Über die Ware hatte Marx geschrieben, dass sie ein »vertracktes Ding« sei, »voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken«. Dasselbe könnte man auch über das Recht sagen: Obschon es das Leben der meisten Menschen auf diesem Planeten in jeder Sekunde maßgeblich beeinflusst, ist alles andere als klar, was genau das Recht überhaupt ist, wie man seine metaphysischen Spitzfindigkeiten verstehen und seine theologischen Mucken austreiben kann. Sonja Buckel hat mit »Subjektivierung und Kohäsion« nun ein Buch vorgelegt, das diese Fragen zwar nicht endgültig klären, zu ihrer Beantwortung wohl aber einen wichtigen Teil beitragen dürfte.

Dabei stellt es bereits eine nicht zu unterschätzende Leistung dar, sich heute der »Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts« - so der Untertitel des Buches - überhaupt zu widmen. Für eine emanzipatorische Position in dem Streit darum, was das Recht eigentlich ist, schien nämlich über Jahrzehnte hinweg im unübersichtlichen Schlachtfeld der Diskurse überhaupt kein Platz zu sein. Zuerst hat die stalinistische Verfolgungspolitik jeder ernst zu nehmenden marxistischen Rechtstheorie ein jähes Ende bereitet. Das Schicksal des sowjetischen Juristen Eugen Paschukanis kann hier als emblematisch gelten: Paschukanis hatte in seinem Werk »Allgemeine Rechtslehre und Marxismus«, sich streng an Marx orientierend, noch die These von der prinzipiellen Inkompatibilität von Recht und Kommunismus verteidigt und ist damit in Widerspruch zu den Anforderungen der totalitären Tagespolitik Stalin'scher Prägung geraten, die nicht ein Absterben, sondern im Gegenteil eine Intensivierung rechtlicher und staatlicher Praktiken für opportun hielt. Die Folge: Paschukanis ist während der Zeit der Moskauer Prozesse verschwunden und wurde vermutlich erschossen, sein Werk wurde denunziert und unter Quarantäne gestellt (Sonja Buckel kommt nun insbesondere das Verdienst zu, diesen älteren marxistischen Rechtstheoretiker überhaupt erst einem größeren Publikum in der Bundesrepublik bekannt gemacht zu haben). War also die Entwicklung einer sich an Marx orientierenden Rechtstheorie durch die Vorherrschaft parteikommunistischer Doktrinen und realpolitischer Anforderungen blockiert, so hat die nicht-marxistische Neue Linke im Gegenzug allergisch auf die orthodoxen Versuche reagiert, das Recht als puren Reflex der ökonomischen Verhältnisse zu bestimmen oder als rein terroristische Klassenjustiz zu dämonisieren. Michel Foucault etwa hat im Rahmen seiner Neukonzeption des Machtbegriffs dem Recht gar keine wesentliche Stellung mehr eingeräumt; im Sinne seines genealogischen Programms ging es Foucault demgegenüber um das Aufsuchen der Macht in ihren lokalen Wirkungsweisen und Effektivitäten, die seiner historischen Analyse nach gerade immer weniger tatsächlich vom

Recht als dem einen zentralen Integrationsfaktor bestimmt sind. Last but not least hat eine dritte Fraktion aus der Erfahrung des Totalitarismus den Schluss gezogen, dass es zu dem Rechtsstaat historisch und logisch gar keine Alternative geben könne; das entscheidende theoriepolitische Ereignis dürfte hier das Erscheinen von Habermas' Werk »Faktizität und Geltung« gewesen sein. Die Nachteile dieser dritten Position liegen auf der Hand: Aus ihrer Perspektive lässt sich die Gewalt- und Zwangsförmigkeit des Rechts nicht konsequent kritisieren und überwinden.

Sonja Buckels Dissertation bricht diese festgefahrene und einigermaßen unproduktive Konstellation auf und ermöglicht so einen undogmatischen Neuanfang in der emanzipatorischen Rechtstheorie. Sinnvollerweise betont sie ganz zu Beginn ihrer Arbeit, dass sie das Label »materialistisch«, das im Untertitel auftaucht, nicht im Sinne einer Ableitung aus einer »ökonomischen Basis« verstanden wissen will. Das Recht bezieht seinen materiellen Charakter nicht aus einer dritten determinierenden Instanz, sondern aus sich selbst, aus den ihm eigenen Funktions- und Wirkungsweisen. Womit viele andere rechtstheoretische Abhandlungen schließen, damit setzt also diejenige von Sonja Buckel erst ein, mit der Erkenntnis nämlich, dass das Recht eine relativ autonome Struktur ist, die spezifische Unterdrückungsverhältnisse produziert, aber auch eigenständige Widerstands- und Emanzipationspotentiale bietet.

Von Adorno stammt das Wort, Aufgabe des Materialismus sei es, dem Idealismus zu seinem Recht zu verhelfen. Eine »materialistische« Herangehensweise zeichnet sich demzufolge nicht allein dadurch aus, die Vorgefundenen Verhältnisse hinsichtlich ihrer manifesten sozialen »Materialität« zu untersuchen, sondern beinhaltet auch das normative Interesse an Veränderung: Das Schicksal der Menschen entspringt zwar nicht ihrem Bewusstsein und ihren Ideen, sollte es aber. Bezogen auf das Recht heißt das, sowohl die spezifischen systemischen Zwänge und Gewaltförmigkeiten zu analysieren, die es als Vergesellschaftungsform charakterisieren, als auch es als ein Medium für die Etablierung freier intersubjektiver Anerkennungsbeziehungen zumindest prinzipiell in Betracht zu ziehen. Aus einer emanzipatorischen Perspektive gehören beide Aspekte zusammen: Vernachlässigt oder beschönigt man den polizeilichen Zwangscharakter des Rechts, verfehlt man eine »materialistische« Rechtstheorie ebenso wie wenn man das Recht aufgrund seines historischen Ursprungs für immer und ewig auf diese Repressionsfunktion hin für festgelegt hält. Sonja Buckel lässt die deskriptive Dimension ihrer materialistischen Herangehensweise (etwas irritierenderweise) von der Systemtheorie Niklas Luhmanns, die normative Dimension von der Diskurstheorie Jürgen Habermas' repräsentieren und spannt so zunächst die Koordinaten auf, an denen sich ihre Abhandlung im weiteren Verlauf orientiert. Von Luhmann übernimmt sie dabei die analytische Perspektive auf die Eigenlogik des Rechts in seiner Totalität, von Habermas die Erkenntnis, dass sich die Rechtstheorie nicht auf die soziologische Beobachterjnnenperspektive der dritten Person beschränken darf, in der alles nur »zum Gegenstand gefriert«. Ausgehend von den marxistischen Debatten der 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts zeichnet sie dann die linken Theoriestränge insbesondere in Deutschland, Frankreich und Italien bis in die Gegenwart nach und konsultiert dabei so unterschiedliche Quellen wie Neumann und Kirchheimer, Poulantzas und Foucault. In einem weiteren Schritt entwickelt sie in einer differenzierenden Abwägung ihre eigene Position, wobei sie die üblichen Fettnäpfchen - etwa »Klassenreduktionismus«, »Ökonomismus«, »Ausblendung der Strukturkategorie Geschlecht« - geflissentlich zu vermeiden sucht. Die »Rekonstruktion«, die Sonja Buckel treffend sowohl als Rekurs, als auch als Konstruktion versteht, ist dabei nicht nur die Herleitung ihres eigenen Beitrags zur Rechtsformanalyse, sondern bietet der Leserin gleichzeitig eine profunde Einführung in die beteiligten theoretischen Ansätze. Abschließend nimmt die Autorin die beschwerliche Aufgabe auf sich, diese rechtstheoretische Position anhand der sich real vollziehenden Transformationen des Rechts im Zuge der europäischen Einigung zu überprüfen und zu erden.

»Subjektivierung und Kohäsion«, so ja auch der Titel der Arbeit, macht Buckel letztlich als die beiden Hauptfunktionen des Rechts aus: Das Recht stratifiziert den sozialen Raum gleichzeitig auf trennende, als auch auf zusammenziehende Weise, indem es die Individuen einerseits in isolierte Parzellen verteilt, ihnen aber zugleich ein gemeinsames Gesetz oktroyiert. Eine demokratische und emanzipatorische Entscheidungsfindung und eine gewaltfreie Begegnung mit anderen ist im Recht, entgegen seines ursprünglichen Versprechens, nicht ermöglicht, sondern verstellt. Schade ist, dass sich die Autorin - trotz ihres sonstigen wohltuenden Pluralismus - mit dem akademischen Mainstream in der beharrlichen Nicht-Rezeption der rechtstheoretischen Studien Giorgio Agambens einig ist, hätte doch gerade Agamben Auskunft erteilen können sowohl über die potentiell katastrophale materielle Eigenkraft des Rechts wie auch über mögliche Auswege: Seine Kategorie der Profanierung bezeichnet eine kritische Operation, durch die das Recht von seinem Zwangscharakter gelöst und so den Menschen für ihren eigenen Gebrauch zurück gegeben werden könnte. Es ist stattdessen die Chiffre der »Selbstregierung«, der von der Autorin die anspruchsvolle Aufgabe zugemutet wird, eine Alternative sowohl zur individualisierenden und isolierenden, als auch zur bindenden, unterwerfenden Autorität des abstrakten Rechts zu markieren. Nur eine Demokratisierung der »Recht-Fertigungs«-Prozesse, so die Pointe des Buches, macht die Rechtsform für eine emanzipierte menschliche Gemeinschaft brauchbar, und es ist schon der Prozess dieser kollektiven Aneignung selbst, durch den eine solche Emanzipation antizipiert und vorbereitet wird. Die Definition von Adorno wird hier ganz wörtlich genommen: Aufgabe des Materialismus ist es, dem Idealismus zu seinem - und damit uns zu unserem - Recht zu verhelfen.

Daniel Loick

Sonja Buckel: Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts. Weilerswist 2007: Velbrück; 38,00 EUR