Krise im oder des neoliberalen Finanzkapitalismus?
»Kapitulation an der Wall Street« titelte die FinancialTimes Deutschland (16.09.08) anlässlich des Zusammenbruchs der großen Investmentbanken: Von den fünf führenden Global Playern sind nur Goldmann Sachs und Morgan Stanley geblieben, die jedoch das Modell der Investmentbanken mit größeren Risikospielräumen aufgeben müssen und zu normalen Banken unter üblichen Regularien mutieren. Andere traditionsreiche Namen wie Bear Stearns, Lehman Brothers und Merill Lynch sind Geschichte. Dies ist nur der jüngste Vorfall der vermeintlich überraschenden Kette von Pleiten. Die Folgen für das globale Finanzsystem sind noch nicht absehbar. Sicher ist nur: dies ist die umfangreichste Vernichtung von fiktivem und >realem< Kapital seit 1929. Es handelt sich - darin sind sich selbst die >Herrschenden< einig - bei der Finanzkrise 2007ff. um die schlimmste Krise seit der großen Depression der 1930er Jahre - Kursverluste und Abschreibungen summieren sich auf fast 20 Billionen Dollar (Die Welt, 11.10.08).
Noch im Oktober 2007 verkündete der IWF, trotz der seit dem Sommer schwelenden Hypothekenkrise, das globale Wachstum sei in eine stabilere Ära gemündet als in den >goldenen< 1960er Jahren. Im April 2008 jedoch übertraf der IWF alle negativen Meldungen und warnte vor über einer Billion US-Dollar Verlusten in Folge der ausgeweiteten Finanzkrise. Ursache sei ein »kollektives Versagen« der Finanzinstitutionen. Offenbar gelingt es gegenwärtig immer weniger, mit flexiblem Krisenmanagement die Folgen finanzieller Instabilitäten zu begrenzen oder (wie oft erprobt) auf periphere Märkte auszulagern (Asienkrise, Argentinienkrise). Die Krise schlägt im Zentrum des globalen Finanzmarktkapitalismus zu, in den USA. Das hat globale Auswirkungen.
Dabei war die Verbriefung von Krediten in strukturierten Produkten< nach neoliberaler Lehrmeinung doch ursprünglich eine Innovation, um das Risiko auf eine größere Anzahl von Anleger_innen zu verteilen und damit das individuelle Risiko zu vermindern und das Finanzsystem insgesamt stabiler zu gestalten. Ähnlich wie bei den Derivaten 1 insgesamt, verstärken diese Finanzinvestitionen zur Absicherung von Risiken und Steigerung der Renditen letztlich selbst die Instabilitäten auf den Weltfinanzmärkten.
Die Krise bringt damit die Frage nach der Rolle des Staates zurück in die Debatte. Unter Führung der amerikanischen Zentralbank Fed pumpen die wichtigsten Zentralbanken der Welt koordiniert Hunderte von Milliarden Dollar, Euro und Pfund in die Märkte, um die Liquidität zu sichern. Die Fed organisiert die größte Reform der Finanzmarktkontrolle seit 1945. Die US-Regierung legt milliardenschwere Konjunkturprogramme auf. Die neoliberale Litanei, es sei >kein Geld da< und die Staatshaushalte bedürften der Konsolidierung^ ist über Nacht vergessen. Schließlich sehen sich die britische sowie die US-Regierung dazu gezwungen in Schieflage geratene Banken zu verstaatlichen, faule Kredite für über 700 Milliarden Dollar aufzukaufen und weitere Ausfallgarantien für gefährdete Kredite in Billionenhöhe zu gewährleisten. Dies erscheint als eine Art >neuer Staatsinterventionismus<, der über die neoliberale staatliche Produktion weitgehend liberalisierter Finanzmärkte weit hinaus geht.
Allerdings sind Krisen in der Vergangenheit (wie in Asien 1998) auch immer wieder dazu genutzt worden, um weitere Liberalisierungen und Umverteilung im gesellschaftlichen Maßstab voranzutreiben. Mithin gehören periodische Krisen zum neoliberalen Finanzkapitalismus. Jörg Huffschmid warnt, das Problematische am Finanzkapitalismus sei nicht seine Instabilität und Krisenanfälligkeit, sondern seine monströse Umverteilung von Vermögen und Macht. Das Krisengerede lenke daher eher vom >normalen< Funktionieren des Neoliberalismus ab.
Finanzkrisen und Überakkumulation
Die >Verrücktheit< des Geldes wird erst verständlich, wenn zur Analyse des >Schwindels< auch die grundlegende Analyse des zinstragenden Kapitals sowie der Akkumulation hinzu tritt. »Überproduktion von Kapital, nicht von einzelnen Waren - obgleich die Überproduktion von Kapital stets Überproduktion von Waren einschließt -, heißt weiter nichts als Überakkumulation von Kapital« (MEW 25, 261), für welches es an ausreichenden Investitions- und Verwertungsmöglichkeiten mangelt. Diese »Plethora-Kapitale« werden, so Marx, »dadurch auf die Bahn der Abenteurer gedrängt: Spekulation, Kreditschwindel, Aktienschwindel, Krisen« (ebd.). Dann wird »Gewinnen und Verlieren durch Preisschwankungen von Eigentumstiteln sowie deren Zentralisation [...] mehr und mehr Resultat des Spiels, das an der Stelle der Arbeit als die ursprüngliche Erwerbsart von Kapitaleigentum erscheint« (495). Derartige Aktivitäten erzeugen keinen Reichtum, stattdessen beruht ihre Verzinsung auf ihrer Fähigkeit sich einen Teil des anderenorts erzeugten Reichtums zu sichern.
Insbesondere seit den 1970er Jahren und der schrittweisen Liberalisierung und globalen Integration der Finanzmärkte wurden immer neue Finanzmarktinnovationen - nicht zuletzt die Derivate - entwickelt, um dem Problem der Überakkumulation zu begegnen. Da bei der Bildung des Zinsniveaus von den realen, arbeitsgesellschaftlichen Bedingungen der Produktivitäts- und Profitratenentwicklung aber in der Regel abgesehen wird, kommt es dank der Liberalisierung, wie Marx frühzeitig darlegte, zur »Verselbständigung des Zinses gegenüber dem Profit« (MEW 25, 370), entkoppelt sich die monetäre relativ von der realen Akkumulation. Folge ist eine monetäre Akkumulation, durch deren Verselbständigung der realwirtschaftliche Sektor ausgehöhlt und der Akkumulationsprozess »von der monetären Seite« her tendenziell »blockiert« wird (Hübner 1988, 62). Mit der »Veräußerlichung« des Kapitalverhältnisses im zinstragenden Kapital vollzieht sich für Marx die »Kapitalmystifikation in der grellsten Form« (MEW 25, 405). Im verkürzten Akkumulationskreislauf G-G' entsteht die Illusion, dass wachsende Geldvermögen und Einkommen aus der Spekulation mit Aktien und Anleihen, Devisen oder Derivaten >erwirtschaftet< oder >gewonnen< werden könnten - dass sie selbst als Quelle von Mehrwert fungierten.
Marx erkennt eine Tendenz zur »Verallgemeinerung der Börsenspekulation«, die dazu führt, dass massenhaft Nicht-Kapitalist_innen in die Spekulation hinein gerissen werden, mit der sie ihre Ersparnisse aufs Spiel setzen (MEW 12, 78). Die Aktualität dieser Einsicht wird durch die schrittweise Privatisierung der Rentenversicherung seit den 1980er Jahren bestätigt. Auch börsennotierten Unternehmen bleibt nichts anderes übrig als mitzuspekulieren, um sich gegen die Spekulation abzusichern bzw. um sich gegen die Enteignung durch Spekulant innen zu schützen. Durch das Kreditwesen erweitert sich der Kreis der >Mitspieler_innen< - immer häufiger treten so genannte Hedge- oder Private-Equity-Fonds auf, die mit geringen Eigenmitteln und einem Vielfachen an Krediten über rein spekulative Aktivitäten enorme Renditen erwirtschaften. In der überwältigenden Mehrheit nimmt die Bevölkerung jedoch nicht direkt Teil am Spiel - vielmehr sind die auf Finanzmärkten gehandelten >Werte< stärker in der Hand Weniger konzentriert als jemals zuvor. Lohnabhängige stehen mehr denn je unter dem Druck von Finanzinvestor_innen und werden einer zunehmenden Ausbeutung unterworfen, noch verstärkt durch die Erhebung von Steuern, die für den Schuldendienst der Regierungen bestimmt sind.
Doch durch Veränderungen in den Verteilungsrelationen werden neue Wege der Kapitalakkumulation möglich. Die Profitablität der Unternehmen wird gesteigert, das Zur-Ware-Werden weiterer gesellschaftlicher Bereiche befördert. Durch die Spekulation werden enorme Finanzmittel zur Finanzierung neuer Branchen und Produkte bereit gestellt, die Umwälzung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen im Übergang zur informationstechnologischen Produktionsweise beschleunigt. Letzteres drückt aus, was auch Marx als Funktion eines modernem Finanzsektors betrachtet: Neben der Konkurrenz der Kapitale betrachtet er das Kreditsystem als entscheidenden Hebel kapitalistischer Entwicklung (MEW 25, 560): Ein modernes Kreditsystem sammelt die vereinzelten (latent produktiven Geld-)Kapitale, stellt sie den Produzent_innen bereit und treibt die Akkumulation, Konzentration und Zentralisation des Kapitals sowie die Herstellung des Weltmarktes voran. Dadurch wird
das Bank- und Kreditwesen »das kräftigste Mittel, die kapitalistische Produktion über ihre Schranken hinauszutreiben, und eines der wirksamsten Vehikel der Krisen« (620f.). Es ist eben dieser »dem Kreditsystem immanenter doppelseitiger Charakter: einerseits die Triebfeder der kapitalistischen Produktion, Bereicherung durch Ausbeutung fremder Arbeit, zum reinsten und kolossalsten Spiel- und Schwindelsystem zu entwickeln und die Zahl der den gesellschaftlichen Reichtum ausbeutenden Wenigen immer mehr zu beschränken; andrerseits aber die Übergangsform zu einer neuen Produktionsweise zu bilden« (457).
Platzt die Spekulationsblase wird fiktives Kapital entwertet und unprofitable Unternehmungen vom Markt verdrängt. Die Kapitalvernichtung schafft zugleich neue Bedingungen für einen weiteren Zyklus der Kapitalakkumulation: Jede Krise ist dabei »Ende eines Zyklus und Ausgangspunkt eines neuen« (MEW 23,662, Fn. 1). Die Spekulation ist also entgegen verbreiteter linker Vorstellungen keine unnötige Übertreibung, sondern fungiert, wie bereits Henryk Grossmann betont, in einer Situation der Überakkumulation als Ausweg, eine Art »innerer Kapitalexport« (1929, 536f). Genügt dies nicht um Überakkumulation abzubauen, sucht sich das Kapital andere Wege zur profitablen Anlage, durch Kapitalexport in andere Weltgegenden: Spekulation und imperialistische Strategien sind daher »Parallelerscheinungen« (543). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entwickelt sich die erneute Intensivierung der »Akkumulation durch Enteignung« zu einem »neuen Imperialismus« (Harvey) bzw. zu imperialen Strategien der In-Wert-Setzung.
Doch mit dem Wachstum der Geldvermögen steigen auch die Zinsansprüche und damit der Zwang zur Produktion weiteren Mehrwertes. Die relative Selbstständigkeit der Finanzmärkte treibt »bis zu einem Punkt, wo der innere Zusammenhang gewaltsam, durch eine Krise, wiederhergestellt wird« (316). Sie ergibt sich, wie zuletzt 2001 und 2007, weniger aus der »Verrücktheit des Geldes«, als aus dem Widerspruch »zwischen dem industriellen und loanable Kapital zwischen dem Kapital, wie es in den Produktionsprozess direkt involviert ist und wie es als Geld selbständig (relativement) außer demselben erscheint« (42/316). Die (Über-)Akkumulation zinstragenden und fiktiven Kapitals erhöht die Ansprüche und Forderungen auf Zinszahlungen und Dividenden, die aus produktiven Investitionen erwirtschaftet werden müssen. Selbst angesichts der Anhebung des Ausbeutungsgrades seit Ende der 1970er Jahre und der vollen Eingliederung Chinas in den Weltkapitalismus, übersteigen diese Forderungen massiv das Maß, das von der >realen Ökonomie< abgedeckt werden kann. Die Beschleunigung der Umschlagszeiten zinstragenden Kapitals führt zwar über verbesserte Möglichkeiten der Kapitalmarktfinanzierung von Unternehmen sowie dem Druck zur Steigerung von Produktivität und damit Profitabilität auch zu erhöhter Mehrwertproduktion, geht letztlich aber über sie hinaus. An Unternehmungen werden Renditeerwartungen gestellt, die, wenn die Zins- über der Profitrate liegt, zwangsläufig aus der produktiven Substanz bedient werden müssen - Unternehmen oder Betriebsteile, denen dies nicht gelingt, werden abgestoßen oder brachgelegt, ihr Kapital entwertet bzw. vernichtet. Die Steigerungsraten des Surplus sind jedoch energetisch, stofflich, sozial und daher auch ökonomisch begrenzt (die Grenzkosten des Produktivitätsfortschritts steigen überproportional an; der Widerstand gegen die >Gewalt des Geldes< wächst). Daran ändern keine Finanzinnovationen etwas (Altvater/Mahnkopf 1996, 168). Insbesondere Überakkumulation und Überproduktion (Brenner 1998) setzen der Steigerung der Mehrwertmasse Grenzen. Der Widerspruch von Produktivund Geldkapital tritt periodisch immer dann auf, wenn die Kurse fiktiven Kapitals und die Bedienung von Zinsen nicht mehr der Leistungsfähigkeit der realen Produktion und der Profitabilität der Unternehmen entsprechen: Ein wesentlicher Indikator dafür ist das so genannte Kurs-Gewinn-Verhältnis, also das Verhältnis von Aktienkursen in realen Preisen und Profiten der börsennotierten Unternehmen.
Die Kursentwicklung entkoppelt sich immer wieder von der realen Wertentwicklung (Kapitalrentabilität) in den Unternehmen und führt zur gigantischen Aufblähung der Kurse fiktiven und zinstragenden Kapitals - Aktien beispielsweise erreichen während des
Booms der 1990er Jahre eine geschätzte Überbewertung von 50 Prozent ( asset-price-inflation ). Dieses Verhältnis erreicht Ende 1999 Rekordhöhen, die nur zurzeit vor dem Schwarzen Freitag 1929 noch übertroffen wurden, als die Profite gegen Null tendierten und Aktien dennoch ihren Wert halten konnten. Entsprechend kommt es periodisch zu Krisen. Der intermittierende Zusammenbruch der New Economy hat allein 2002 geschätzte 1,4 Billionen Dollar fiktiven Kapitals vernichtet. Doch heißt Vernichtung fiktiven Kapitals in vielen Fällen auch echte Stockung der Reproduktion, Bankrott von Banken, Unternehmen, Vernichtung von Arbeitsplätzen, Ersparnissen, Pensionsansprüchen etc.
Wann der Zeitpunkt der Krise genau auftritt bleibt unkalkulierbar, so dass die Unsicherheit selbst durch bewusste Kalkulation des Risikos zum Gegenstand des Spekulationsspiels wird. Dann kommt es zu kumulativen Effekten, wenn Verpflichtungen nicht eingelöst werden können, weil unerwartete Zins- und daher Kursbewegungen von den Wertpapieren eintreten, Verträge platzen und das Kartenhaus einzustürzen beginnt, weil, wie Marx verdeutlicht, »an hundert Stellen die Kette der Zahlungsobligationen an bestimmten Terminen« zu brechen droht und das ganze Kreditsystem in Gefahr gerät, was »zu heftigen akuten Krisen, [...] wirklicher Stockung und Störung des Reproduktionsprozesses« (MEW 25, 264f) führt. Daher brechen Krisen regelmäßig »zuerst aus auf dem Gebiet der Spekulation« und greifen dann erst über auf die Produktion - so erscheint nicht »die Überproduktion, sondern die Überspekulation, die selbst nur ein Symptom der Überproduktion ist, [...] der oberflächlichen Betrachtung als Ursache der Krise« (MEW 7, 421).
Gegenüber verkürzten Vorstellungen von Reformen auf der Ebene der Zirkulation des Geldes warnt Marx denn auch, es sei »unmöglich«, die »Verwicklungen und Widersprüche, die aus der Existenz des Geldes« hervorgehen, aufzuheben, »solange der Tauschwert die gesellschaftliche Form der Produkte bleibt. Es ist nötig, dies klar einzusehen, um sich keine unmöglichen Aufgaben zu stellen und die Grenzen zu kennen, innerhalb deren Geldreformen und Zirkulationsumwandlungen die Produktionsverhältnisse und die auf ihnen ruhenden gesellschaftlichen Verhältnisse neugestalten zu können« (MEW 42, 80).
Entsprechend gelingt es angesichts der enormen Umverteilung des Mehrwerts zugunsten von Kapitalund Vermögensbesitzern seit den 1980er Jahren (zu den Ursachen vgl. Candeias 2004/2008, 105 ff.) auch nicht, die Überakkumulation tatsächlich abzubauen. Neben der ständigen Verfeinerung der Finanzmarktinstrumente und -Strategien, gehört die Suche nach neuen Verwertungsmöglichkeiten durch Einbeziehung neuer Räume (etwa Ostasien), Erschließung bisher nicht in Wert gesetzter Bereiche (z.B. durch Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen) oder Entwicklung neuer Produkte und Produktionsmittel (z. B. den Informationstechnologien und der sog. New Economy) zu den wesentlichen Strategien, um Überakkumulationstendenzen zu begegnen. Hinzu kommt, dass die Reproduktion der Arbeiter_innenklasse immer umfassender zu einem unmittelbaren Bestandteil der Kapitalverwertung geformt wird, maßgeblich durch die fordistische Verknüpfung von Massenproduktion und -konsum. Erheblich dazu beigetragen haben nicht zuletzt Finanzinnovationen zur Integration der Arbeiterklasse in Kreditverhältnisse: über die Einführung und Ausweitung von Ratenzahlungen, Konsumentenkrediten, Hypotheken- und Bausparkrediten mit entsprechenden staatliche Förderungen, der Erfindung der Kreditkarten oder der Privatisierung der Rentenversicherung (auf Kapitalbasis) - oder eben die unten näher ausgeführten Sub-PrimeKredite.
Von der Hypotheken- zur Finanzkrise
Die massive Umverteilung von Mehrwert über die Finanzmärkte sicherte glänzende Renditen. Doch wohin mit dem vielen (überakkumulierten) Geld, mit dem >Meer an Liquidität? Am besten in China oder anderen aufblühenden Märkten anlegen. Über einen Mangel an Investitionen kann sich China aber nicht beschweren, es bemüht sich sogar, das überdrehte Wachstum zu bremsen. Aber kreative Finanzmarktinnovationen schaffen Abhilfe: z.B. die sogenannten
Sub-Prime-Kredite, mit denen sogar jenen Hypothekenkredite aufgedrängt wurden, die sich mangels Einkommen eigentlich keine Immobilien leisten können. Ein niedriges Zinsniveau - befördert durch den Vorsitzenden der Fed Alan Greenspan, der durch historisch einmalige Zinssenkungen zur Linderung der Krise nach der sogenannten dot.com-Blase von sechseinhalb auf ein Prozent beitrug - ermöglichte den Deal: Die Hypothekenkredite kurbelten den Immobilienmarkt an, steigende Häuserpreise suggerierten höhere Vermögen der Hausbesitzerinnen, der gefühlte Reichtum beförderte weiteren Konsum per Kreditkarte. In kaum einem anderen Land spielt der private Konsum, auf Pump finanziert, eine ähnlich große Rolle wie in den USA. Zur Sicherheit verknüpfte man die >Unterschicht<-Kredite mit anderen Krediten und Anleihen zu komplizierten Paketen, die in dieser verbrieften Form wieder weiterverkauft wurden. Große Kreditnehmer_innen wiederum, wie verarmte Kommunen z. B., ließen ihre Zahlungen von spezialisierten Finanzdienstleister innen versichern, um ihre Bonität zu verbessern und günstigere Zinsen zu ergattern. Verbriefung, Bündelung und Versicherung von Krediten ließ die Rating-Agenturen überdurchschnittlich gute bis exzellente Bewertungen ausstellen, denn solange die Zinsen niedrig blieben, war dies ein sicheres Geschäft und das (Rest-)Risiko wurde von den Hypothekenbanken auf den gesamten Finanzmarkt global verteilt und damit für die individuelle Anleger_in geringer.
Wenn die Wirtschaft brummt, der Konsum surrt, Preise steigen, die Arbeitslosigkeit niedrig ist, dann steigen die Zinsen (von 1% in 2004 auf 5,25% in 2006). Seit Anfang 2007 häuften sich die säumigen Schuldnerinnen, die ihre Hypothekenzinsen nicht mehr bedienen konnten. Über eine Million Menschen verloren bereits buchstäblich ihr Dach über dem Kopf - bis zu weiteren sechs Millionen könnten folgen, schätzt die Ratingagentur Moody's (Wall Street Journal 23.10.08). Zahlreiche Familien leben nun in Wohnwagenkolonien, Obdachlosenunterkünften oder tatsächlich auf der Straße. Der Immobilien-Boom hatte die Hypothekenbanken in die amerikanische Provinz gelockt. Im Süden und Westen oder in Staaten wie Connecticut ballen sich daher die Opfer der Krise. Ganze Nachbarschaften sind betroffen - die vielen Leerstände senken auch den Wert anderer Privathäuser und Immobilien. Das soziale Gefüge ganzer Regionen ist gefährdet. Vor allem aber wächst sich der American Dream, ein eigenes Haus zu besitzen, für die kleinstädtische weiße und insbesondere schwarze Arbeiter innenklasse zu einem amerikanischen Albtraum aus. Infolge der Überschuldung dehnt sich die Zahlungskrise auf andere Segmente aus, z. B. Kreditkarten und Autokredite.
Doch anders als in den 1980er Jahren brachen nur wenige Banken zusammen. Die Zerstreuung des Risikos funktionierte als Schutz. Außerdem war dies ein auf die USA beschränktes Phänomen, dachten Analystinnen. Die eine oder andere Bank in Europa, die sich zu gierig mit Sub-Prime-Paketen eingedeckt hatte, geriet ins Straucheln. Doch insgesamt kamen die europäischen Geldhäuser deutlich besser weg als die US-Banken, die dreistellige Milliardensummen abschreiben mussten. Darüber hinaus sei die Realwirtschaft nicht betroffen, hieß es. Tatsächlich brummte die Wirtschaft in den USA weiter, die Arbeitslosigkeit blieb niedrig. In Europa kam die Konjunktur 2007 gerade in Fahrt. In Ostasien sowieso. Um eine Kreditklemme zu vermeiden und die Liquidität der Wirtschaft zu sichern, pumpten die Zentralbanken dreistellige Milliardenbeträge in die Märkte, die EZB allein über 350 Milliarden Euro, also eine halbe Billion Dollar. Optimismus aller Orten: Die Märkte sind stabil.
Mittlerweile haben Banken bis zu über 1,6 Billionen Dollar abgeschrieben. Die Kredit- wird zur Finanzkrise und beginnt auf die Gesamtökonomie durchzuschlagen. Zunächst platzte die Immobilienblase in den USA und entwertete das Vermögen zahlreicher Hausbesitzerinnen aus der Mittelschicht. Damit sind weitere Hypotheken- wie auch Konsument_innenkredite
ungedeckt. Die Konsumrate beginnt zu sinken. Auch die Banken sind vorsichtiger geworden, nicht einmal untereinander leihen sie sich noch Geld, da keiner weiß, wie viele geplatzte Kreditpakete die andere in ihren Bilanzen versteckt hat. Nicht einmal die Vorstände der Banken wissen, wie groß die Belastungen der eigens für solche Spekulationsgeschäfte gegründeten Zweckgesellschaften sind, deren Posten nicht in der regulären Bilanz auftauchen.
Eine Chronik der(angekündigten) Katastrophen
Panik und eine tiefe Vertrauenskrise im Bankensektor prägen das Bild. Bekanntermaßen kommt es zu zahlreichen Insolvenzen oder Zusammenbrüchen, NotÜbernahmen und gigantischen >Wertberichtigungen<. Unzählige kleinerer Hypothekenbanken müssen schließen oder Gläubigerschutz beantragen. Erstes prominentes Opfer ist der Hypothekenfinanzierer New Century Financial. Ein weiterer Höhepunkt ist der Bankrott der IndyMac Bank, des größten unabhängigen börsennotierten Baufinanzierers. Die Unsicherheit drohender Zahlungsunfähigkeit löst einen Bank Run aus, bei dem Anleger innen innerhalb weniger Tage mehr als 1,3 Milliarden Dollar abheben. IndyMac wird unter die Kontrolle der Federal Deposit Insurance Corporation gestellt, d. h. verstaatlicht. Der Zusammenbruch von IndyMac ist der zweitgrößte Bankencrash in der Geschichte der USA.
Zuvor sind bereits die beiden größten parastaatlichen Hypothekenbanken technisch bankrott gegangen. Fannie Mae und Freddie Mac wurden im Rahmen des New Deal 1938 gegründet, um das Eigentum an Immobilien für Familien zu fördern. Als staatliche Institutionen mussten sie geringere Rücklagen als normale Banken bilden und genossen günstige Refinanzierungsbedingungen bei der Fed. Von Steuern und Abgaben an Gemeinden und Bundesstaaten waren sie freigestellt. Auch nach der (Teil-)Privatisierung behielten die beiden Banken ihre Privilegien, was den Anteilseigner_innen außerordentliche Profite sicherte. Sie >erfanden< die Bündelung und Verbriefung von Hypotheken in so genannten Asset Backed Securities und haben Hypothekenkredite in Höhe von 5,2 Billionen Dollar in ihren Büchern. Das ist etwa die Hälfte aller Immobilienkredite, die in den USA vergeben wurden. Im Zuge der Krise haben diese mehr als 50 Prozent ihres Marktwertes eingebüßt. Der Börsenwert der Banken verlor 76 Prozent ihres Werts, Tendenz fallend. Auch die Investment- und Großbanken verzeichneten Abschreibungen und Verluste in Milliardenhöhe.
Einen weiteren Schock lösen die Probleme der fünftgrößten US-amerikanischen Investmentbank Bear Stearns aus. Die Rekordsumme von 200 Milliarden Dollar muss abgeschrieben werden. Liquiditätsprobleme drohen die Insolvenz nach sich zu ziehen und damit eine ganze Kette von Zahlungsverpflichtungen zu zerreißen. Die Großbank JP Morgan Chase und Co wird von der Regierung gedrängt Bear Stearns ein Übernahmeangebot zu unterbreiten (schon um als größte Gläubigerin von Bear Staerns den eigenen Zusammenbruch zu vermeiden). Dazu wird von der Fed ein Rettungspaket geschnürt, das vor sieht, dass die amerikanische Notenbank Verlustrisiken von Bear Stearns bis zu einem Gesamtbetrag von 29 Milliarden Dollar übernimmt, während JPMorgan Chase & Co. die erste Milliarde eventuell anfallender Verluste übernimmt.
Angesichts der Gefährdung zahlreicher Kredite und Banken entschließen sich mitten in der Krise die Rating-Agenturen wie Standard & Poor's, die alle an der übermäßig guten Bewertung der »strukturierten Produkte< beteiligt waren, zur Korrektur und stufen namhafte Großbanken herab, was ihre Refinanzierungsmöglichkeiten deutlich erschwert. Dabei sehen sich die Banken gezwungen frisches Kapital aufzunehmen, um ihre Liquidität zu sichern und Eigenkapitalvorschriften einzuhalten. Da Investor_innen knapp sind, greift man auf die Staatsfonds der arabischen und asiatischen Schwellenländer zurück.
Das Problem: Die Banken müssen Kreditderivate ihrer in Schieflage geratenen Zweckgesellschaften in die Bilanzen nehmen. Diese >strukturierten Produkte< müssen nicht etwa zu ihrem ursprünglichen Nennwert als vielmehr zu ihrem aktuellen Marktwert verbucht werden. Da der Markt für diese Produkte jedoch praktisch zusammengebrochen ist, lässt sich kein Wert ermitteln. Daher wird eine Art mathematischer ModellWert (»mark to model«) ermittelt und gebucht. Da es sich dabei nur um Schätzwerte handelt, muss weiterhin mit einem erheblichen Bedarf von Wertberichtigungen gerechnet werden, weshalb die Krise weiter schwelt, insbesondere weil einige amerikanische Banken ein Mehrfaches ihres Eigenkapitals mit solch riskanten Produkten verbuchen müssen.
Die Banken versuchen ihre Bilanzen durch Notverkäufe zu bereinigen. Merrill-Lynch verschafft sich Luft, indem sie Hypothekenanleihen und andere Schuldenderivate mit einem Wert von 30,6 Milliarden Dollar mit einem Abschlag von 80 Prozent für nur 6,7 Milliarden Dollar an den Finanzinvestor Lone Star abstößt. Auch die Deutsche Bank verbessert ihre Bilanz mittels eines Deals mit Lone Star. Und schließlich übernimmt der so genannte Geierfond Lone Star von der staatlichen deutschen KfW auch noch ihren Mehrheitsanteil von 90,8 Prozent an der in Schieflage geratenen IKB zu einem Schnäppchenpreis von geschätzten 150 Millionen Euro. Die KfW muss dabei nicht nur von ihrer Preisvorstellung von 800 Millionen Euro abrücken, sondern es bleiben auch erhebliche Risiken bei der KfW. Lone Star steht dabei für eine Tendenz, die Marx wie folgt beschreibt: »Was nun den Fall von bloß fiktivem Kapital, Staatspapieren, Aktien etc. betrifft - soweit er es nicht zum Bankrott des Staates und der Aktiengesellschaft treibt, soweit dadurch nicht überhaupt die Reproduktion gehemmt wird [...] -, ist es bloß Übertragung des Reichtums von einer Hand in die andere und wird im ganzen günstig auf die Reproduktion wirken, sofern die Parvenüs, in deren Hand diese Aktien oder Papiere wohlfeil fallen, meist unternehmender sind als die alten Besitzer.« (MEW, 26.2, 496 f.) Der Druck auf das Banken- und Finanzsystem lässt nicht nach. Morgan Stanley schätzt, dass die gegenwärtige Finanzkrise noch bis 2010 anhält, nicht ahnend, dass die Krise nur Wochen später das Ende des Modells der Investmentbanken selbst bringen würde. Lehman Brothers allein hat 613 Millarden Dollar Schulden angehäuft - unwahrscheinlich, dass deren Konkurs keine Auswirkungen auf Investor_innen weltweit hat: ob chinesische Staatsfonds oder europäische Banken, Pensions- oder Hedgefonds. Die BIZ (Bank für internationalen Zahlungsausgleich) rechnet schon zuvor mit »einem langen und tiefen Abschwung der Weltwirtschaft« (FR, 01.07.08). Der Vorsitzende der Fed, Ben Bernanke, befürchtet gar einen Kollaps des gesamten Finanzsystems mit unkalkulierbaren Folgen für die amerikanische wie globale Wirtschaft. Flexibles Krisenmanagement ist gefragt, aber auch umfassende Reregulierungen werden in Angriff genommen, die den Charakter des neoliberalen Finanzkapitalismus betreffen.
Es geht nicht um den Zusammenbruch des Kapitalismus, aber eben auch nicht einfach nur um eine bereinigende Krise<, in der sich die verbleibenen Unternehmen günstig ihre angeschlagenen Konkurrent_innen einverleiben. Die Akkumulation auf erweiterter Stufenleiter und die gegenwärtige Funktionsweise der Märkte an sich sind gefährdet. In Konjugation mit anderen Krisenelementen, von der ökologischen Krise, über die Verschiebung von politischer und ökonomischer Macht auf dem Weltmarkt, bis hin zu Repräsentations- und Legitimationskrisen sowie wachsender gesellschaftlicher Desintegration und unterschiedlichster Revolten, steht voraussichtlich eine längere Periode von ein bis zwei Dekaden der Suche und der Auseinandersetzung um >post-neoliberale< Formen der Stabilisierung der kapitalistischen Produktionsweise bevor. Vielleicht wird ein autoritär abgesicherter grüner Kapitalismus neue Akkumulationsmöglichkeiten und Konsenspotenziale produzieren. Die Finanzmärkte werden dabei wieder eine entscheidende Rolle spielen. Die Reserven des nach wie vor dominierenden Neoliberalismus als organisierende Ideologie im Übergang zur informationstechnologischen transnationalen Produktionsweise sind jedenfalls erschöpft. Seine Ablösung wird durch heftige globale gesellschaftliche Auseinandersetzungen geprägt sein (vgl. Candeias 2009).
Mario Candeias //_noten #1 Auf dem Markt für Derivate geht es um den Handel mit Finanzprodukten, die sich auf die künftige Entwicklung der vorgenannten Finanzierungsinstrumente, z. B. den Kurs von Anleihen oder Aktien oder einer Währung beziehen, also von diesen abgeleitet sind. Derartige Geschäfte werden getätigt, »um ein Basisgeschäft abzusichern, also z.B. den Erlös eines Exportgeschäftes, der erst nach einer bestimmten Zeit fällig wird, gegen Wechselkursschwankungen abzusichern (Hedging); um bestehende Ertragsdifferenzen zwischen verschiedenen Geldanlagen (an verschiedenen Orten und zu verschieden Zeiten) auszunutzen (Arbitragegeschäfte); [oder] um von einer erwarteten Veränderung (von Kursen, Zinsen oder Wechselkursen) zu profitieren (Spekulation)« (Huffschmid 1997, 74).
//_texte Altvater, Elmar; Birgit Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung, Münster 1996.
Brenner, Robert, The Economics of Global Turbulence, New Left Review 229, 39. Jg., London 1998.
Candeias, Mario, Neoliberalismus. Hochtechnologie. Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen kapitalistischen Produktionsweise, Berlin-Hamburg 2004/2008.
Candeias, Mario, Krise des Neoliberalismus - Ankunft des grünen Kapitalismus, Berlin 2009.
Grossmann, Henryk, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Leipzig 1929.
Huffschmid, Jörg, >Dominanz globalisierter Finanzmärkte. Politische Kapitulation statt ökonomisches Gesetz<, in: Z. 31, 8. Jg, September 1997, 69-84.
Hübner, Kurt, »Flexibilisierung und Verselbständigung des Weltmarktes<, in: Prokla 71,18. Jg., 1988, 49-65.
IWF, Global Financial Stability Report, Washington DC, April 2008.