editorial
In dem Maße, in dem in der aktuellen Krise das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Institutionen schwindet, scheint das der Linken in ihre zu steigen: Die materialistische Kritik der politischen Ökonomie erfährt erneute Bestätigung ihrer Theorie der gesetzmäßigen Krisenhaftigkeit des Kapitalismus. Gewiss steht diese Einsicht am Beginn einer linken Reflexion über Krisen, was aber nicht heißt, dass es auch deren Ende und letztes Wort wäre und dass es nichts vor der Reflexion gäbe. So liegt die Bedeutung der Theorie der Krise für die Linke in ihrer kritischen Absicht, die sich nicht darin erschöpft der Doxa der bürgerlichen Ökonomie die Unhaltbarkeit ihrer Harmonieannahmen theoretisch um die Ohren zu hauen: Die Maschine muss nicht einfach häufiger gewartet werden, sondern hat einen grundlegenden Konstruktionsfehler. Aber vor allem ist die marxistische Kritik - und darin liegt ihre ganze Emphase - Ausdruck der Individuen, die von der Krise des Kapitals in Mitleidenschaft gezogen wurden, der Ausdruck, der nicht Kollateralschäden bemängelt oder Schadensregulierung fordert, sondern derjenige, der die bloße Tatsache der Mitleidenschaft in Frage stellt. Insofern die Krise diesen Zusammenhang des Mitleidens schmerzlich zu Bewusstsein bringt ist sie immer schon Grund und Rechtfertigung der Kritik der Krise, also der Mitteilung, dass sich Mensch und Maschine, also gesellschaftlicher Zusammenhang und kapitalistischer Akkumulationszwang trennen müssen.
Auch wenn heute kaum noch jemand ein solches Kontinuum von Krise, Kritik und Abschaffung des Kapitalismus oder gar einen Automatismus (also die bloße Verlängerung der verheerenden Kapitallogik) unterstellt, werden zumindest fragmentarisch die Kernpunkte dieses semantischen Horizontes gerade jetzt wieder aufgerufen: die Irrationalität des ökonomischen Systems, das nicht vernünftig kontrolliert werden kann; die fatalen Folgen für die von der Krise Betroffenen; die Notwendigkeit etwas zu unternehmen. Dabei gibt es so einiges, was linke Leute verunsichern könnte an dieser Krise: So waren es nicht gerade linke Ökonom_innen, die die Botschaft von der Krise in die Welt gesetzt haben, sondern vielmehr recht klassische im Verbund mit wirtschaftsfreundlichen Zeitungen und Banker_innen, die wiederum nicht gerade den von der Krise »real« Betroffenen (den Menschen, die ihr Haus verloren haben etwa) auf den Mund geschaut haben. Eher wurde die Krise abgelesen von den Kursen, Indizes und Kurven, die die mit bloßem Verstand nicht vorstellbaren Kapitalmengen repräsentierbar machen: »das Kapital von einem solchen Akkumulationsgrad, das es Bild wird« (Debord). Schnell war aus der Krise eine »Vertrauenskrise« geworden, die durch Bekundungen des mangelnden Vertrauens nur noch schlimmer wird. Offenbar kann dieses Spektakel der Krise des Finanzkapitals, das uns rund um die Uhr aus Fernsehen, Zeitungen und Internet begleitete, nicht mehr als »Missbrauch einer Welt der Anschauung verstanden werden«. Vielmehr handelt es sich um eine »wirksam gewordene, eine materiell wiedergegebene Weltanschauung. Es ist eine Anschauung der Welt, die sich objektiviert hat«. (Debord) Schließlich rief die Krise ihre Krisenmanager innen auf den Plan, dieser postfordistische Politikertypus, der nicht mehr planen kann und sich deshalb aufs Retten verlegt hat.
Es ist also schwer geworden, hinter dem Krisenspektakel das Reale der Krise also hinter der Finanzwirtschaft die »Realwirtschaft« aufzuspüren und hinter der Inszenierung der Retter_innen zu den wahren Interessen zu gelangen; schwer die »wirkliche Bewegung, die den jetzigen Zustand aufhebt« (Marx) auszumachen. Die Krise als die Lage erhellend, die Fronten klärend, das Paradigma der Kritik als endliche Aufklärung der Krise ist vorüber, gerade die schrillsten und grellsten Äußerungen der Krise machen alles nur noch schwieriger und dunkler. So war die Krise vielleicht am realsten, bzw. deren Dimension zumindest antizipierbar, gerade in den Momenten, in denen sie auf Seiten der Verantwortlichen betretenes Schwei-
gen hervorrief. Vielleicht ist dieses »Reale« der Krise auch gerade der Grund, warum wir als Aktivistinnen gar nicht anders können, als zu versuchen uns ins Krisengeschehen einzubringen: nicht weil es einen klaren Ablauf der Krise gäbe, sondern weil es ihn gerade nicht gibt, weil das Schweigen anzeigt, dass der gewohnte Lauf der Dinge doch unterbrochen ist, dass etwas geschehen muss, dass es etwas zu entscheiden gibt, auch und gerade weil es unentschieden ist - Zeit der Kritik also In diesem diskus versuchen wir daher das Nachdenken über Krisen zu intensivieren, ein Nachdenken das sich nicht auf ökonomische Krisen beschränken soll, nicht nur weil es dafür bereits die eine oder andere linke Fachzeitschrift gibt. Vielmehr müssen wir gestehen, dass wir von der Krise selbst überrascht wurden. Ja, als wir Anfang des letzten Jahres ein Heftthema suchten und das Thema Krise vorgeschlagen wurde, löste das zunächst so lange Unbehagen aus, bis wir uns darauf verständigen konnten, dass es mehr Krisen gibt als ökonomische, dass es mehr Logiken der Krise gibt als den Einbruch einer Wachstumskurve Wir beleuchten daher in diesem Heft unterschiedliche Krisenphänomene (etwa Krise des europäischen Migrationsregimes, Aidskrise und Krise und Normalismus), auch wenn wir auf Grund ihrer Aktualität der ökonomischen Krise relativ großen Raum in diesem Heft gegeben haben. Leider fallen trotzdem einige Artikel zu bestimmten Gebieten raus, die uns eigentlich sehr wichtig gewesen wären. Einerseits ist hier ein kurzfristig abgesagter Artikel zur Aidskrise zu nennen, der gezeigt hätte, wie die Politisierung der Trauer über die Verstorbenen Freundinnnen in der queercommunity in den 1980ern in New York zur Konstituierung einer politischen Homosexuellenbewegung geführt hat. Andererseits hatten wir gehofft, dass ein Artikel über die aktuelle Klimakrise zeigen könnte, wie eine durch Expertise angezeigte Krise zur strategischen Erschließung neuer Politikfelder durch unterschiedlichste Akteur_innen führen konnte. Wie immer sind die Gründe für das Rausfallen von Themen und Texten auch die krisenhaften Strukturen von unbezahlter aktivistischer Arbeit im Kapitalismus.
diskus red