Meine kleine, persönliche Krise des Kapitalismus
Die ersten Nachrichten von der aktuellen Finanzkrise gingen noch an mir vorbei. Ich hab das gar nicht ernst genommen, und dachte, dass da in ein paar Wochen niemand mehr drüber redet, wie über den Börsencrash in Japan oder das Platzen der dot.com-Blase. Dann kamen diese krassen Fernsehberichte über die riesigen Summen, die die Regierung den Banken zur Verfügung stellt, ob nun als reales oder fiktives Geld. Irgendwie echt drastisch, hab ich so gedacht. Und dann wieder, mit meinen rudimentären Marx-Kenntnissen, na klar, der Kapitalismus ist eben krisenhaft, passiert halt manchmal. Dann kamen die ganzen TagespresseArtikel, die das Schreckgespenst des Sozialismus an die Wand malen und fast gebetsmühlenartig sagten, dass man doch jetzt bitte nicht den Glauben an den Markt verlieren solle. Der werde schon wieder.
Und was, dachte ich mir so, sollen wir jetzt bitteschön tun? Ist das nicht ein historisch einmaliger Moment, in der Anne Will-Show die Abschaffung des Kapitalismus zu fordern? Das müsste doch unmittelbar einleuchten, und: Was sollten sie denn dagegensetzen? Die Enttäuschung und Wut der so genannten kleinen Frau müsste doch außerordentlich sein, wenn sie von Hartz IV lebt und sieht, wie plötzlich Milliarden locker gemacht werden, die angeblich nicht da waren, als es um die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ging. Ich meine, das ist ja auch ein Skandal, darauf hinzuweisen klingt aber ganz schön populistisch. Obwohl, so ein Rettungspaket für ein besseres Leben, warum nicht?
Aber es blieb doch insgesamt sehr ruhig in der Radikalen Linken. Die Tür zur Abschaffung des Kapitalismus hatte sich meiner Ansicht nach aufgetan, und Keine_R nimmt die Klinke in die Hand. Schockstarre, Ratlosigkeit, das Gefühl von Ohnmacht, aber auch reale (Existenz-)Ängste. Denn was passiert, wenn am Geldautomat plötzlich nichts mehr rauskommt? Wenn das mühsam Ersparte, das doch noch fürs nächste halbe Jahr reichen soll beziehungsweise muss, nichts mehr Wert ist, oder vielmehr einfach nicht mehr da? Wenn im Supermarkt die Plünderungen beginnen? Die Wohnungen sind irgendwann kalt, die Regale leer. Was dann? Den deutschen Mob wünscht man sich nicht auf den Straßen. Für die Vorstellung, wer da gelyncht wird, muss man nur einen Blick in die Neuziger Jahre werfen, als Asylbewerberjnnenheime brannten.
Und, vielleicht die wichtigste Frage, was sollen wir dem entgegensetzen, dieser Angst? Welche konkrete Utopie, welche Wege zur Veränderung der Gesellschaft anbieten? Wie mein Mitbewohner immer sagt, wir kommen aus der bleiernen Zeit des Neoliberalismus, in denen Utopien erdrückt wurden von der Last immer sich engerziehenden Reglementierungen, Verschlechterungen, sich verschärfender sozialer Ungleichheiten. Wie die Leute bei ihren Ängsten abholen und trotzdem eine radikale Kritik an den bestehen Verhältnissen formulieren? Da stehen sie da, die Linksradikalen, die Kommunistinnen, die Anarchistinnen, und wissen nichts zu antworten auf die Frage: Was wollt ihr denn?
Und dann, in den Küchentisch-Krisen-Fraktionen, in spontanen Ad-hoc-Krisen-Diskussionen, den Tür-ausden-Angeln-Gesprächen: Wir müssen Räte bilden! Wir müssen fordern, dass die Leute die Milliarden selbst verteilen, dass sie Zusammenkommen und gemeinsam überlegen, wie man den Kapitalismus abschafft. Und wir müssen aufklären, und Flugblätter schreiben und Transparente malen und in die Anne Will-Show. Und wir müssen. Wie auf kitschigen sozialistischen Bildern erschien in weiter Ferne der Sonnenaufgang einer bessern Gesellschaft; vor uns lag der mühsame, harte Kampf einer Berufsrevolutionärjn.
Stattdessen sinken die Gas- und Ölpreise. Es kann wieder billiger getankt werden, die Heizkosten werden voraussichtlich sinken. Hier und da hört man von Freundjnnen, dass sie jetzt vielleicht Aktien kaufen wollen, denn da wäre doch was zu holen. Oder besser noch, das Ersparte in Gold anlegen. Sicher ist sicher. Der Alltag ist da, und es ändert sich mal wieder trotz allem: Nichts. Zumindest nichts Grundlegendes.