Wandernde Gespenster
Vom Gespenstischen zu schreiben, wenn es um soziale Phänomene geht, ist nicht unbedingt neu. Es lässt sich fast schon sagen, dass es einen Hype dieser Metapher gibt, und möglicherweise sind die Gespenster der Gegenwart deshalb so beliebt, weil sie die Gespenster der jüngeren Vergangenheit rezitieren. Das berühmtberüchtigtste Gespenst der Geschichte ist zweifellos das Gespenst des Kommunismus, das vor fast hundertsechzig jahren den europäischen Kontinent heimsuchte und von Marx und Engels identifiziert wurde.
Nun hat sich inzwischen das Gespenst zwar von seinem teleologisch-historischen Träger, dem Proletariat und der kommunistischen Bewegung gelöst, das heißt aber noch nicht, dass die unheimlich-gespenstische Heimsuchung an ihrem Ende angelangt ist. Seitdem Jacques Derrida auf die unvorhersehbare Wiederkehr von Marx' Gespenstern in ihren rastlosen Gerechtigkeitsansprüchen hingewiesen hat, ist die Metapher der Gespenster wieder ein verbreitetes rhetorisches Mittel, um die vielfältigen schwer (be)greifbaren, nicht-identischen Phänomenen und Widersprüche der Gegenwart zu beschreiben. Mit den »Gespenstern der Migration« ist nun eine genealogischen Untersuchung der illegalen Migration in der Bundesrepublik Deutschland erschienen, die berechtigterweise mit der Metapher spielt, da der Migration tatsächlich etwas Gespenstisches anhaftet.
Die Untersuchung ist angelegt als Genealogie, also als Rekonstruktion des Macht-Wissens-Komplexes, welcher den Gegenstand Migration und ihre Entwicklungspfade konstituiert. Spezifisch an ihr ist die gelungene theoretische Erweiterung und Akzentuierung der Genealogie um die Pole Gouvernementalität und kritisch-materialistische Staatstheorie. Ersteres ist hauptsächlich den Vorlesungen von Michel Foucault vom Ende der 1970er Jahre entlehnt, letzteres den Arbeiten von Nicos Poulantzas.
Was die erweiterte Genealogie überzeugend und anschaulich aufzeigen kann, ist, dass bei Migration weit mehr auf dem Spiel steht als die bloß formale Regulierung des Zuzugs von Personen. Im Dispositiv der Migration verdichten sich die gesamtgesellschaftlich relevanten Widersprüche und Konfliktlinien, die für nationalstaatlich formierte Gesellschaften des Spätkapitaismus kennzeichnend sind. Migration destabilisiert generell die Konstruktion des Sozialen der kapitalistischen Moderne, weil diese nationalstaatlich verfasst ist und ideologisch auf der Sesshaftigkeit eines »Volks-alsNation« aufbaut. Im Gegensatz zum Mainstream der Migrationsforschung wird damit einem >naiven< Staatsverständnis vorgebeugt, welches dem Staat entweder die Rolle eines einheitlichen Subjekts oder eines Instruments zuweist. Beides ist aber defizitär, wenn die widersprüchlichen Handlungen von staatlichen Akteuren und Institutionen analysiert und erklärt werden solen. Bezogen auf die Migration stehen die MainstreamPositionen vor dem Problem das Paradox zu erklären, warum der staatliche Akteur einerseits illegale Migration verbietet, sie andererseits aber durch seine Kontrollpraxis und seine Macht zur Rechtsetzung erst schafft. Eine staatstheoretische Perspektive, welche wie hier ihren Gegenstand als materielle Verdichtung eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses konzipiert, kann diese Widersprüchlichkeit erfassen und erklären.
Die Genealogie zeigt, dass die illegale Migration zunehmend zur omnipräsenten Figur das gesellschaftlich bestimmten Anderen wird. Da die Grundlage des Sozialen des Spätkapitalismus in der Territorialisierung und sozialstaatlichen Integration der Bevölkerung und des darin schlummernden produktiven Potenzials iegt, ist transnationale Mobilität per se problematisch für die soziale Ordnung und somit kontroll- und regulierungsbedürftig. Das Gespenst der Arbeiterklasse konnte dadurch eingebunden werden, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts soziale Konflikte als Auseinandersetzungen um soziale Rechte kodifiziert wurden. Die länderüberschreitende Migration stellt die eh schon fragile Einbindung der Arbeiterjnnen als Arbeiter-Bürgerjnnen aber in Frage. Die national-sozialstaatliche Integration der Arbeiterjnnenklasse basiert auf der impliziten Akzeptanz der Exklusion aller Nicht-Staatbürgerjnnen. Die Gewährung sozialer Rechte auf nationaler Ebene für die einen, schließt die der anderen aus. Daher die gespenstische Grenzerscheinung der Migration: zwischen gesetzlichem Verbot und ökonomischem Bedarf, zivilgesellschaftlichen Unerwünschtem und Bereicherung.
Gastarbeiter, Asylbewerber, Illegaler - Figurender Migration
Bereits in der Figur des Gastarbeiters, die die erste bundesdeutsche Migrationsära nach dem zweiten Weltkrieg bestimmte, sind diese zwiespältigen, widersprüchlichen Zuschreibungen artikuliert. Denn eingerichtet wurde die Gastarbeiteranwerbung Anfang der 1950er Jahre, um den gewachsenen ökonomischen Bedarf nach billigen Arbeitskräften zu decken. Sehr bald zeigte sich aber, dass die Gastarbeiteranwerbung sich der politischen Kontrolle und Regulation in einem gewissen Maß entzog. Das Gastarbeiterregime wurde Mitte der 1970er jahre abgelöst vom Asylregime. Dem Anwerbestopp 1973, der migrationspolitisch das Ende der Gastarbeiterära besiegelte, gingen aber bereits eine Reihe von widersprüchlichen Regulationsbemühungen voraus. Sie zeigten auf, dass das Ziel des temporären Zuzugs zur industriellen Nutzung der Arbeitskraft, die von den politischen Entscheidungsträgern mit der Anwerbung definiert waren, nicht der komplexen Realität der Gastarbeitermigration entsprach. Da eine Mischung disparater Techniken und Akteure zunehmend das Feld bestimmten, wies der Migrationsdiskurs, der bis dahin durch die Figur das Gastarbeiters orchestriert war, bereits deutliche Brüche auf.
Darauffolgend war das Migrationsregime zunächst bestimmt durch das Motiv des Asyls. Die ökonomischen Kontexte des Gastarbeiterregimes werden zwar übernommen und Arbeitsmigration fand nun in erster Linie vermittels des politischen Asyls statt. Gleichzeitig verschob sich das diskursive Terrain des nationalen Sozialstaats hin zu der Terminologie der Menschenrechte. Mit der faktischen Abschaffung des Rechts auf Asyl durch die politische und gesellschaftliche Mitte im Jahr 1993, die bekanntermaßen begleitet war von einer Reihe von rassistischen Pogromen, Ausschreitungen und Übergriffen, wurde die illegale Migration zur zentralen Achse des Migrationsdiskurses. Seitdem ist auch das Bild der »Festung Europa« das zentrale Element, welches den Diskurs über das bundesdeutsche Migrationsregime, das nun zunehmend in die Europäisierung der Migration integriert ist, kennzeichnet. Es wird gleichermaßen geteilt von den politischen Entscheidungsträgern, die das europäische Kerngebiet von der als Bedrohung empfundenen Migration abschotten wollen, als auch von der antirassistischen Linken, die die Politik der Exklusion unter Bezug auf unveräußerliche Menschenrechte kritisiert Was der Fokus auf die Verhinderung von Migration in das europäische Kerngebiet allerdings übersieht, ist die tatsächlich facettenreiche Regierung und Kontrolle von Migrationsbewegungen, die die Migrationsregime in Europa und insbesondere in der Bundesrepublik kennzeichnen. Foucaultianisch formuliert kann der >klassischen< Perspektive vorgeworfen werden, dass ihr souveränistisches Machtkonzept den Blick auf die positive, generierende Seite des Migrationsregimes versperrt. Diese mit in den Blick zu nehmen und das eigenständige Gewicht migrantischer Praxis zu thematisieren, hebt die »Gespenster der Migration« von der politischen und der wissenschaftlichen Mitte deutlich ab Anders als Marx' Gespenster spuken die Gespenster der Migration politisch zwar intentionslos. Aber sie spuken. Oder wie es die Einleitung schön formuliert: »Gerade weil die Migration eine soziale Bewegung ohne politisches Programm ist, generiert sie beständig neue Formen des Sozialen«. Das darf nicht missverstanden werden als Plädoyer gegen die Politisierung der migrantischen Bewegung. Es spricht sich aber ausdrücklich gegen die projektive Hoffnung aus, ihr die Aufgabe oder Rolle eines emanzipatorischen politischen Subjekts zuzuschreiben. Gleichermaßen wie sie sich in letzter Instanz der politischen Kontrolle und Regulation der Herrschenden entzieht, lässt sich migrantische Praxis auch nicht von der Linken domestizieren Oliver Schupp //
_txt Serhat Karakayali: Gespenster der Migration. Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland, transcript Verlag, Bielefeld 2008 .