>Konkurrenz< nimmt in der Broschüre von ...umsGanze (2009, im Folgenden: uG) eine bestimmende Stellung ein, schon rein quantitativ: Allein auf den ersten 10 Seiten des Texts wird sie 46 mal genannt, hinzu kommen 12 mal Abkömmlinge wie Wettbewerb, Wettstreit usw. Dass es sich dabei nicht um eine Frage schlechten Stils handelt, mag ein Vergleich verdeutlichen: Klasse = 0, Kampf = 0, Arbeitsteilung = 0, Produktionsverhältnisse = 0, Praxis = 0, Begriff = 0. Widerspruch = 1, immerhin. 1 Qualitativ betrachtet sieht es nicht besser aus. Es wird kein Begriff von Gesellschaft entwickelt, es findet sich überhaupt kein >Begriff< und keine >Bestimmung< nur eine Aneinanderreihung feststehender Setzungen und endgültiger Wahrheiten. Kapitalismus wird beschrieben als ein funktionierendes System, das keine Dynamik und keine Bewegung kennt. Daraus ergibt sich eine mechanische, statische Betrachtung, die sich selbst im unbeteiligten Außen wähnt und Gesellschaft nicht als widersprüchliches Verhältnis begreift.

Vor diesem Hintergrund wird es schwierig, überhaupt Ansatzpunkte für eine Kritik zu finden. Im Folgenden werde ich daher zunächst die Broschüre für sich selbst sprechen lassen mit einem Abschnitt, der für die uG-Begründung des bürgerlichen Staats zentralen Stellenwert hat und in dem der Konkurrenz die Rolle einer Schlüsselkategorie zukommt. Im Anschluss daran versuche ich, die Bedeutung von Klassenkämpfen in der marxschen Theorie herauszuarbeiten. Abschließend folgen einige Anmerkungen zu Staat und Klassenkampf.

Ich formuliere diese Kritik im Anschluss an Diskussionen, die in Frankfurt geführt wurden, und verstehe sie als Teil von Kämpfen, in die auch uG mit der Broschüre intervenieren. Zentrale These ist, dass sich Gesellschaft ohne einen Begriff von >Kampf< nicht denken lässt und eine entsprechende Theoretisierung gerade mit Blick auf politische Praxis notwendig wäre. Wenn >Klassen< in diesen Überlegungen zunächst im Vordergrund stehen, so hat das den einen Grund, dass sie bei uG kaum Berücksichtigung finden; der andere Grund ist der, dass mein Artikel von vier weiteren Texten flankiert wird, die ihre Bedeutung angenehm relativieren.

1. Theoretische Begründung des Staats beiuG

Um den Textfluss nicht zu zerreißen, gleichzeitig aber auf einen unmittelbaren Kommentar nicht zu verzichten, habe ich diesen in Form von Fußnoten eingebracht. Hier der Text: »Der kapitalistische Normalvollzug hat Voraussetzungen, die nicht selbst der kapitalistischen Konkurrenz entstammen, die aber zur Aufrechterhaltung dieser Konkurrenz unabdingbar sind. Denn die einzelnen ökonomischen Akteure haben kein eigenes Interesse an der Konkurrenz als solcher. Als Konkurrenten haben sie im Gegenteil ein notwendiges Interesse an ihrem individuellen Konkurrenzerfolg, tendenziell also an einer Monopolstellung. 2 Ihr Streben geht notwendig darauf, den ökonomischen Gegner nieder zu konkurrieren, und dazu alle verfügbaren Mittel zu mobilisieren. Dieser Logik des kapitalistischen Verdrängungswettbewerbs entsprechend, würden sie gegenüber ihren ökonomischen Widersachern auch auf Mittel zurückgreifen, die die Konkurrenzordnung insgesamt zerstören würden: Gewalt, Täuschung, Diebstahl, Erpressung, Sabotage, üble Nachrede etc. 3 Solche Verfahrensweisen können aber keine Regeln des Kapitalismus als gesellschaftlicher Reproduktionszusammenhang sein. Eine dauerhafte Verwertung des privaten Reichtums als Kapital kann nur in einem gesellschaftlichen System des »freien Warentauschs« gelingen, des ausschließlich ökonomischen Widerstreits der Individuen und Unternehmen. 4 Es bedarf also einer Instanz, die außerhalb der kapitalistischen Konkurrenz steht, und die die Voraussetzungen dieser Konkurrenz schützt — und zwar gegen betrügerische und gewalttätige Vorgehensweisen, die durch die kapitalistische Konkurrenz selbst motiviert werden. Diese Instanz ist der bürgerliche Staat als Hüter des Rechts. Um Recht und Gesetz durchsetzen zu können, beansprucht er das Gewaltmonopol - das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit gegenüber allen Menschen und ökonomischen bzw. institutioneilen Akteuren auf seinem Territorium. Bereits diese zentrale Funktion des Staates dokumentiert, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung von einer alltäglichen Tendenz zu Gewalt und Betrug geprägt ist.5 Eine funktionierende kapitalistische Reproduktionsweise als ganze setzt jedoch voraus, dass der ökonomische Verdrängungswettbewerb insgesamt als freie Konkurrenz nach allgemeinen Regeln ausgetragen wird. Der ökonomische Antagonismus vollzieht sich also in der Form des Vertrags zwischen formal freien und gleichen Rechtssubjekten, die sich gegenseitig als Privateigentümer anerkennen. Jedes legale Geschäft fußt auf einem solchen Vertrag. Und diesen Vertrag garantiert der bürgerliche Staat kraft seiner hoheitlichen Monopolgewalt durch ein allgemeines Recht.« (uG, 20f) Der »Antagonismus« am Ende kommt etwas unvermittelt, denn ein solcher setzt widerstreitende, entgegenge-setzte Interessen voraus. Im marxschen »Kapital« bezieht er sich auf die unterschiedlichen Stellungen von Lohnarbeit und Kapital im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess. Dieser Klassenantagonismus und die damit verbundenen Kämpfe bilden ein strukturelles Moment der kapitalistischen Produktionsweise, das im weitesten Sinne unter dem Begriff der Produktionsverhältnisse gefasst werden kann.

Bei uG ist weder von Produktionsverhältnissen noch von Klassenkämpfen die Rede, thematisiert wird ausnahmslos die Konkurrenz, bei der es allerdings um den Wettstreit gleicher Interessen geht. Konkurrenz gibt es sowohl unter Kapitalist_innen wie unter Arbeiterinnen: bei ersteren geht es um Marktanteile, bei letzteren um Arbeitsplätze. Beide Gestalten der Konkurrenz prägen gesellschaftliche Prozesse, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Bei uG verschwimmen diese Unterschiede jedoch zu einem Brei. Konkurrenz wird zum allgemeinen Handlungsmotiv, der Klassenantagonismus geht verloren. Dazu noch zwei Zitate: »In entwickelten kapitalistischen Ökonomien ist den Menschen ihr Dasein als Privateigentümer und Konkurrenten zu einer unhinterfragten Selbstverständlichkeit geworden. Egal ob (...) als Lohnabhängige (...), als (...) »Selbständige«, als Manager (...): stets stehen sie in Konkurrenz mit ihresgleichen.« (uG, 16) »Von der geringsten Dienstleistung bis zur größten Industrie gilt das Prinzip, dass eine Investition einen Profit abwerfen muss. Und das ist nur durch die unbedingte Bereitschaft zu gewährleisten, ökonomische Konkurrenten auszustechen. Auch wer an diesem Verdrängungswettbewerb mangels Kapitalbasis gar nicht erst auf eigene Rechnung teilnehmen kann, unterliegt dieser objektiven Anforderung.« (uG, 17) Im zweiten Zitat wird nahegelegt, dass der Profit dem Ausstechen der Konkurrenten entspringt. Solchen liberalen Positionen begegnete Marx mit der These, dass der Mehrwert (und damit der Profit) ausschließlich der Ausbeutung der Arbeitskraft entstammt. Anknüpfend an Marx werde ich deshalb im folgenden Abschnitt versuchen, die Rolle der Konkurrenz in der kapitalistischen Produktionsweise herauszuarbeiten.

2. Konkurrenz

Im »Kapital« widmet Marx dem »Kampf um den Arbeitstag« ein historisches Kapitel (Marx 1890,245-320), das den Abschluss seiner Ausführungen zum absoluten Mehrwert bildet. Er zeichnet darin eine Bewegung zwischen Kapital und Arbeit nach, in der die vermittelnde Tätigkeit des Staats zum Tragen kommt. Dieser Abschnitt ist nicht nur für eine materialistische Staatstheorie von Bedeutung, sondern bildet auch die implizite Grundlage der oben zitierten Ausführungen von uG. Marx beginnt seine Ausführungen mit Überlegungen zur Länge des Arbeitstags unter der Bedingung des Warentauschs: »Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar - ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.« (ebd., 249)

Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt: An diesem Punkt ist mit logischer Abstraktion nicht mehr weiter zu kommen, weil gleichberechtigte, aber antagonistische Interessen aufeinander treffen. Die Entscheidung wird in der konkreten Geschichte herbeigeführt. Marx betrachtet daher den historischen Verlauf der Kämpfe zwischen Arbeit und Kapital in der Phase der Industrialisierung in England.

2.1 Der Angriff des Kapitals

In seinem »Wehrwolfsheißhunger« nach Mehrwert und damit Mehrarbeit tendiert das Kapital dazu, die Arbeitskräfte unerträglich lange arbeiten zu lassen. In der Praxis des frühen 19. Jahrhunderts führt das nicht nur zum Tod durch Überarbeit einzelner Arbeitskräfte (vgl. ebd., 269), sondern die Existenz der Arbeiter_innenklasse als solcher ist in Frage gestellt: »Das Kapital fragt nicht nach der Lebensdauer der Arbeitskraft. (...)

Die kapitalistische Produktion, die wesentlich Produktion von Mehrwert, Einsaugung von Mehrarbeit ist, produziert also mit der Verlängerung des Arbeitstags nicht nur die Verkümmerung der menschlichen Arbeitskraft, welche ihrer normalen moralischen und physischen Entwicklungs- und Betätigungsbedingungen beraubt wird. Sie produziert die vorzeitige Erschöpfung und Abtötung der Arbeitskraft selbst.« (ebd., 281)

Das Widersinnige an dieser »maßlosen Aussaugung« von Arbeitskraft ist, dass das Kapital damit seine eigene Grundlage, die Quelle von Wert und Mehrwert, untergräbt. Daran kann es objektiv kein Interesse haben. Marx bemerkt entsprechend: »Das Kapital scheint daher durch sein eignes Interesse auf einen Normalarbeitstag hingewiesen.« (ebd.)

Wichtig ist der Begriff des Interesses. Der Normalarbeitstag, d.h. die Verkürzung des Arbeitstags auf ein halbwegs erträgliches Maß, ist im Sinne der langfristigen Interessen des Kapitals notwendig, oder umgekehrt: Das Kapital hat ein objektives Interesse daran, die Arbeitskräfte nicht zu Tode zu arbeiten. Demgegenüber stehen allerdings die kurzfristigen , sub-jektiven Interessen der Kapitalist_innen:

»Das Kapital (...) wird in seiner praktischen Bewegung durch die Aussicht auf zukünftige Verfaulung der Menschheit und schließlich doch unaufhaltsame Entvölkerung so wenig und so viel bestimmt als durch den möglichen Fall der Erde in die Sonne. (...) jeder hofft, daß es das Haupt seines Nächsten trifft, nachdem er selbst den Goldregen aufgefangen und in Sicherheit gebracht hat. Apres moi le deluge! [Nach uns die Sintflut!] ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation. Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird.« (ebd., 285)

Das Kapital muss also »durch die Gesellschaft« zu seinem Glück gezwungen werden, und zwar gegen seinen formulierten Willen. Wieso das?

»Die freie Konkurrenz macht die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion dem einzelnen Kapitalisten gegenüber als äußerliches Zwangsgesetz geltend.« (ebd., 286) Dass die individuellen Kapitalistjnnen gegen ihr Klasseninteresse handeln, liegt in der Natur einer Produktionsweise, in der das gesellschaftliche Mehrprodukt in Form des Mehrwerts privat angeeignet wird. Dies gilt gleichermaßen für die gesellschaftlichen Naturverhältnisse: Die Einzelkapitale fragen nicht danach, wie lange natürliche Rohstoffe noch zur Verfügung stehen oder wann der Klimawandel zur Überschwemmung der Kontinente führt. Für sie zählt allein der Profit, den sie hier und jetzt erzielen können.

Fazit: Die Konkurrenz unter den Kapitalistjnnen zeitigt Ergebnisse, die den Erfordernissen der Kapitalakkumulation entgegen stehen. Darin drückt sich ein Widerspruch aus, der deutlich macht, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht einfach als mechanisches System funktionieren kann. Die Widersprüche zwischen den kurzfristigen und den langfristigen Interessen des Kapitals, zwischen subjektivem Handeln und objektiven Interessen lassen sich immanent nicht aufheben. Sie lassen sich >lösen<, indem sie prozessierbar gemacht werden, bspw. durch Institutionalisierungen, in denen sie dauerhaft bearbeitet werden können. Diese Bewegung ist nie abgeschlossen, sondern muss ständig wieder neu vollzogen werden. An den Begriff von Gesellschaft wäre daher der Anspruch zu stellen, dass er auf solche Widersprüche reflektiert.

2.2 Widerstand der Arbeiter_innenklasse

Die permanente Ausdehnung des Arbeitstags mag für das Kapital noch so profitabel sein, aus der Perspektive der Arbeit wird sie unzumutbar, selbst wenn sie nicht immer gleich zum Tode führt. In den frühen Phasen der Industrialisierung geht es um nicht viel mehr als das nackte Überleben zu beschissenen Konditionen.

»Zum >Schutz< gegen die Schlange ihrer Qualen müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen.« (ebd., 320) Im Laufe des 19. Jahrhunderts häufen sich spontane Aufstände gegen das Kapital, die Arbeiterjnnenklasse beginnt, sich zu organisieren. Marx schreibt nicht viel von den Aktionen der Arbeiterinnen, weil das Kapital in diesen Prozessen die dynamische Kraft darstellt, und um deutlich zu machen, dass der Normalarbeitstag keineswegs aus humanistischen Gründen gewährt wurde. Zusammenfassend schreibt er: »Die Geschichte der Reglung des Arbeitstags in einigen Produktionsweisen, in andren der noch fortdauernde Kampf um diese Reglung, beweisen handgreiflich, daß der vereinzelte Arbeiter, der Arbeiter als >freier< Verkäufer seiner Arbeitskraft (...) widerstandslos unterliegt. Die Schöpfung eines Normalarbeitstags ist daher das Produkt eines langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkriegs zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse.« (ebd., 316) Vorläufiges Ergebnis dieser Kämpfe ist die gesetzliche Beschränkung der Länge des Arbeitstags durch den Staat.

Fazit: Erstens folgen die Aktionen der Arbeiterinnen offensichtlich nicht dem Konkurrenzprinzip, sondern sind im Gegenteil Ausdruck ihrer Solidarität. Damit ist nicht gesagt, dass es unter Arbeiterinnen keine Konkurrenz gäbe, aber unverkennbar gibt es Momente, die sich daraus nicht erklären lassen. Die Pauschalisierung von uG, mit der alles und jede_r unter die Konkurrenz subsumiert wird, ist daher falsch. Zweitens kämpfen die Arbeiterinnen nicht ums Ganze, sondern ganz eigennützig ums Überleben. Die Durchsetzung des Normalarbeitstags bedeutet letztlich eine Verlängerung ihrer Ketten, denn nach wie vor werden sie ausgebeutet. Zugespitzt lässt sich sogar formulieren, dass ihr Kampf den langfristigen Interessen des Kapitals dient. Andererseits gilt das nur in Grenzen, denn über einen bestimmten Punkt hinaus stellt die Forderung nach einem kürzeren Arbeitstag die Produktion von Mehrwert grundsätzlich in Frage.

2.3 Die Antwort des Kapitals

Mit der Einführung des gesetzlichen Normalarbeitstags fanden die Kämpfe um die Länge des Arbeitstags in England ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein vorläufiges Ende, weil dieser Status quo von allen Seiten als gültig anerkannt wurde. Für das Kapital hieß das, dass eine Steigerung des absoluten Mehrwerts vorerst aussichtslos geworden war. Was dagegen unverändert fortdauerte, war das Interesse an einer Erhöhung des Mehrwerts. Die Reaktion des Kapitals auf die neue Situation entwickelt Marx zunächst theoretisch als »Produktion des relativen Mehrwerts« (Marx 1890, 331-530): Durch Steigerung der Produktivkraft lassen sich Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzen. Einzelkapitale können kurzfristig Extraprofite erzielen, langfristig sinkt der Wert der Ware Arbeitskraft für alle Unternehmen. Die Schranke, die dem Kapital mit der Einführung des Normalarbeitstags gesetzt wird, wirkt somit als Triebkraft für die Entwicklung der Arbeitsproduktivität. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine rein technische Angelegenheit, denn auch dieser Prozess ist Ausdruck von Kämpfen: »Die Maschinerie wirkt jedoch nicht nur als übermächtiger Konkurrent, stets auf dem Sprung, den Lohnarbeiter >überflüssig< zu machen. Als ihm feindliche Potenz wird sie laut und tendenziell vom Kapital proklamiert und gehandhabt. Sie wird das machtvollste Kriegsmittel zur Niederschlagung der periodischen Arbeiteraufstände, strikes usw. wider die Autokratie des Kapitals. (...) Man könnte eine ganze Geschichte der Erfindungen seit 1830 schreiben, die bloß als Kriegsmittel des Kapitals wider Arbeiteremeuten ins Leben traten.« (ebd., 459) Mit der Ersetzung der widerspenstigen Arbeitskräfte durch Maschinerie, die bspw. zu Arbeitslosigkeit führt, ist aber nur eine Seite der Kämpfe bezeichnet. Viel tiefgreifender wirkt das, was Marx als die »ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände« (Marx/Engels 1848, 465) durch die Entwicklung der Produktivkräfte bezeichnet: »Die moderne Industrie betrachtet und behandelt die vorhandne Form eines Produktionsprozesses nie als definitiv. Ihre technische Basis ist daher revolutionär, während die aller früheren Produktionsweisen wesentlich konservativ war. Durch Maschinerie, chemische Prozesse und andre Methoden wälzt sie beständig mit der technischen Grundlage der Produktion die Funktionen der Arbeiter und die gesellschaftlichen Kombinationen des Arbeitsprozesses um. Sie revolutioniert damit ebenso beständig die Teilung der Arbeit im Innern der Gesellschaft und schleudert unaufhörlich Kapitalmassen und Arbeitermassen aus einem Produktionszweig in den andern.« (Marx 1890, 511) Dieses »Herumschleudern« bedeutet einen permanenten Bruch in der Reproduktion des täglichen Lebens die Arbeitskraft muss neu qualifiziert werden, neue industrielle Zentren entstehen, während gleichzeitig ganze Regionen veröden. Zum Prozess der Industrialisierung schreibt Edward P. Thompson: »Die Erfahrung der Verelendung kam in hundert verschiedenen Formen über sie: für den Landarbeiter als Verlust von Gemeinderechten und den Resten einer dörflichen Demokratie; für den Handwerker als Verlust seines beruflichen Status; für den Weber als Verlust von Einkommen und Unabhängigkeit; für das Kind als Verlust von Arbeit und Spiel zu Hause; für viele Arbeitergruppen, deren Reallöhne stiegen, als Verlust von Sicherheit und Freizeit, als Verschlechterung ihrer städtischen Umwelt.« (Thompson 1963, 476f.) Ganz allgemein geht es um eine Neubestimmung des gesellschaftlichen Gebrauchswerts. 6 Dies erfordert Anpassungsprozesse, die nicht nur institutioneilen Wandel und eine Restrukturierung gesellschaftlicher Organisationsabläufe nach sich ziehen, sondern tief ins Subjekt hineinreichen.

Auch diese kulturellen Brüche gehen nicht ohne Widerstände vor sich, deren Formen so vielfältig wie spontan sein können und sich oftmals nur sehr vermittelt auf Lohnarbeit beziehen. Der Weg vom fordistischen Massenarbeiter zur flexiblen Arbeitskraft-Unternehmerin wurde weder über Nacht bewerkstelligt, noch staatlich verordnet. Der Paradigmenwechsel vom Fordismus zum Postfordismus hat vielmehr die (Selbst-)Mobilisierung aller möglichen gesellschaftlichen Kräfte erfordert, die teilweise mit entgegengesetzten Intentionen zu seinem Gelingen beitrugen.

Fazit: Auch im Fall der Produktivkraftsteigerung spielt Konkurrenz eine wichtige Rolle, sie bildet das ursprüngliche Motiv - die individuelle Kapitalisten führt neue Produktionsmethoden ein, weil sie gegenüber den konkurrierenden Kapitalen einen Extramehrwert realisieren will. Dies führt mittelfristig zur Verallgemeinerung der Methode, womit der Extramehrwert flöten geht - der allgemeine Wert der Waren sinkt, damit auch der Wert der Ware Arbeitskraft. Hier verhält es sich also umgekehrt, wie bei der "werwolfsmäßigen Ausbeutung" der Arbeitskraft: Die egoistische, konkurrenzmotivierte Aktion des Einzelkapitals steht im Dienst der Kapitalistjnnenklasse als solcher, rückblickend betrachtet erfolgt die Antwort des Kapitals kollektiv.

3. Staat

Die oben vorgestellte Bewegung lässt sich schematisch verkürzt zusammenfassen: Das Kapital verlängert den Arbeitstag (ab soluter Mehrwert).

Die Arbeit wehrt sich dagegen.

Der Staat vermittelt.

Das Kapital steigert die Produktivkraft der Arbeit (relativer Mehrwert).

Die Arbeit wehrt sich dagegen.

Der Staat vermittelt.

Die Produktion des absoluten und die Produktion des relativen Mehrwerts bilden die zwei grundlegenden Modi des kapitalistischen Verwertungsprozesses. Was in dieser Darstellung aber chronologisch erscheint, ist in Wirklichkeit gleichzeitig am Werk. Für bestimmte Perioden werden relativ stabile Kompromisse bezüglich der Arbeitszeiten ausgehandelt, Methoden der Arbeitsorganisation verallgemeinern sich zu einem neuen Produktionsparadigma. Aber das Kapital bleibt immer auf dem Sprung, über kurz oder lang werden eingespielte Muster grundlegend in Frage gestellt und damit aufs Neue umkämpft. Das spezifische Terrain dieser Kämpfe bildet der bürgerliche Staat, seine Aufgaben und Funktionen erwachsen aus den Interessen, die sich in den Kämpfen formulieren. »Die Schöpfung eines Normalarbeitstags ist daher das Produkt eines langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkriegs zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse« (Marx 1890, 316) - sie ist nicht etwa Produkt des Akteurs >Staat< als einem Instrument der herrschenden Klasse, der das Kapital vor seinem Verderben rettet, vielmehr ist der Staat Ausdruck der historisch-spezifischen Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit. Allerdings gilt das nur vermittelt, der Staat kann kein glatter >Spiegel< der Verhältnisse sein, weil diese selbst widersprüchlich sind. So sind bspw. die Klassen in sich fraktioniert und gespalten und verfolgen keine homogenen Interessen. Die Darstellung solcher Widersprüche in staatlichen Apparaten und Institutionen bedeutet eine gebrochene Übersetzung, die nur mit Verzögerungen erfolgt und Ungleichzeitigkeiten beinhaltet. Weiterhin wirkt die politische Bearbeitung der Konflikte auf die Kräfteverhältnisse zurück, der Staat ist daher Teil dieser Verhältnisse und hat seine eigene Materialität. Die Konfliktlösungen sind offen, es gibt kein vorgegebenes Ziel, auf das zugesteuert werden könnte, und die Ergebnisse entsprechen selten dem, was intendiert war. In solchen Findungsprozessen wird der Staat selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzung und einem Wandel unterzogen. Dabei spielen Traditionen und Überlieferungen eine entscheidende Rolle, die konkrete Gestalt des Staats bleibt pfadabhängig, das institutionelle Gefüge ist träge. Andererseits erklärt sich aus dem kapitalistischen Verwertungsprozess, warum sich bestimmte Interessen immer wieder geltend machen. Nicos Poulantzas bezeichnet den Staat daher treffend als »materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse« (1978), Antonio Gramsci spricht vom ständigen »Sich-Bilden und Überwunden-Werden instabiler Gleichgewichte« (1932,1561) zwischen den Klasseninteressen.

Seine relative Autonomie gegenüber der Ökonomie erhält der bürgerliche Staat weiterhin aus den umfangreichen Aufgaben, die ihm aus den Kämpfen erwachsen. Diese haben ihren Grund nicht nur in den einschneidenden Veränderungen, die mit der Entwicklung der Produktivkräfte einhergehen (s.o.), auch bei den Auseinandersetzungen um die Länge des Arbeitstags geht es um Fragen, die über das Kapitalverhältnis hinausgehen. Wenn z.B. das Verbot von Nachtoder Kinderarbeit zur Disposition steht, dann geht es um messbare Festlegungen von >Zeit< und >Kindheit< Normierungen, die dem gebrauchswertorientierten Denken vorkapitalistischer Produktionsweisen völlig fremd sind. Sie gehen einher mit der Scheidung von öffentlicher und privater Sphäre, mit neuen Formen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung sowie mit der zunehmenden Trennung von Arbeit und Leben. Erforderlich wird damit eine besondere Subjektkonstitution, deren Organisation weitestgehend in den staatlichen Aufgabenbereich fällt. Subjekte lassen sich aber nicht einfach per Gesetz verordnen oder mittels Gewalt durchsetzen.

»In entwickelten kapitalistischen Ökonomien ist den Menschen ihr Dasein als Privateigentümer und Konkurrenten zu einer unhinterfragten Selbstverständlichkeit geworden.« (uG, 16) Die Frage, wie solche Selbstverständlichkeiten geworden sind und internalisiert wurden, interessiert uG offenbar nicht. Bspw. die Etablierung der Zeitdisziplin hat bereits einen jahrhundertelangen Prozess hinter sich, ehe sie mit der Einführung von Industriearbeit auch den Arbeiterinnen in der Fabrik abverlangt wird (vgl. Thompson 1967). Dort erfolgt die Züchtigung zwar zunächst mit Arbeitshaus und Peitsche, für eine kritische Theorie erklärungsbedürftig ist jedoch, weshalb die Arbeiterinnen schon einige Jahrzehnte später ihre Taschenuhr mit Stolz tragen. Gleichzeitig reicht das >Geworden<-sein nicht aus, denn sofern sich solche Selbstverständlichkeiten nicht in die Gene einschreiben, müssen sie ständig aufs Neue >werden<, d.h. gesellschaftlich produziert werden. Kein Mensch kommt auf die Welt mit einer Vorstellung von Pünktlichkeit oder Privateigentum, aber kein Mensch kann vernünftig leben, ohne deren Bedeutung anzuerkennen. 7 Umgekehrt bleiben Residuen alter Ordnungen in der Gegenwart hängen: Wieso z.B. ist der Sonntag immer noch heilig? Als arbeitsfreier Tag ist er vielleicht durchlöchert, aber bei den umfassenden Angriffen auf die Arbeitszeiten in den letzten 30 Jahren hat er sich ganz gut gehalten. Religion ist mehr als ein Geschenk Gottes in Form frommer Arbeitskräfte, an bestimmten Punkten wird sie dysfunktional. Der ökonomistische Funktionalismus von uG, der davon ausgeht, dass in solchen Fällen eine einfache staatliche Anpassung möglich ist, unterschätzt nicht nur den Starrsinn solcher Praxis (es geht um Glauben und Identität); er verkennt auch, dass die Stellung, die u.a. Religion in einer Gesellschaftsformation einnimmt, in die konkrete Struktur des Staats und seiner Apparate eingeschrieben ist.

4. Klassenkampf

Der exzessive Gebrauch der Begriffe >Klasse< und >Kampf< in diesem Text begründet sich in deren mangelnder Behandlung bei uG. Da ihnen etwas Anachronistisches anhaftet, im Folgenden einige Klärungen.

4.1 Kämpfe

Der Begriff des Kampfs ist nicht militärisch zu verstehen. Kämpfe können historisch sehr unterschiedliche Formen annehmen, von denen die meisten nichts mit der romantischen Vorstellung brennender Barrikaden zu tun haben. Bereits die Unterschrift unter einen Arbeitsvertrag stellt eine Form von Kampf dar, weil damit die gegenwärtigen und vergangenen Klassenverhältnisse, die sich im Vertrag ausdrücken, anerkannt werden. Individuelle Arbeitsverweigerungen wie Zigarettenpausen auf dem Klo, Krankmeldungen oder die Produktion von Haushaltsbedarf während der Arbeitszeit sind in dieser Betrachtungsweise genauso als Kämpfe zu verstehen wie die gewerkschaftliche Hinnahme von Lohnkürzungen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, beide Seiten - Arbeit und Kapital - als aktive zu betrachten: Klassen beziehen sich relational aufeinander und bilden ein Kräfteverhältnis. Der Zwang zur permanenten Verwertung des Werts versetzt das Kapital immer wieder in Angriffspositionen und verleiht dem Klassenantagonismus seine Wirksamkeit.

Nicht geführte Kämpfe sind daher aus Perspektive der Arbeit immer verlorene.

4.2 Klasse

Der Begriff der Klasse klingt antiquiert, zumal wir gegenwärtig keine verelendeten Massen mehr vor Augen haben - wenigstens nicht unmittelbar vor der Haustür, wie dies im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch der Fall war.

Gegen bürgerliche Theorien würde ich ihn dennoch stark machen, zunächst als abstrakte Strukturkategorie: Produktion und Distribution des gesellschaftlichen Mehrprodukts basieren nach wie vor auf Ungleichheit, und >Klasse< ist ein Werkzeug, um diesen »Kampf um das Surplusprodukt« (Jürgen Ritsert) theoretisch bearbeiten zu können.

Es ist eine der großen Leistungen der bürgerlichen Gesellschaft, den Begriff der Klasse seiner traditionellen feudalen und religiösen Begründungen entkleidet zu haben. Der Bruch, den die Erfindung der Individualität für das Denken und Handeln der Menschen bedeutet, ist so fundamental, dass es bis tief ins 20. Jahrhundert dauerte, die abstrakte Vorstellung freier und gleicher Individuen in westlichen Gesellschaften auch formalrechtlich durchzusetzen. Heute geht kein Kind mehr davon aus, dass es qua Geburt unverbrüchlicher Teil einer häuslichen Gemeinschaft sei, 8 die Trennung von Privatem und Öffentlichem wird bereits mit der Muttermilch verabreicht. 9 Das ist die eine Seite der »doppelten Freiheit« der Lohnarbeiter_innen, von der Marx spricht: »Der unmittelbare Produzent, der Arbeiter, konnte erst dann über seine Person verfügen, nachdem er aufgehört hatte, an die Scholle gefesselt und einer andern Person leibeigen oder hörig zu sein.« (Marx 1890, 743) Der Preis dieser Emanzipation von der traditionalen Gemeinschaft ist aber nicht nur der Verlust der Verfügung über die Produktionsmittel, sondern auch die Versachlichung von Herrschaft, in der Klasse als gesellschaftliche Ordnungskategorie obsolet zu werden scheint: »Theres nothing more unequal than the equal treatment of the unequal.« (Harvey 2007) Auch in wertformanalytisch inspirierten Abstraktionen wird oftmals unterbelichtet, dass es beim Warentausch zwischen den abstrakt Gleichen nicht um irgendwelche Waren geht. Wesentlich geht es um die Ware Arbeitskraft, um den »Kauf und Verkauf von Arbeitskraft« (Marx 1890, 609), im Zentrum steht die Entdeckung des Mehrwerts: kein Kapital ohne Ausbeutung, kein Markt ohne Arbeitsmarkt, kein prozessierender Wert, kein automatisches Subjekt ohne Mehrwert.

»Ursprünglich erschien uns das Eigentumsrecht gegründet auf eigene Arbeit. Wenigstens mußte diese Annahme gelten, da sich nur gleichberechtigte Warenbesitzer gegenüberstehn, das Mittel zur Aneignung fremder Ware aber nur die Veräußerung der eignen Ware, und letztere nur durch Arbeit herstellbar ist. Eigentum erscheint jetzt auf Seite des Kapitalisten als das Recht, fremde unbezahlte Arbeit oder ihr Produkt, auf Seite des Arbeiters als Unmöglichkeit, sich sein eignes Produkt anzueignen. Die Scheidung zwischen Eigentum und Arbeit wird zur notwendigen Konsequenz eines Gesetzes, das scheinbar von ihrer Identität ausging.« (ebd., 609f.) Schwieriger ist es, die abstrakte Bestimmung des Klassenantagonismus in der konkreten Wirklichkeit dingfest zu machen. Es gibt mehr als die beiden Klassen Bourgeoisie und Proletariat, von denen bisher die Rede war, aber selbst deren Bestimmung ist nicht einfach. Streng genommen ergibt sie sich aus dem Eigentum bzw. Nichteigentum an Produktionsmitteln. Das lässt sich gegenwärtig aber nicht mehr ohne weiteres halten, da das Kapital sich bspw. in Form von Aktiengesellschaften organisiert, in denen auch hochdotierte Managerinnen nicht unmittelbar über Produktionsmittel verfügen. Das verweist auf grundsätzliche Schwierigkeiten, die sich für empirische Untersuchungen ergeben. 10 Dennoch würde ich die These vertreten, dass einige Klassenlagen so fix und unverrückbar sind wie Geschlecht oder Hautfarbe auch.

»Hättest Du (...) eine bürgerliche Erziehung gehabt, so brächtest du auch die Gewißheit mit, daß alles, was auf dich zukommt, dich angeht und deine Meinung herausfordert. Du könntest, wohin es dich auch verschlagen würde, mit aller Selbstverständlichkeit jede Situation für dich in Anspruch nehmen. Statt dessen trägst du nach wie vor an der Erfahrung deiner Unterlegenheit, du glaubst, es wolle dich keiner anhören, du bist dir nicht sicher, wie sich deine Studien verwenden, zum Ausdruck bringen lassen sollen.« (Weiss 1975, 270)

4.3 Klassenkampf

Im >Kommunistischen Manifest< schreibt Marx, die Geschichte sei die Geschichte von Klassenkämpfen. Mit den Ausführungen von oben habe ich deutlich zu machen versucht, dass eine materialistische Theorie auch heute nicht auf den Begriff von Klasse und Klassenkampf verzichten kann. Andererseits kann der marxsche Satz nicht unwidersprochen stehen bleiben: Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen, aber sie ist auch die Geschichte einiger anderer Kämpfe. Im Folgenden versuche ich, das an einer historischen Bewegung aus der jüngeren Geschichte deutlich zu machen.

Der instituionalisierte Klassenkompromiss der fordistischen Gesellschaftsformation beinhaltete die korporatistische, ritualisierte Aushandlung von Tarifverträgen zwischen Gewerkschaften, Unternehmen und Staat. 11 Die Schranke, die sich aus dieser Konstellation für das Kapital ergab, wurde spätestens mit dem Ende des »kurzen Traums von der immerwährenden Prosperität« (Burkhard Lutz) Anfang der 1970er Jahre deutlich.

»Die fordistische, sozialstaatlich-keynesianische Regulationsweise, die über Jahre hinweg eine Stütze der Kapitalakkumulation dargestellt hatte, wurde damit zu deren Hemmnis (...). Die enge Verbindung von Massenkonsum, Sozialstaat und Akkumulation, die das >goldene Zeitalter des Fordismus gekennzeichnet hatte, zerbrach.« (Hirsch 2002, 94) Das Kapital kündigte den Kompromiss auf, weil das auf Wachstum und intensiver Akkumulation 12 beruhende Produktionsparadigma an seine Grenzen gekommen war. Wie aber erfolgte diese Aufkündigung? Eine Strategie bildete die verstärkte Internationalisierung der Produktion. Da aber die industriellen Zentren nach wie vor ihre Bedeutung behielten, wurde hier eine umfassende Restrukturierung der gesellschaftlichen Beziehungen notwendig. Der Staat war nur bedingt in der Lage, regulierend Einfluss zu nehmen, denn die keynesianischen Steuerungsinstrumente griffen nicht mehr und in seinem institutionellen Aufbau war er selbst Teil des Problems. Die Organisationen der Arbeiter_innenklasse, so zahm und selektiv sie auch gewesen sein mögen, waren stark:

»Die Jahre 1968-71 waren in [Frankreich, Italien, Großbritannien und der BRD] die streikreichsten und für zahlreiche Lohnarbeiter auch materiell erfolgreichsten der Nachkriegszeit.« (Goldschmidt 2008, 858) In dieser Gemengelage gab es zwar eine Vielzahl von Interessen, die zur Verwirklichung drängten, aber keine_r der Akteurjnnen kannte den genauen Weg in die Zukunft. Aus heutiger Sicht hingegen lassen sich bestimmte Entwicklungen nachzeichnen. Eine entscheidende und für den Umbruch in die neoliberale Periode typische war die Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse, zu deren Durchsetzung die Starre der fordistischen Formation überwunden werden musste. Hier kam Hilfe von ungeahnter Seite: Der Bruch mit dem Normalarbeitsverhältnis erfolgte zum einen durch die Frauenbewegung und die Kritik der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, zum anderen durch die studentisch geprägten 1968er, die nicht bereit waren, den Lebensentwurf >von der Wiege bis zum Grab< zu teilen. Gleichzeitig wurde mit der Reorganisation der Produktionsprozesse, der wachsenden Bedeutung des Dienstleistungssektors und der Zunahme von Arbeitslosigkeit die niedriger entlohnte (Teilzeit-)Arbeit dieser Gruppen stärker nachgefragt. Aber kein_e Kapitalistjn hätte im Zuge von 1968 auch nur daran gedacht, dass hier für ihre Interessen gestritten würde, und kein_e Staatsdiener_in, dass darin ein Potenzial zur Bewältigung der Krise läge. Und nicht einmal entfernt lag dies in der Absicht von Frauen und 68ern, die sich explizit als antikapitalistisch, antipatriarchal und antietatistisch verstanden.

Das Beispiel zeigt: Erstens können Kämpfe für das Kapitalverhältnis relevant werden, auch wenn sie sich nicht unmittelbar darauf beziehen. 13 Zweitens lohnt es sich nicht, auf das vermeintliche Paradies zu warten (das mit der Aufhebung des sogenannten Hauptwiderspruchs versprochen wird), wenn >Befreiung< auch im Hier und Jetzt schon zu haben ist. 14 Drittens zeigen diese Kämpfe, worin Kämpfe bisher noch immer mündeten, wenn sie gesellschaftlich relevant wurden: Sie fügen sich in staatliche Institutionen, werden Teil neuer Kräfteverhältnisse, die sich im Staat verdichten. 15 Viertens lässt sich diese geschichtliche Bewegung nicht verstehen ohne einen Begriff von Kampf, den es theoretisch zu konzeptualisieren gilt - gerade, wenn es um politische Praxis geht.

5. Ums Ganze?

Konkurrenz ist ein bürgerliches Prinzip, das zweifellos Motiv und Triebkraft vieler Handlungen bildet. Die Geschichte des Kapitalismus ist aber auch die Geschichte einer Vergesellschaftung, die von feudalen Fesseln befreit, sie ist auch die Geschichte einer komplexen gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die »Kooperation« (vgl. Marx 1890, Kapitel 11) erfordert. Und die Kapitalist_innen mögen sich in ihren Geschäften noch so feindlich gegenüber stehen, in ihrer Klassenposition stehen sie geschlossen gegen das Proletariat. Marx hat sie daher auch »feindliche Brüder« (1894, 263) genannt. Wer nur dem »Schein der Konkurrenz« (vgl. ebd., Kapitel 25) folgt und Geschichte nicht als widersprüchliche Bewegung begreift, wird praktisch in Donquichotterien enden.

Den Begriff des Klassenkampfs habe ich stark gemacht, weil er in den theoretischen Begründungen des bürgerlichen Staats von uG eine Leerstelle bildet. Der Klassenantagonismus ist eine abstrakte, strukturelle Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise, die sich konkret in Klas-senkämpfen ausdrückt, die wiederum zu historisch-spezifischen Kräfteverhältnissen führen. Darin steckt keine Wertung. Dem Kapital gegenüber nehme ich den Klassenstandpunkt des Proletariats ein, aber einen schwulen Kapitalisten würde ich gegen einen homophoben Arbeiter verteidigen. Die Wahrheit ist immer konkret. Es läge mir daher auch fern, im Proletariat sowas wie ein revolutionäres Subjekt zu sehen.

Die >blinden Fleckem, die sich aus der marxschen Analyse ergeben, hat die Geschichte mit den Kämpfen gegen patriarchale Herrschaft, rassistische Diskriminierung, koloniale Ausbeutung usw. selbst aufgedeckt. Hinter die Trias von race, dass und gender kann deshalb kein Ansatz zurückgehen, der mit dem Anspruch umfassender gesellschaftlicher Emanzipation auftritt.

Den Staat begreift uG nicht als ein umfassendes gesellschaftliches Verhältnis, sondern als notwendige Funktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Es fehlt die Einsicht, dass sich die komplexen ideologischen, politischen und ökonomischen Verschränkungen nicht auf eine einzige Ursache zurückführen lassen. Vor allem fehlt jeder Begriff von Ideologie, der über eine staatlich manipulierte Gehirnprothese hinausgeht: uG konstruiert einen >bösen< Kapitalismus, der von >außen< kritisiert und angegriffen wird. Die Wirklichkeit ist aber viel schwärzer, als uG das denken kann: »Wenn wir äußern, daß die Erde rund ist und sich um sich selbst dreht, dann bestätigen wir damit, daß es Besitzende und Besitzlose gibt. Nennen wir Grundsätze der physikalischen Ordnungen, so hängt daran die Arbeitsteilung in Ausübende und Eintreiber, die so alt ist wie die Wissenschaft.« (Weiss 1975, 41) Unser Denken und Handeln ist so sehr in die Verhältnisse verstrickt, dass die Behauptung eines Standpunkts außerhalb selbst ideologisch ist. Ein Prozess der Organisierung kommt um solche Auseinandersetzungen nicht herum, denn dieser wird zwangsläufig auf die eine oder andere Art und Weise Herrschaft reproduzieren. Dass es kein richtiges Leben im falschen gibt, kann dabei keine Entschuldigung sein, vielmehr wäre die Frage nach dem Verhältnis von Spontaneität und Organisation ernsthaft und immer wieder neu zu stellen.

Der Bezugspunkt der Emanzipation von Herrschaft liegtin der Geschichte und den Kämpfen, die dort geführt wur-den. uG schafft es aber nicht einmal, die relativ bescheide-nen Erfolge der jüngsten Vergangenheit aufzugreifen ('s. FN 1 in uG sowie die Kommentare von Bong und Mello indiesem Heft).

»Staat, Kapital und »Weltmarke bilden ein konfliktträchtiges System gesellschaftlicher Herrschaft. Es manifestiert sich in jeder Alltagssituation, und lässt sich doch nur als Ganzes bekämpfen. Andernfalls verliert sich Politik in naivem Aktionismus. Wer sich nur um vermeintlich konkrete Problemlagen kümmern will, verfehlt meist deren Entstehungszusammenhang in der staatlich vermittelten kapitalistischen Konkurrenz. In herrschaftskritischer Perspektive sind meist sämtliche Alternativen pragmatischer Politik gleichermaßen falsch. Pragmatismus und Dummheit gehen in der bürgerlichen Welt ineinander über.« (uG, 18) Diese Position ist zynisch, arrogant und dumm. Jede politische Aktion, jeder soziale Kampf kann nicht anders als konkret sein, geht aus konkreten Herrschaftsverhältnissen hervor und wird sich in konkreten Forderungen darauf beziehen. Die Formulierung und politische Organisierung von Partikularinteressen kann dabei Prozesse zu einer Selbstverständigung in allgemeinen Fragen anregen. Eine Vielzahl solcher Kämpfe in Verbindung zueinander hätte möglicherweise die Chance, den gegenwärtigen Formen von Herrschaft, Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende zu bereiten. Aber schon die Annahme, dass eine solche Revolution sich nur im Weltmaßstab verwirklichen ließe, macht deutlich, mit welchen Ungleichzeitigkeiten ihr Vollzug konfrontiert wäre. Es wird immer wieder der »konkreten Analyse der konkreten Situation« (Lenin) bedürfen, um in raumzeitlich unterschiedlichen Konstellationen die Hebel zu finden, die das Ganze bedeuten.

uG stellt sich außerhalb und verliert damit, was es theoretisch zu gewinnen gälte: den Wi-derspruch in die Perspektive zu nehmen und damit nicht nur politische Naivität zu enttäuschen, sondern Erfahrungen zu ermöglichen, die das vorläufige Scheitern nicht als Niederlage begreifen, sondern als Anknüpfungspunkt für neue Kämpfe. Utopien gilt es dabei im Kopf zu behalten. Die Hauptwiderspruchsrhetorik mit der abstrakten Forderung nach einer >Zerschlagung< des »Kapitalismus« bleibt blind für wirkliche Veränderung.

Charly Außerhalb

//_noten

#1 Da sich die folgenden Ausführungen fast ausnahmlos auf die marxsche Theorie beziehen, habe ich Begriffe aus anderen Kontexten nicht abgefragt. Für den gesamten Text gilt: Wertform = 0, Fetisch = 0, Verdinglichung = 0, Konkurrenz = 205.

#2 Die Akteure haben »kein eigenes Interesse« an der Konkurrenz, sondern - »im Gegenteil« - »ein notwendiges Interesse« am Konkurrenzerfolg. Das ist Unsinn.

#3 Eine Erklärung, weshalb die Akteure »notwendig« danach streben, ihre »Gegner« mit »allen verfügbaren Mitteln« nieder zu konkurrieren, fehlt. Die »Logik« des »kapitalistischen Verdrängungswettbewerbs« könnte demzufolge auch der menschlichen Natur entspringen. Der Mensch ist des Menschen Wolf (Hobbes)? Aufgabe einer materialistischen Theorie wäre doch gerade, zu klären, warum das »Recht der/des Stärkeren« nicht gilt.

#4 Dieser eine Satz ist tatsächlich die ganze >theoretische< Begründung für den bürgerlichen Staat - in einer Broschüre, die diesen zum Thema hat. Selten habe ich drei Generalvorwürfe innermarxistischer Debatten treffender gefunden: verkürzt, ökonomistisch, funktionalistisch.

#5 Erst wird aus der Tendenz zu Gewalt und Betrug der Staat und seine Funktion abgeleitet, dann dient die »zentrale Funktion des Staates« als Nachweis der Tendenz zu Gewalt und Betrug...

#6 Grundsätzlich bedeutet die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte qualitative Veränderungen. Die Umstellung von Dampfkraft auf Dieselmotoren zieht nicht nur die Umstellung von Kohle auf Öl nach sich, sondern u.a. auch die Erfindung des Automobils - neue Infrastrukturen durchdringen die Städte und das Leben der Menschen. Der Gebrauchswert wandelt sich, die Warenform bleibt.

#7 Eine in diesem Zusammenhang zu klärende Frage wäre, weshalb Milliarden von Menschen die ganze Scheiße alltäglich reproduzieren interessant vor allem, wenn es um revolutionäre Veränderung gehen soll. Das erforderte allerdings einen Begriff von Ideologie als materieller Praxis und käme um eine Auseinandersetzung mit Subjektkonstitution nicht herum. Dass Kapitalismus "funktioniert", sieht selbst die dümmste Kartoffel.

#8 Genau genommen gab es im Mittelalter überhaupt keine Kinder, sondern nur >kleine< Erwachsene (vgl. Aries 1960).

#9 >Muttermilch< impliziert schon die merkwürdige, aber wirkmächtige Vorstellung, dass die >biologische< und >private< Mutter allein für die Kinderaufzucht verantwortlich sei (die Milchflasche macht hier nicht den Unterschied). Im Gegensatz zu Klasse bleiben andere Ordnungskategorien wie Geschlecht oder >Rasse< auch nach der großen Transformation noch an Geburt gebunden.

#10 Einen guten allgemeinen Ansatz zur Bestimmung von Klassenlagen liefert Ritsert mit der »Stellung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess« (1988, 81ff.).

#11 Von der Linken wurde dieser Deal aus verschiedenen Gründen kritisiert: Einerseits blieb der kapitalistische Verwertungsprozess unangetastet, die Arbeiter_innenklasse ließ sich >sozialpartnerschaftlich< mit kleinen Konsumkuchen abspeisen. Gleichzeitig hatte das fordistische Normalarbeitsverhältnis die Gratisarbeit von >Hausfrauen< wie die Niedriglohnarbeit von Migrantjnnen zur Grundlage. Schließlich blieb es ein privilegiertes Modell westlicher Industrienationen, das mit der Ausbeutung des Trikonts konnte.

#12 Der Begriff stammt aus der französischen Regulationstheorie und bezeichnet Akkumulationsprozesse, die vorwiegend auf qualitativen Entwicklungen beruhen; von extensiver Akkumulation wird dagegen gesprochen, wenn Expansionen typischerweise quantitativ erfolgen und Produktionstechniken unverändert bleiben (vgl. Lipietz 1985, 119ff.).

#13 Das Beispiel mag insofern schlecht erscheinen, als diese Kämpfe aus der Klassenperspektive v.a. negativen Ausdruck gefunden haben. Es hätte aber auch anders kommen können...

#14 Damit soll nicht gesagt sein, dass patriarchale Unterdrückung überwunden sei, aber gegenüber den reaktionären Frauenbildern Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es deutlich befreiende Momente.

#15 Das heißt nicht, dass Form oder Inhalt der Kämpfe falsch waren. Sie entfalteten ebenso emanzipative Potenziale und stellen praktische und theoretische Erfahrungen zur Verfügung, an die sich anknüpfen lässt. Eine wesentliche davon ist, dass es keinen Kampf jenseits der Kräfteverhältnisse gibt.

//_texte

"...ums Ganze" (2009), Staat, Weltmarkt und die Herrschaft der falschen Freiheit. Zur Kritik des kapitalistischen Normalvollzugs, ohne Ort

Aries, Philippe (1960): Geschichte der Kindheit, München 2000

Goldschmidt, Werner (2008): Klassenkampf, Artikel in: Historisch Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 7/1, Hamburg 2008

Gramsci, Antonio (1932), Gefängnishefte, Bd. 7, Hamburg/ Berlin 1996

Harvey, David (2007), Reading Marx's Capital with David Harvey, Class 12, online unter: http://davidharvey.org/reading-capital

Hirsch, Joachim (2002): Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen, Hamburg

Lipietz, Alain (1985): Akkumulation, Krisen und Auswege aus der Krise: Einige methodische Überlegungen zum Begriff >Regulation<, in: Prokla. Zeitschrift für politische Ökonomie und sozialistische Politik, Nr. 58, S. 109-137

Lutz, Burkart (1984): Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt

Marx, Karl (1890): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, in: MEW 23, Berlin 1979

Marx, Karl (1894): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Dritter Band, in: MEW 25, Berlin 1983

Marx, Karl/ Friedrich Engels (1848): Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW 4, Berlin 1977

Poulantzas, Nicos (1978): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus, Hamburg 2002

Ritsert, Jürgen (1988): Der Kampf um das Surplusprodukt. Einführung in den klassischen Klassenbegriff, Frankfurt

Thompson, Edward P. (1963): Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Erster Band, Frankfurt 1987

Thompson, Edward P. (1967): Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, in: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt/ Berlin/ Wien 1980

Weiss, Peter (1975): Die Ästhetik des Widerstands, Erster Band, Berlin 1989