller Menschen verlängern und verschönern könnten.« (uG, 15) Dieses wäre der Ausgangspunkt zur Bestimmung der Freiheit, die im Untertitel der Broschüre ja einen prominenten Platz einnimmt und als Herrschaft der falschen Freiheit denunziert wird. Doch die Freiheit, die durch das Kapital gesetzt wird, ist die Freiheit vom unmittelbaren Naturzwang. Diese ist erstmals vollständig realisiert in den Produktivkräften. Für Marx bedeutete dieses Moment das Einläuten einer neuen Epoche der menschlichen Geschichte (vgl. MEW 23, 184). Genau dieses Moment der praktischen Aufklärung, eben der Befreiung der Reproduktion des eigenen Lebens aus den Fesseln einer auswendigen ersten Natur schlägt im Kapitalverhältnis um in ein Verhältnis der Fesselung der möglichen Befreiung durch die spezifischen Produktionsverhältnisse. Diese präsentieren sich als zweite Natur, als gesellschaftliche Naturgesetze, die sich den Menschen als ebenso natürlich präsentieren wie Blitz und Donner, und die ebenso im Bewusstsein erscheinen, wie durch Zeus hervorgebracht. Das Spezifische am Kapital ist nun nicht, dass es ein Herrschaftsverhältnis ist, sondern dass die unmittelbaren Produzent_innen absolut getrennt sind von den Produktionsmitteln und den Produkten. Dies bedeutet die Konstitution der gesellschaftlichen Beziehungen über den Wert als die Vermittlungsinstanz der Verhältnisse aller zum Gesamtprodukt und zu sich selbst; verdinglicht und verselbständigt im Geld prozessiert das Kapital durch die Handlungen der Einzelnen vermittelt und gegen sie. Die darin implizierte Ausbeutung hat daher spezifische Voraussetzungen, die nicht nur systematischer, sondern auch historischer >Natur< sind. Jene historischen Voraussetzungen sind dabei von Kontingenz geprägt, denn beispielsweise die kontingente Gewalt der sogenannten ursprünglichen Akkumulation war weder geschichtlich notwendig noch teleologisch auf die dann geschehene Entwicklung ausgerichtet, sondern von Kämpfen und Auseinandersetzungen durchzogen, deren Ausgang von keiner Seins-Notwendigkeit determiniert war, sondern, wie allgemein gesellschaftliche Auseinandersetzungen, als potentiell Ausgangsoffen betrachtet werden müssen. Und dennoch hat die historische Kontingenz ihren Platz in der logischen Systematik bei Marx. Das heißt, dass die gesellschaftliche Form der Reichtumsproduktion notwendig systematisch kontingente Momente enthält, denn abermals beispielsweise ist die Gewalt der sogenannten ursprünglichen Akkumulation in der Konstitution des Rechtsverhältnisses aufgehoben, überwunden und bewahrt zugleich.

Dies alles übersieht uG und behauptet stattdessen, eine Systematik ohne Einbeziehung der spezifischen Form der Ausbeutung noch gar der historischen Kontingenz zu entwickeln.

»Produziert wird unter den Zwängen der Kapitalverwertung, unter einem System unternehmerischer und staatlicher Konkurrenz um den Reichtum der Welt.«(uG, 15)

Flugs wird die Kapitalverwertung zu einem System unternehmerischer und staatlicher Konkurrenz, aber ohne Ausbeutung und ohne Arbeiterinnen. Der systematische Sinn jener Bestimmung wird kurz darauf expliziert:

»Im Folgenden geht es also zunächst um eine allgemeine Funktionsbestimmung des bürgerlichen Staats als institutioneller Vermittlungsweise eines erneut globalisierten Kapitalismus, sowie um die Rolle, die dem Politischen dabei zukommt. Im Vordergrund stehen nicht die Exzesse dieser Gesellschaftsordnung, sondern ihre selbstverständlichen Voraussetzungen, aus denen jene Exzesse immer wieder entstehen, und die darum nicht weniger skandalös sind. Gegenstand ist die bürgerlich-demokratische Form der Vergesellschaftung als solche, die zugleich den Systemcharakter gesellschaftlicher Herrschaft ausmacht (uG, Kapitel 1-5), und die Kritik der Politik innerhalb dieser Formbestimmtheit (uG, Kapitel 6). Von hier aus soll begründbar werden, was an konkreten politischen Problemlagen und Ideologien eigentlich das Problem ist, und was nicht.« (uG, 18)

Diese Verengung des Form-Begriffs auf das vermeintlich abstrakt-allgemeine des Kapitalismus 2 , ein Vorgehen, das von ihnen als Funktionsbestimmung richtig bezeichnet wird, verklärt allerdings den theoretisch interessierten Reduktionismus die reine Funktionalitätsbestimmung zur Begriffsarbeit 3 . Die Herausnahme der »Exzesse« aus der Darstellung bedeutet jedoch zugleich ihre Eingemeindung in das als abstrakt-allgemein bestimmte Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft. Der »Exzess« als das »Heraustretende« wird so zum besonders reinen Ausdruck der abstrakt-allgemeinen Prinzipien. Die Form der Vergesellschaftung »als solche« zu analysieren, hieße, die gesellschaftlichen Widersprüche zu benennen, die in jener Form prozessieren. Doch die Reduktion des gesellschaftlichen Widerspruchs und damit des Bewegungsprinzips kapitalistischer Vergesellschaftung auf die Konkurrenz (siehe das Zitat oben) und die Dethematisierung der Ausbeutung als auch der kapitalistischen Freiheitsantinomie eben das Kapital als realisierte Freiheit unter den Bedingungen der Unfreiheit reduziert vieles auf ein merkwürdig gefasstes Ideologieproblem. Dass sich uG dann noch anmaßt zu wissen, was »eigentlich das Problem ist« setzt dem ganzen noch ein Krönchen auf. Die Betonung des Seinszustandes des eigentlichen Problems negiert zudem den dynamischen und historischen Charakter auch kapitalistischer Vergesellschaftung und markiert die Stelle, an der uG die Dialektik von Statik und Dynamik von Werden und Sein nicht erfasst. So gerät die Bestimmung der Freiheit zu einem reinen Ideologieproblem, wodurch der Ideologiebegriff selbst reduziert und verballhornt wird zu dem was sich die bürgerlichen darunter vorstellen: zu einem Weltanschauungsproblem. So wird schlicht ein Begriff bürgerlicher Freiheit herangezogen, an dem der »Selbstwiderspruch« eben derselben aufgezeigt werden soll. Zunächst werden Freiheit (und Gleichheit) aus dem Grundgesetz benannt und daran kritisiert, dass dies nur eine formelle Bestimmung sei, eben dass die Personen freie und gleiche Rechtssubjekte aber ökonomisch ungleiche seien (uG, 26f). So weit, so gut, das kann so gemacht werden. Aber statt dies an materielle Bedingungen zurückzubinden, wird die bürgerliche Freiheit auf ihr Emanzipationsversprechen reduziert, welches im gesellschaftlichen Gehalt der Freiheit keine Rolle mehr spiele:

»Denn ihr wirklicher Inhalt ist nicht die solidarische Emanzipation der Menschheit von Naturzwang und gesellschaftlicher Herrschaft, sondern die Unterwerfung aller unter den unpersönlichen, systemischen Zwang kapitalistischer Verwertung. (...) So produziert die politische Ökonomie der bürgerlichen Freiheit systematisch individuelle und gesellschaftliche Ohnmacht. Das ist ihr Selbstwiderspruch den der bürgerliche Staat kraft seines Gewaltmonopols aufrecht erhält.« (uG, 29)

Durch die einseitige Verschiebung des Freiheitsbegriffs zum Selbstbegriff bürgerlicher Freiheit geht der tatsächliche gesellschaftlich-materielle Gehalt, die Potentialität der materiell realisierten Freiheit, verloren. Stattdessen wird es zum »eigentlichen Problem«, dass das Emanzipationsversprechen ja nur ein ideologisches sei, die materielle Wirklichkeit dagegen reiner Zwang. Die dialektische Bestimmung der realisierten Freiheit als Unfreiheit und die permanente Bewegung zwischen den Extremen sowie die Vermittlung der realisierten Freiheit in der Unfreiheit werden so nicht mehr begriffen. Der Normalvollzug stellt sich dar als reines Zwang-der-Konkurrenz-System, welches sich ideologisch als Freiheit behaupte, aber mit Freiheit gar nichts am Hut habe.

II Kollektive Identitäten Subjekte als Automaten

Daher ergibt sich ein Verständnis von Ideologie als reinem Schein, als Bewusstseinsproblem. Denn wenn die materiellen Grundlagen keine Rolle spielen, kann es nur darum gehen, das Bewusstsein als Falsches zu entlarven und dem eine Wirklichkeit entgegenzuhalten. Dies erinnert an die alte und zu Recht vergessene Oberflächentheorie der Marxistischen Gruppe, die besagte, dass auf der gesellschaftlichen Oberfläche Gleichheit und Freiheit erscheinen, in Wirklichkeit aber alle Insassen eines Klassensystems und Material des Staates seien. Genau dieses Abschneiden des Zusammenhangs von Schein und materieller Grundlage ist ein Problem, welches sich durch die Broschüre zieht. Als Beispiel soll hier die Bestimmung kollektiver Identitäten dienen. Die Bearbeitung dessen wird zu Beginn folgendermaßen zusammengefasst: »Den strukturellen Konflikten dieser Herrschaftsordnung entspringen immer wieder Ideologien kollektiver Identität (uG, Kapitel 14-17). Sie kreisen um Rasse, Geschlecht, Kultur und Religion, und finden ihre staatsbürgerliche Zusammenfassung im Nationalismus und Nationalsozialismus.« (uG, 19f) Also soll gezeigt werden, dass es nicht um kollektive Identität, sondern um die Ideologien kollektiver Identität geht, die wiederum den strukturellen Konflikten entspringen (hüpf) und danach (während des Sprungs?) um »Rasse, Geschlecht, Kultur und Religion« kreisen. Während des Kreisens werden sie vom Staat eingefangen und staatsbürgerlich zusammengefasst im Nationalismus und (sic!) Nationalsozialismus. Was wollen die Autorinnen uns damit sagen? Aber Rätsel erhalten die Spannung, also gehen wir wie in einem Sherlok Holmes-Kindermitmachbuch zu den entsprechenden Kapiteln und hoffen der Lösung einen Schritt näher zu kommen.

Zu Beginn des Abschnitts wird auf das Kommunistische Manifest rekurriert um das Argument einzuleiten. Dort heißt es: »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose >bare Zahlung^« (MEW 4, 464) »Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.« (ebd. 465) (Der Vollständigkeit halber: uG zitiert diesen Satz nur bis zum Wort »abgerissen«.) Nun wird dieses Zitat mit der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten 200 Jahre konfrontiert und gefolgert: »Diese Diagnose trifft offensichtlich nicht zu, eher gilt ihr Gegenteil: Zwar hat das dynamische Kapitalverhältnis die letzten ökonomischen und kulturellen Bastionen der feudalen Herrschaftsordnung zerstört. Doch das nüchterne Diktat der >baren Zahlung< blieb während der gesamten bürgerlichen Epoche immer von Ideologien kollektiver Identität begleitet, die das Alltagsbewusstsein und das Selbstgefühl der meisten Menschen nachhaltig präg(t)en.« (uG, 65) Warum die Diagnose nicht nur nicht zutrifft, sondern eher ihr Gegenteil wird nicht argumentativ belegt, sondern aus der Konfrontation mit eben der Geschichte der bürgerlichen Epoche für falsch erklärt. uG betätigen sich hier als Ebenenverschieber_innen. Marx und Engels bewegen sich im Manifest allerdings noch ohne entwickelten Kapitalbegriff auf der Ebene des gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen, der hier abstrakt eben nichts anderes darstellt als ein durch Geld vermitteltes Verhältnis. Es werden also die revolutionären Qualitäten der Bourgeoisie hervorgehoben, eben die mythischen Verhältnisse der unmittelbaren Herrschaft des Feudalismus aufgehoben zu haben. Dass dies nun nicht dazu geführt hat, die gesellschaftlichen Verhältnisse transparenter zu machen (was Marx /Engels im Kommunistischen Manifest tatsächlich noch behaupten), sondern die Bourgeoisie, wie zu Beginn des Textes festgestellt, ihre Herrschaft naturalisiert während alle vorhergehenden Gesellschaftsformen als künstlich und falsch begriffen werden, dass also eine Fetischisierung der selbst gemachten gesellschaftlichen Verhältnisse stattfindet, ist breites Thema im Kapital. Durch die Fetischisierung gleichwohl werden die revolutionären Qualitäten gegenüber dem Feudalismus nicht vollkommen nichtig, wie es bei uG behauptet wird. Das Problem für uG ist, dass »das nüchterne Diktat der >baren Zahlung< (...) immer von Ideologien kollektiver Identität« begleitet, »die das Alltagsbewusstsein und das Selbstgefühl der meisten Menschen nachhaltig präg(t)en«. Das Verhältnis von Bewusstsein zu gesellschaftlichem Sein wird zerrissen und die Ideologie als reines Bewusstseinsproblem behandelt. Der Ebenensprung der hier vollzogen wird, ist von der Thematisierung der zweiten Natur als fetischisiertem Objekt der Wahrnehmung, von der Erscheinung der gesellschaftlichen Verhältnisse als natürlicher Eigenschaft der Dinge, unvermittelt zu wechseln zur Konstitution kollektiver Identität. Der Fetischcharakter des Kapitals, dass sich die Dinge dem Bewusstsein darstellen als unmittelbar, heißt die Wahrnehmung der Dinge selbst als vermittelte Unmittelbarkeit zu begreifen. Diese Schnittstelle von Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik zu dethematisieren läuft bei uG darauf hinaus, die Materialität der Ideologie als notwendig falschem Bewusstsein ebenso zu vernachlässigen wie auch den Wahrheitsgehalt der Ideologie. »Der Schleier, der notwendig zwischen der Gesellschaft und deren Einsicht in ihr eigenes Wesen liegt, drückt zugleich kraft solcher Notwendigkeit auch dies Wesen selbst aus.« (AGS 8, 473) Das heißt, Ideologie selbst als Form der Selbständigkeit des Geistes zu begreifen, vermittelt durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, und daher auch als Ausdruck der (potentiellen) Differenz von Bewusstsein und gesellschaftlichem Sein.

Ideologie als Legitimation der Gesellschaft beinhaltet daher notwendig auch Wahrheit über sie. Zugleich ist Ideologie historischen Wandlungen unterworfen. Das Verhältnis des Bewusstseins zum gesellschaftlichen Sein ist notwendig affiziert von den gesellschaftlichen Bedingungen und daher auch von den Bedingungen der Entwicklung der Legitimation des Bestehenden durch Wissenschaft und Kunst. Kultur 4 ist Ausdruck der Freiheit des Bewusstseins vom unmittelbaren Zwang zur körperlichen Arbeit und zugleich zurück gebunden an die Verfügung über fremde Arbeit. Daher ist es schlicht Unsinn, Kultur als Ideologie kollektiver Identität zu behandeln, denn in kollektive Identität Nationalismus fließen zwar kulturelle Momente ein, aber Kultur geht darin nicht auf.

Der Fehler ist sicherlich, kollektive Identitäten als Bewusstseinsproblem zu fassen und rationalistisch-funktionalistisch als Selbstzuschreibung einer Identität zur Überwindung der Ohnmacht zu begreifen. Zugleich schmeißt uG persönliche und kollektive Identität in einen Topf, und begreift kollektive Identität als »einen kollektiv versicherten Standpunkt persönlicher Identität, einer widerspruchsfreien Identität inmitten widersprüchlicher Zumutungen von Staat und Kapital« (uG, 67). Warum diese Identität widerspruchsfrei sein soll, erklären sie nicht. Gerade das persönliche Opfer für das Kollektiv ist inmitten der kollektiven Identität zentral: sich selbst zu opfern für das Kollektiv ist eben vielleicht Überwindung einer persönlichen Ohnmacht aber zugleich Aufgabe der persönlichen Identität.

Im Kapitel der Beschreibung des Nationalismus (uG, 74ff) stehen zwar einige richtige Feststellungen, indem z.B. gesagt wird, dass die Nation die Form ist, in der die privat Vereinzelten sich als kollektiv handlungsfähig erleben können. Aber da in keinster Weise ein Begriff des Subjekts entworfen wird, werden auch solche richtigen Aussagen tendenziell falsch. Insbesondere wird ein Automatismus entworfen, der so nicht haltbar ist: »Die Sorge um die staatlichen Reproduktionsbedingungen des Kapitals ist im entwickelten Kapitalismus eine automatische Gefühlslage der verstaatlichten Individuen.« (uG, 49)

Doch die Identifikation mit der Nation bleibt ein automatisches Bedürfnis der kapitalistisch vereinzelten Individuen.« (uG, 74f)

»Nationale Identifikation entsteht längst nicht mehr als ideologische Vision freiheitlicher Selbstermächtigung zur politischen Souveränität. Sondern als unwillkürliche Reaktion auf die grundlegenden Bedrohungslagen bürgerlicher Individualität unterm ständigen Verwertungsdruck.« (uG, 75)

»Als ideologische Reflexionsform des überdauernden und unausweichlichen Konkurrenzzwangs, unter dem bürgerliche Staaten und Individuen ihr Dasein fristen, ist auch das Gefühl nationaler Identität eine überdauernde und zwanghafte Haltung. Und analog zur ständigen Mobilisierung in der gesellschaftlichen Konkurrenz ist auch nationale Identifizierung als umfassendes und ständig erneuerungsbedürftiges System organisiert.« (uG, 76)

Das Subjekt wird zum Reiz-Reaktionsbündel degradiert und die nationale Formierung als Automatismus dargestellt. Das heißt, die gesellschaftliche Synthesis der im Kapitalverhältnis (und damit tatsächlich auch ausgedrückt in der Konkurrenz) auseinandertreibenden Gesellschaft wird als Automatismus der Ideologie der nationalen Identifikation begriffen. Wird auf diese Art die Nation als Kohäsionsfaktor theoretisiert, fällt die spezifische Form der gesellschaftlichen Synthesis über den Wert weg, die sich wiederum vermittelt als Formierung im Staat darstellt. Die Nichtbeachtung der Vermittlungen in der Synthesis negiert die dialektische Konstitution des Subjekts in der heteronom bestimmten Autonomie. Insofern verstrickt sich uG im letzten zitierten Satz in den Widerspruch, nationale Identität als Automatismus und zwanghafte Handlung zu betrachten, die aber ständig erneuert werden müsse. Entweder etwas folgt automatisch, oder es muss prozessierend immer wieder hergestellt werden. Dieser logische Widerspruch ist Ausdruck der Auflösung des Subjekts im Objekt in der Dethematisierung der Subjekt-Objekt-Verkehrung und der darin liegenden Konstitution des Subjekts. Und zugleich zeigt sich die Fokussierung auf die Konkurrenz mit der ihr automatisch entspringenden nationalen Identität zur Behauptung auf dem Weltmarkt als Ausgangspunkt des Zusammenfallens von bürgerlicher Gesellschaft und Faschismus in der «G-Theorie. Nation kann daher nicht gefasst werden als die Gesellschaft ordnende Kategorie und außerkategoriale Realität und ihre Vermittlung in der Subjektivität kapitalistisch vergesellschafteter Individuen wird vereinseitigt zu einer ausweglosen Notwendigkeit 5 . Stattdessen wäre die Abstraktifizierung zum Menschen an sich in der Konstitution der Subjektivität ernst zu nehmen, die Vermittlung des konkreten Individuums in der materiell isolationistischen Realität als abstraktem Subjekt (inklusive der damit gesetzten Dialektik von Autonomie und Heteronomie) und die Nation als Form zu begreifen, in der sich abstrakte Dimension der Subjektivität zu einem Subjekt sui generis hypostasiert (vgl. Schiller 1993,15). Dies würde auch bedeuten, die historischen Besonderheiten der Konstitution der Nation zu berücksichtigen und damit sowohl die spezifischen Formierungsmomente zu bestimmen als auch die aufgehobene Gewalt der historischen Feindkonstruktion in dieser Formierung zu begreifen. Deshalb bleibt die Konstruktion der deutschen Nation notwendig immer verbunden mit dem Nationalsozialismus. Dieser ist nicht einfach weg, sondern die Gegenwartsgesellschaft baut darauf auf. Dass antifaschistische Gruppen sich hinstellen und sowohl die Potentialität einer Autonomie des Subjekts wie auch die spezifischen Besonderheiten der deutschen Nation leugnen, ist ein theoretischer Rückfall, der seinesgleichen sucht. Es ist die Abschaffung der Geschichte zur Installation eines Praxisprogramms, das sich aus einer Kritik, welche den Gedanken als ungegängeltem und ohne vorsätzliche Zwecksetzung als Mittel von Praxis retten möchte, nicht herleiten ließe. »Einen Ausweg könnte einzig Denken finden, und zwar eines, dem nicht vorgeschrieben wird, was herauskommen soll, wie so häufig in jenen Diskussionen, bei denen feststeht, wer recht behalten muß, und die deshalb nicht der Sache weiterhelfen, sondern unweigerlich in Taktik ausarten.« (AGS 10.2, 796)

III Die Regression in den gesellschaftlichen Naturzustand oder die merkwürdige Tatsache, dass Antifa-Gruppen vom Faschismus nichts wissen.

»Massenkultur produziert ein begriffsloses Durcheinander,in dem alles allem ähnlich ist.«Detlev Claussen

Die falsche Bestimmung der Freiheit, die reduktionistische Darstellung der Kohäsion im Staat als Automatismus der Konkurrenz sowie die Dethematisierung des Subjekts führen zu einer Angleichung von bürgerlicher Gesellschaft und Nationalsozialismus. Gleich zu Beginn der Broschüre wird eingeführt, dass die Jahrhunderte des Kapitalismus »randvoll mit organisierter Gewalt, massenhaftem Elend und einsamer Verzweiflung« (uG, 15) sind. Der Nationalsozialismus wird als Spitze »dieser zivilisierten Barbarei« bezeichnet. »Die sichtbaren Leichenhaufen der kapitalistischen Welt sind aber nur Exzesse ihrer alltäglichen Irrationalität.« (ebd.) Dies ist die Eingemeindung des Nationalsozialismus und insbesondere von Auschwitz in die >normale< kapitalistische (Ir)Rationalität. Die Verwendung des Bildes der Leichenhaufen in diesem Kontext bedeutet die eindeutige assoziative Verknüpfung mit den realen Leichenhaufen der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager, denn das sind die einzigen Bilder von realen Leichenhaufen, die medial verfügbar sind; das Sterben an den europäischen Außengrenzen wird nun mal eher entbildert und unsichtbar gemacht. Daher ist die Absicht, die Bilder von ausgemergelten aufgetürmten Toten aus Bergen-Belsen, Auschwitz, Buchenwald usw. an alle Orte der Welt zu verlegen, an denen sich der Kapitalismus mal wieder exzessiv austobt. Das ist ein Spielen mit der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zur Verwischung der Differenz, die beispielsweise in der Bewachung und Abschottung einer Außengrenze und der industriellen Mordmaschine besteht.

Im genuinen Kapitel über die »Gemeinsame ideologische Basis von Nationalismus und Nationalsozialismus bzw. Faschismus« (uG, 79ff) soll eben jene Gemeinsamkeit dargestellt werden. Der Offenbarungseid beginnt mit der Feststellung:

»Die nationalsozialistische Ideologie des völkischen Nationalismus antwortete auf den Zusammenbruch des bürgerlich-liberalen Emanzipationsversprechens in der globalen Konkurrenz kapitalistischer Industriestaaten.« (uG, 79)

Schon gleich wird der Nationalsozialismus (und der völkische Nationalismus) als Ideologie beschrieben, die auf den Zusammenbruch einer anderen Ideologie (Emanzipationsversprechen) antworte. Merkwürdigerweise wird die Verwertungskrise des Kapitals als Zusammenbruch eines Versprechens gedeutet und nicht als das was es war: als gewaltsames Auseinanderbrechen der Reproduktionsmöglichkeiten von Kapital und Menschen. Zugleich wird damit negiert, dass der völkische Nationalismus nicht erst durch die Krise entstand, sondern im 19.Jahrhundert in der romantischen Bewegung 6 . Die Motive des völkischen Nationalismus werden im weiteren Verlauf des Kapitels zudem auf den phänomenologisch einigermaßen richtig gefassten Antisemitismus reduziert. Insbesondere die aus der Romantik folgenden Motive einer größeren Gemeinschaft außer der bestehenden Gesellschaft, in der erst der Mensch seine Identität finden könne, bleiben unberücksichtigt.

Weiter wird im Text fortgefahren mit der Behauptung, dass »in der nationalökonomischen Staatenkonkurrenz, und erst recht in der globalen Verwertungskrise der 30er Jahre« der »liberale Inhalt« der Bürgerrechte verlorenging. Was auch immer das für Deutschland bedeuten mag, wenn wenige Seiten später festgestellt wird, dass »das spezifische Verhältnis von Individuum und Staat, wie es sich in der preußischen Monarchie bzw. im preußisch-deutschen Kaiserreich entwickelte« (uG, 82) eine besondere historische Voraussetzung des NS war, was sich auch darin ausdrückte, dass es keinen bürgerlich-revolutionären Bruch mit der Monarchie gab und der Kapitalismus in Deutschland »immer unter der Aufsicht einer autoritären Monarchie« (ebd.) stand. Wie hat sich unter diesen Umständen ein »liberaler Inhalt« der Bürgerrechte entwickeln können, der dann plötzlich verloren ging? Dieses ist einer der Widersprüche, die notwendig aus der dargebotenen Theorie folgen.

Da aber nun doch eine Besonderheit in der deutschen Entwicklung ausgemacht wurde, muss diese auch irgendwie ausformuliert werden: »Die Ideologie des völkischen Nationalismus spricht die Nichtigkeit des Individuums im Verwertungsprozess und seine Abhängigkeit von der staatlichen Schicksalsgemeinschaft offen aus. Doch sie verbindet dies mit dem Versprechen absolut unverbrüchlicher Solidarität und staatlich garantierter Privilegien. Wo die im Kapitalismus unausweichlich vorausgesetzte und eingeforderte >Autonomie< des vertragsfähigen Individuums im täglichen Verwertungsprozess immer wieder überfordert und ökonomisch massenhaft durchgestrichen wird, entspringt nationalsozialistische Ideologie spontan als versichernde Imagination einer vorpolitischen >Einheit< der Nation als Volk und Rasse als nationalsozialistische >Volksgemeinschaft<. Anders als der gewöhnliche staatsbürgerliche Nationalismus versprach der NS, die Windmühlenkämpfe politischer Vermittlung, den Widerstreit g esellschaftlicher Interessen ein für allemal zu beenden, und das ersehnte nationale Privileg durch Maßnahmen eines autoritären Staates durchzusetzen.« (uG, 79) Der NS spricht also einfach nur offen aus, was der bürgerliche Nationalist denkt so kann diese Passage zusammengefasst werden. Das bürgerliche Emanzipationsversprechen wird also nur ein wenig verdreht in ein: füge dich ein und du bekommst die Privilegien in der Konkurrenz, die dir zustehen auch mit Gewalt. Nun denn, nach dieser ersten Differenzbestimmung kann fröhlich weiteres vergleichbar gemacht werden. Paradoxerweise wird dies erstmal durch die Betonung der Unterschiede bewerkstelligt: »Die Suche nach Gründen, warum der Nationalsozialismus ausgerechnet in Deutschland zur Massenideologie wurde, grenzt oft an verständnisvolle Entschuldigung. Und auch der Vergleich des NS mit anderen Modellen staatlicher Krisenbewältigung der späten 20er Jahre hat meist entschuldigende Funktion. Denn schon der Vergleich als solcher (etwa mit dem italienischen Faschismus, mit dem amerikanischen >New Deal< oder der Sowjetunion) stellt den NS vorab als Kind seiner Zeit dar, als Ausrutscher der Geschichte unter anderen. In Wahrheit kommt es auf die Unterschiede an: Nirgendwo sonst begannen Staat und Staatsbürger als reale >Volksgemeinschaft< einen Raub- und Vernichtungskrieg. Und nirgendwo sonst konnte ein eliminatorischer Antisemitismus zum bejubelten Staatsprogramm werden.« (uG, 82) Damit wird der NS zunächst als unvergleichbar aus der Geschichte herausgeholt, indem schon der Vergleich der ökonomischen Entwicklung mit denen anderer Länder als Darstellung des NS als Ausrutscher der Geschichte dargestellt wird. Gerade die Diskussionen innerhalb der kritischen Theorie (die Pollock-Neumann-Debatte, die ökonomischen Analysen SohnRethels, die Diskussionen zwischen Adorno und Horkheimer) werden damit (in)direkt angegriffen und abqualifiziert. Warum aber der NS als Ausrutscher der Geschichte betrachtet wird, wenn seine ökonomischen Voraussetzungen und die durchaus als fordistisch zu beschreibenden Entwicklungen als eben Krisenlösungsentwicklung verstanden wird, die Ähnlichkeiten zu anderen Modellen aufweist, folgt nicht aus dem Text. Denn, wie richtigerweise gesagt wird, besteht die Differentia Specifica im antisemitischen Massenmord, nicht in der Durchsetzung fordistischer Modelle. Um die Spezifik nun zu bestimmen, wäre eine polit-ökonomische Analyse des NS notwendig, eine Analyse insbesondere der Rolle der Rüstungsindustrie, die zum wichtigsten Zweig der Krisenlösung aufstieg (auch hier nebenbei, gibt es eine Analogie zu den USA, deren Überwindung der Krise auch erst Ende der 30er Jahre mit dem Hochfahren der Rüstung für den Krieg begann). Hier verschränken sich allerdings antisemitischer Wahn, völkische Lebensraumvorstellungen und Krisenlösung in einer spezifischen Form politischer Herrschaft, die eben nicht einfach die Fortführung des normalbürgerlichen Konkurrenzstaates ist. Neumann versuchte dies mit dem Begriff des Behemoth zu beschreiben, dass eben der totalitäre Staat zugleich Unstaat ist, zerfallen in vier tragende Säulen, die einander bekämpfen, ihre eigene Rechtssprechung haben und direkt auf den Führer ausgerichtet sind. Das Verschwinden der Schutzfunktion des Rechts, die Unmittelbarkeit staatlicher Gewalt, vor der auch die Stützen des NS nicht sicher sein konnten (siehe Röhm-Putsch) zeigen an, dass zwar weiterhin kapitalistische Produktion prozessierte, dass aber die Synthesis der Gesellschaft nicht mehr über den Wert hergestellt wurde, sondern über das antisemitische Wahnbild. Die Rüstung nahm hier eine spezifische Rolle der nationalsozialistischen Konterrevolution ein: als »ursprüngliche Akkumulation der Kapitalvernichtung« (Krahl 1977, 87). Dies als »Auflösung transzendentaler Konstitutionslogik in paranoische Projektionslogik« (ebd., 357) zu begreifen, ist der erkenntnistheoretische Ausdruck der Auflösung funktionierender gesellschaftlicher Synthesis über Wert und Staat als Formen, in denen die gesellschaftlichen Antagonismen prozessieren können, und ihrer Ersetzung durch die negative Gemeinschaft der Vernichtung. Die Setzung paranoischen Wahns als normaler Verfassung des Individuums ist daher Ausdruck der negativen Aufhebung des Kapitals auf der Grundlage des Kapitals, und bedeutet die Regression in den gesellschaftlichen Naturzustand, die fiktionale sekundäre Natur der >Rasse< als gesellschaftlicher Mythos der Natur; im NS wird auf einen sekundären Naturzustand »auf der Höhe der Zeit« (der Produktivkräfte) regrediert und paranoische Projektion wird zum Tatmovens. »Die Konstitution projektiver faschistischer Erkenntnisformen ist das regressive Rückgängigmachen von Reflexion in den Umkreis der vermittelten Unmittelbarkeit des Eigentums (...)« (ebd., 359). Insofern ist es nicht falsch, Beziehungen zwischen Nationalsozialismus und Kapitalismus zu konstatieren diese liegen aber nicht in der Konkurrenz, sondern weitaus früher in der Form des Eigentums (als Form der Aneignung) und der damit einhergehenden Konstitution sowohl erkenntnis- als auch gesellschaftstheoretisch. Nur dadurch kann das spezifische Auseinandertreten begriffen als auch die Voraussetzungen für den industriellen Massenmord gefasst werden.

Wenn uG schreiben, dass »(d)ie Staatsunmittelbarkeit des deutschen Individuums (...) in der ökonomischen und kriegerischen Staatenkonkurrenz zu einer Kraftquelle volksgemeinschaftlicher Opferbereitschaft und Unbeugsamkeit bis zur letzten Kugel (wurde)« (uG, 83), dann ist dies eine Reduktion der Differenz auf einen Wettbewerbsvorteil in der Staatenkonkurrenz. Der Witz ist nun, dass aus der Unvergleichbarkeit dies folgt:

»Damit ist der NS weder erschöpfend historisch erklärt, noch ist er entschuldigt. Es sind aber wesentliche historische Bestimmungsmomente genannt, die den Nationalsozialismus mit der allgemeinen Form bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft verknüpfen.« (ebd.)

Interessanterweise folgt aus der spezifisch deutschen Geschichte und der Unvergleichbarkeit des NS, dass damit die Verknüpfung mit der allgemeinen Form bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft wesentlich)!) bestimmt sei. Dagegen hat Horkheimer schon recht früh solche seiner Auffassung nach nationalökonomischen bzw. positivistischen Denkweisen entspringenden Auffassungen kritisiert: »Deshalb sollte man auch jetzt, d.h. In der Vorgeschichte neuer Kriege, die wirtschaftlichen Gegensätze nicht mit den ökonomischen Grundlagen verwechseln. Eine Auffassung, welche Geschichte aus Konkurrenzphänomenen erklärt, ist ebenso wenig materialistisch, wie die Erklärung der wirtschaftlichen Entwicklung aus Angebot und Nachfrage [, diesen spezifisch nationalökonomischen Kategorien]. Diese im fachlich national-ökonomischen Sinne »wirtschaftlichem Erscheinungen festzustellen und zu ordnen, genügt keineswegs, um zum historischen Kern vorzudringen.« (Horkheimer 1934, 167) uG, solchermaßen gefangen in der Darstellung unverstandener Phänomene, kommen daher notwendig zu solch verquastem Kram, aus dem sie schließlich den Clou entwickeln die vollständige Eingemeindung des NS in den Normalzustand:

»Dass die nationalsozialistische Ideologie in kapitalistischer Konkurrenz und Krise gründet, bedeutet auch: Der Nationalsozialismus war kein »Zivilisationsbruch<, sondern Ausdruck jenes konstitutiven Selbstwiderspruchs bürgerlicher Freiheit, der auch im zivilisierten demokratischen Alltag spürbar ist. Die kritisch gemeinte Metapher des >Zivilisationsbruchs< ist im politischen und zivilgesellschaftlichen Diskurs der Berliner Republik selbst ein Stück Ideologie und Begriffsverweigerung. Die bürgerliche >Zivilisation< ist deshalb so brüchig, weil ihre gesellschaftliche Substanz der ständige Verdrängungswettbewerb von Individuen und Staaten unterm kapitalistischen Konkurrenzzwang ist.« (uG, 83)

Damit ist der NS nichts anderes als eine vielleicht etwas extreme Form des »kapitalistischen Normalzustandes«. Die explizite Ablehnung des Begreifens von Auschwitz als >Zivilisationsbruch< anstatt konkret Auschwitz zu benennen, hier den NS zu erwähnen, ist schon Ausdruck des Unwillens, sich mit dem, was denn mit >Zivilisationsbruch< umschrieben ist, zu beschäftigen, heißt nichts anderes, als sich der normalen deutschen Geschichtsschreibung einzureihen, denn dadurch wird Auschwitz zum Verschwinden gebracht. »Die massenmediale Kultur hat Auschwitz assimiliert. Das zu begreifende Unbegreifliche ist in eine banale Trivialität verwandelt worden, aus der die Menschheit Lehren ziehen soll, deren Unverbindlichkeit sich kaum verheimlichen lässt.« (Claussen 1995, 13) Diese Assimilation mitzuvollziehen und an der Stelle, an der der Begriff versagt, eine allgemeine Erklärbarkeit zu postulieren und dann auch noch die intellektuelle Unverschämtheit von sich zu geben, dass dies ja im Grunde alltäglich »spürbar« sei, ist eine Verhöhnung der Opfer in den Vernichtungslagern. Das Leiden in den Lagern ist als das Nichtkommunizierbare zu begreifen, es ist weder intellektuell nachvollziehbar noch gar sinnlich nachzuempfinden. Der Begriff des >Zivilisationsbruchs< mag einerseits, soweit kann die Kritik noch nachvollzogen werden, dazu verwandt werden, dass Auschwitz zu einem unbestimmten Schrecken verklärt wird; aber in seiner kritischen Verwendung wird genau auf dieses hingewiesen. Auschwitz einfach aus dem »Selbstwiderspruch bürgerlicher Freiheit« und der »Konkurrenz« zu erklären, heißt, die konkrete Tat in den geschichtlichen Normalablauf einzuordnen. Das Grauen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern entzieht sich aber jeglicher Rationalität, jeglicher logischer Geschichte (und wenn uG die Konkurrenz und ihre Rationalität so in den Mittelpunkt stellen, dann ist darin, da sie ja Prozess ist, notwendigerweise eine Vorstellung von logischem Gang der Geschichte gegeben 7 ). Indem hier also eine Kommensurabilisierung von Auschwitz betrieben wird, stellt sich das antifaschistische nG- Bündnis in eine Reihe mit der herrschenden Geschichtsschreibung und Vergangenheitspolitik und zwar in einem zentralen Moment. Die Nichtbeachtung des sekundären Antisemitismus, der einen Ausdruck genau in einer solchen Kommensurabilisierung von Auschwitz hat, ist ein Offenbarungseid für Antifaschist_innen.

Doch diese Eingemeindung von Auschwitz folgt notwendig aus der in der Broschüre entwickelten Theorie und insbesondere aus dem Automatismus des Entspringens des Nationalismus aus der Konkurrenz sowie aus der falschen Freiheitsbestimmung. Nimmt man letztere, so wie sie gegen uG bestimmt wurde, als in den Produktivkräften realisierte Freiheit vom Naturzwang, so wird der qualitative Umschlag in Auschwitz deutlich: die in den Produktionsmitteln und Fähigkeiten materialisierten Produktivkräfte schleppen auch in der kapitalistischen Rationalität noch die realisierte Freiheit unter Bedingungen der Unfreiheit in der Ermöglichung der Selbsterhaltung der Menschen mit. Auschwitz als »groteske arische >antikapitalistische< Negation« der »normalem Fabrik (Postone 1995,40) bedeutet die vollkommene Umkehrung des Einsatzes der Produktivkräfte zur Selbsterhaltung: die Vernichtung von Menschen als absoluter Selbstzweck. Genau hier ist das Verlassen jedweder Rationalität markiert und eben auch das begrifflich nicht mehr fassbare, denn jeder Versuch das »zu begreifende Unbegreifliche« (Claussen 1995,13) auf die Verstehbarkeit hin aufzulösen, negiert das Moment des qualitativen Bruchs. Jegliches Denken über Auschwitz muss aber dieser Aporie des zu begreifenden Unbegreiflichen standhalten, sonst verkommt es zu affirmativem Geschwätz.

Dan Tarbow

#1 In einer Veranstaltung zur Vorstellung der Broschüre wurde angekündigt, eine Kritik »auf der Höhe der Zeit« formulieren zu wollen. Deshalb meine Rückfrage als Titel dieses kleinen Textes.

#2 Die Fixierung auf die Konkurrenz als allgemeiner Bestimmung verbleibt auf einer Ebene, auf der vielleicht prima »Funktionsbestimmungen« gemacht werden können, verfehlt aber so einiges: »Es erscheint also in der Konkurrenz alles verkehrt. Die fertige Gestalt der ökonomischen Verhältnisse, wie sie sich auf der Oberfläche zeigt, in ihrer realen Existenz, und daher auch in den Vorstellungen, worin die Träger und Agenten dieser Verhältnisse sich über dieselben klarzuwerden suchen, sind sehr verschieden von, und in der Tat verkehrt, gegensätzlich zu ihrer innern, wesentlichen, aber verhüllten Kerngestalt und dem ihr entsprechenden Begriff.« (MEW 25, 219) #3 Da uG Allgemeines in den Mittelpunkt stellen und vom Konkreten absehen, ist mit Adorno einzuwenden: »Dem Fetischismus der Fakten korrespondiert einer der objektiven Gesetze.« (AGS 8, 356) #4 Kultur nur als Ideologie kollektiver Identität zu begreifen nimmt die Ideologie der »Leitkultur« für bare Münze und verweigert sich der kritischen Durchdringung des Problems. Dieses liegt an der falschen Freiheitsbestimmung ebenso wie am falschen Ideologiebegriff. Ähnlich verhält es sich damit, Geschlecht als kollektive Identität zu begreifen. Das fällt hinter jegliche feministische Theorie zurück, die Geschlecht als Strukturkategorie von Gesellschaft begreift. Dass es Tendenzen in der feministischen Bewegung gab, »Frau« als Identität stark zu machen, ist unbestritten. Dies gilt aber nicht für die Darstellung der gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse. Sie nur als Ausdruck von Verteilungskämpfen zu begreifen und darin den Benachteiligten abzusprechen, für gleiche Rechte zu kämpfen, ist zynisch und schlicht falsch. Nancy Fraser (2001, 23ff) nannte dies mal das Anerkennungs-Umverteilungs-Dilemma, womit sie die Widersprüche darstellte, in denen Kämpfe um gesellschaftliche Teilhabe geführt werden, ohne aber pauschal diese Kämpfe zu denunzieren. Aufzubrechen wäre tatsächlich eine Gesellschaft, in der vor jeglicher Reflexion darauf die strukturelle Zuordnung zu einem vereindeutigtem Geschlecht grundlegender Zwang ist. Der neugeborene Mensch identifiziert sich relativ selten selbst als »Mann« oder »Frau«, dies wird in der Regel von gesellschaftlichen Instanzen übernommen. Dass dieses Geschlechterverhältnis mit einer spezifischen Sexualität(svorstellung) überhaupt erst gewaltsam durchgesetzt werden musste, indem Abweichungen drastischen Bestrafungen unterworfen wurden, sollten die wG-Leute mal in den entsprechenden Büchern nachlesen.

#5 Wie die u G-Leute es dann schaffen, sich selbst dem Automatismus zu entziehen und die Nation zu kritisieren, bleibt ihr Geheimnis. Dies kann aus ihrer dargelegten Position nicht begründet werden. Die einzige Möglichkeit ist, dass sie irgendwie eine Position außerhalb des Beschriebenen erreicht haben. Dies ist allerdings nur durch einen mystischen Sprung möglich.

#6 Zur völkischen Bewegung und ihrem Verhältnis zur Romantik vgl. Mosse 1991.

#7 Dies scheint ein Widerspruch zur anfangs gemachten Bestimmung der Stillstellung der Geschichte in der uG-Broschüre zu sein. Dieses Paradoxon, Vorstellung eines logischen Gangs der Geschichte implizit im Gang der Konkurrenz haben zu müssen, gleichzeitig aber die Geschichte stillzustellen, wurzelt im Nichtbegreifen der Dialektik von Werden und Sein des Kapitals sowie der Negation der Kontingenz.

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Adorno, Theodor W. 1968: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, in: ders. Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt, S. 354-370

Adorno, Theodor W. 1954: Beitrag zur Ideologienlehre, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd.8, Frankfurt, S.457-477

Adorno, Theodor W.: Resignation, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 10.2, S.794-799

Claussen, Detlev 1995: Die Banalisierung des Bösen. Über Auschwitz, Alltagsreligion und Gesellschaftstheorie, in: Michael Werz (Hrsg.): Antisemitismus und Gesellschaft, Frankfurt am Main, S. 13-28

Fraser, Nancy 2001: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats, Frankfurt am Main

Horkheimer, Max 1934: Brief an Erich Fromm 24.Juli 1934, in: ders. 1995: Gesammelte Schriften Band 15, Frankfurt, S.163-171

Krahl, Hans-Jürgen 1977: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt

Marx, Karl/Friedrich Engels 1848: Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW 4

Marx, Karl 1998: Das Kapital. Zur Kritik der politischen Ökonomie, Bd.l, in: MEW 23, Berlin

Marx, Karl 1983: Das Kapital. Bd.3, in: MEW 25, Berlin

Mosse, George L. 1991: Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main

Postone, Moishe 1995: Nationalsozialismus und Antisemitismus, ein theoretischer Versuch, in: M. Werz (Hrsg.): Antisemitismus und Gesellschaft, Frankfurt

Schiller, Hans-Ernst 1993: An unsichtbarer Kette. Stationen Kritischer Theorie, Lüneburg

umsGanze 2009: Staat, Weltmarkt und die Herrschaft der falschen Freiheit. Zur Kritik des kapitalistischen Normalvollzugs, o.O.