CRISIS? WHAT CRISIS?
Wie es scheint haben die Krise von 1929 und die derzeitige nichts gemein. Die aktuellen Bilder zeigen keine aufgeregten Schlangen von Kundinnen vor den Banken, die panikartig versuchen noch an ihr Geld zu kommen; die Schlangen vor Lebensmittelausgaben und Suppenküchen gibt es zwar, allerdings in den verschämten Nischen der Gesellschaft.
Gleichwohl gibt es einige Parallelen, aber auch einige gewichtige Unterschiede. Parallel sind zunächst einmal die weltweite Dimension der Krise sowie der Sachverhalt, dass die Krise von den USA ausging und mit dem Platzen einer Spekulationsblase dort zusammenhängt. Bezog sich die Blase von 1929 vor allem auf die Spekulationen im Lebensmittel- und Rohstoffsektor und ging mit einem Börsenfieber infolge des Nachkriegsbooms in den USA einher, ist der zentrale Auslöser der derzeitigen Krise das Platzen von drittklassigen Immobilienkrediten mit denen in alchemistischer Manier versucht wurde, aus (so gut wie) nichts Geld zu machen. Und es ist wohl lediglich eine Frage der Zeit, bis die Krise des Finanz- und Bankensektors endgültig auch auf die Realwirtschaft übergeht. Mensch kann gespannt sein, ob in den Geschichtsbüchern einst das Jahr 2008 als zentrales Datum für den Beginn einer Krisenperiode stehen wird, wie dies gemeinhin mit dem Jahr der Ölkrise von 1973 geschieht.
Ähnlich ist auch, dass beiden Krisen eine Zeit des wirtschaftspolitischen >laissez-faire< und der Liberalisierung der Finanzmärkte vorausging. So wurden die USA infolge des Ersten Weltkrieges zur ökonomischen Weltmacht und Gläubigernation und abgesehen von einer kurzen Nachkriegsrezession in den Jahren 1920/21 setzte dort ab 1922 ein bis 1929 einhaltender Boom ein. Unter dem Schlagwort des >Back to normalcy< sollte die dirigistische US-Wirtschaftspolitik der Kriegsjahre wieder dereguliert werden. Entsprechend war es kein Wunder, dass »die zur Geschäftsleutepartei gewandelte Republikanische Partei« (Adams 2000, 47) die Wahlen von 1920 deutlich gewannen und Präsident Calvin Coolidge (1923-1929) »zum Inbegriff konservativer laisser-faire Politik zugunsten eines freien Unternehmertums, dessen natürliches Regulativ die freie Konkurrenz auf dem Marktplatz war« wurde (ebd., 48), was sich auch unter Coolidges Nachfolger Herbert C. Hoover (1929-1933) fortsetzte.
Es waren die drastischen Erfahrungen der Krise seit 1929, bei der zeitweise ein Viertel der US-Amerikani-
sehen Bevölkerung arbeitslos war, über 6000 Banken zerbrachen und über 85000 Firmen, deren Aktien wertlos geworden waren, Konkurs anmeldeten (vgl. ebd., 55), die schließlich den Demokraten Franklin D. Roosevelt an die Macht brachten, der mit dem >New Deal< »unter beispielloser Ausdehnung der Kompetenzen der Bundesregierung« (ebd., 62) versuchte, der Krise entgegenzuwirken. Darüber hinaus wurden 1944 im Arrangement von Bretton Woods unter der Federführung von Harry Dexter White und John Maynard Keynes Institutionen mit dem Ziel ins Leben gerufen, die internationalen Kapitalbewegungen der politischen Kontrolle zu unterwerfen (vgl. Helleiner 1993, 22f.; Bieling 2007, 83 ff.). Keynes und White waren sich im Kern darin einig, dass es im Gegensatz zur liberalen Ordnung vor dem Krieg »internationalen Kapitalbewegungen nicht mehr erlaubt werden konnte, die politische Autonomie des neuen interventionistischen Wohlfahrtsstaates zu stören. Ihr Hauptanliegen war es die neuen, in den 1930er Jahren entwickelten makroökonomischen Planungsmaßnahmen abzusichern.« (Helleiner 1996, 33; Übers. J.K.) Und genau hiergegen richtete sich die spätestens seit Mitte der siebziger Jahre einsetzende neoliberale Offensive. Unter der Führung von Ronald Reagan und Margaret Thatcher und den hinter ihnen stehenden Fraktionen der Geld-Vermögenden wurde im Zuge der Krise der siebziger Jahre die Liberalisierung der Finanzmärkte erneut als Wundermittel gepriesen und entsprechende Schritte in die Tat umgesetzt, wodurch die Dynamik der miteinander um die besten Anlagemöglichkeiten konkurrierenden »Nationalen Wettbewerbsstaaten« eingeleitet wurde (vgl. Kannankulam 2008,107ff.).
Trevor Evans (2008) beschreibt anschaulich, wie die aktuelle Krise im Zuge der Liberalisierungspolitik seit Reagan auch durch die Reaktion der Federal Reserve Bank (FED) in den USA verursacht wurde. Angesichts drohender Finanzknappheit senkte die FED schon Ende der neunziger Jahre ihren Leitzins, um einer Krise des Kreditsektors entgegenzuwirken. Diese Politik des billigen Geldes (und Dollars) beförderte einerseits den US-Exportsektor, andererseits aber auch kreditfinanzierte Investitionen und Spekulationsblasen im IT-Sektor, die im Jahr 2000 dann platzten. Als Reaktion hierauf senkte die FED erneut den Leitzins von 6,5 Prozent im Januar 2001 auf ein Prozent im Jahr 2003. Mit dieser massiven Kreditexpansion einher ging einerseits ein Boom in denjenigen Märkten, die diese Kredite bündelten und handelten. Gehandelt wurden dabei jedoch nicht allein tatsächliche Kredite, sondern auch Erwartungen auf Kredite, Gewinne, die durch zeitliche Verschiebungen auftreten können oder Spekulationen auf Wechselkursschwankungen. Andererseits eröffnete diese Verschiebung und Bündelung von Krediten den Kreditnehmer innen die Möglichkeit, schon vorhandene Kredite durch weitere Kredite »gegenzufinanzieren« - natürlich zu ungleich höheren Zinssätzen. Vor dem Hintergrund dieser Möglichkeit ist auch der Boom im US-Immobiliensektor zu bewerten, denn angesichts des billigen Geldes und der Suche nach hohen Gewinnen wurden den unteren Klassen in den USA immens risikohafte, aber auch hochverzinste Immobiliendarlehen massenhaft angeboten, die dann wiederum gebündelt und dadurch von ihrem Risiko »weißgewaschen« wurden. So ein Spiel geht so lange gut, wie die Erwartungen auf die Immobilienpreisentwicklung weiterhin hoch sind, die Schuldnerinnen halbwegs sicher zahlen und vor allem keiner merkt, auf welch wundersame Weise hoch risikohafte Papiere zu »soliden« und enorm gewinnträchtigen Papieren umgewandelt wurden. Fliegt dies alles auf, passiert das, was wir seit einigen Monaten erleben: Banken gehen pleite und Kredite platzen, der Immobiliensektor bricht ein und diejenigen Banken, die zumindest vorläufig mit einem blauen Auge davon gekommen sind, halten wie Dagobert Duck ihr Geld mit Zähnen und Klauen fest.
Ein zentraler Unterschied zu der Krise 1929 ist jedoch, dass derzeit keinerlei ernstzunehmende wirtschaftspolitische Alternative sowohl kapitalismusimmanent, aber auch darüber hinaus in Sicht zu sein scheint. Ein Grund dafür ist wahrscheinlich, dass im Gegensatz zu 1929 der (realexistierende) Sozialismus, aber auch der Faschismus nicht als realexistierende Bedrohung im Hintergrund lauert und die herrschende Politik sich entsprechend auch nicht in größeren Rechtfertigungszwängen befindet. Der New Deal in den USA wie auch die einsetzende Konjunktur keynesianischer Wirtschaftspolitik als Reaktion auf die Krise von 1929 sind ohne das sozialistische Schreckgespenst, aber auch die vielfach vorhandene Faszination für den Faschismus (vgl. Vollmer 2006) wohl kaum zu erklären. Entsprechend verwundert es auch nicht, wenn Angela Merkel das Ansinnen Nicolas Sarkozys nach einer europäischen Wirtschaftsregierung ablehnt und die sich als Alternative darstellende LINKE durch Gregor Gysi in den Nachrichten (13.10.08) verkündet, dass man dem über 400 Milliarden Euro schweren »Bankenrettungsplan« der Bundesregierung zustimmen werde, da bei ausgehender Liquidität ja Gefahr bestehe, dass die Krise auf die Realwirtschaft übergeht. Dass LINKE und GRÜNE schließlich dann doch nicht zustimmten, erfolgte nicht aufgrund der grundsätzlichen Ablehnung einer solchen politischen Maßnahme, sondern mit der Begründung, dass sie an den Verordnungen, mit denen die Regierung das Gesetz spezifiziert, nicht beteiligt werden. Angesichts einer solchen Oppositionspolitik stellt sich die Frage, wie ernst es die LINKE und ihr Haus- und Hofpopulist Lafontaine mit ihrer Kapitalismuskritik meinen. Deutlich wird hier erneut die Verklärung des >guten< (deutsch)nationalen fordistischen Kapitalismus und die Verteufelung des bösen neoliberalen US-Finanzkapitalismus. Ausgeblendet wird dabei jedoch die deutsche und europäische Beteiligung an der Liberalisierung der Finanzmärkte seit den achtziger Jahren, woran nicht zuletzt der >Erfolg< des Neoliberalismus auch in der BRD hing. Ausgeblendet wird auch, dass ein Zurück zu nationalprotektionistischer Wirtschaftspolitik in Zeiten der globalen Verflechtung der Weltwirtschaft nicht (mehr) möglich ist. So wünschenswert aus keynesianischer Perspektive eine Rückkehr zu einem Regime fixer Wechselkurse auch sein mag, so illusorisch ist sie aktuell. Anstatt also das Kind beim Namen zu nennen und zu sagen, dass das, was uns derzeit entgegenschlägt, nicht bloße Entgleisungen eines ansonsten schon ganz netten Wirt-
schaftsystems sind - oder wie der ehemalige Deutsche Bank-Chef Hilmar Köpper gar den rhetorischen Spieß umzudrehen und die Gier der Leute nach immer höheren Renditen für die halsbrecherischen Spekulationen verantwortlich zu machen wäre es für eine wirkliche Opposition an der Zeit den Kapitalismus als das zu benennen was er ist: Eine Produktionsweise, die ganz sicher nicht das Wohl der Menschheit zu ihrem Zweck hat. Nicht von ungefähr schrieb Marx angesichts des von ihm im achten Kapitel des »Kapital« so eindrücklich beschriebenen Elends der Arbeiterklasse: »Das Kapital, das so >gute Gründe< hat, die Leiden der es umgebenden Arbeitergeneration zu leugnen, wird in seiner praktischen Bewegung durch die Aussicht auf zukünftige Verfaulung der Menschheit und schließlich doch unaufhaltsame Entvölkerung so wenig und so viel bestimmt als durch den möglichen Fall der Erde in die Sonne. In jeder Aktienschwindelei weiß jeder, daß das Unwetter einmal einschlagen muß, aber jeder hofft, daß es das Haupt seines Nächsten trifft, nachdem er selbst den Goldregen aufgefangen und in Sicherheit gebracht hat. Apres moi le deluge! [Nach mir die Sintflut!] ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation. Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird. Der Klage über physische und geistige Verkümmrung, vorzeitigen Tod, Tortur der Überarbeit, antwortet es: Sollte diese Qual uns quälen, da sie unsre Lust (den Profit) vermehrt? Im großen und ganzen hängt dies aber auch nicht vom guten oder bösen Willen des einzelnen Kapitalisten ab. Die freie Konkurrenz macht die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion dem einzelnen Kapitalisten gegenüber als äußerliches Zwangsgesetz geltend« (MEW 23, 285-86).
Angesichts der mangelnden parlamentarischen Opposition und des Tiefschlafs der üblichen Verdächtigen wie ATTAC ist es umso dringender, dass eine radikale Kritik sich organisiert und zusammen mit Arbeitloseninitiativen, Hartz IV-Betroffenen und anderen den offenkundigen Skandal politisiert, der darin liegt, dass diejenigen die vor Zeiten die politischen Weichen für die horrende Vernichtung von Kapital gestellt haben, nun ohne weiteres Milliarden von Euro zur >Rettung< ihrer Misere ausgeben können. Gleichzeitig sollen bspw. Hartz IV-Empfänger, die sich laut Berlins Finanzsenator Sarrazin von 3,76 Euro am Tag »völlig gesund, wertstoffreich und vollständig« ernähren können, weiter daran glauben, dass wenn sie sich rasieren und sich einen »ordentlichen« Haarschnitt verpassen lassen (Kurt Beck), sie schon aus ihrer Situation herauskommen. Und wer daran zweifelt, dem versucht >Überwachen und Strafen-TV< in Formaten ä la »Achtung Kontrolle! Einsatz für die Ordnungshüter« oder »Raus aus den Schulden« schon die rechte Gesinnung einzubläuen. Und für diejenigen, die sich selbst davon nicht überzeugen lassen, gibt es immer noch die große Exit-Perspektive ä la »Goodbye Deutschland!« - und das am besten nach Nordkorea wie Holger Appel in der FAZ (07.10.08) forderte. Aber vielleicht ist das ja nicht die einzige Möglichkeit um auf die Frage: »CRISIS? WHAT CRISIS?« zu reagieren.
John Kannankulam Für wertvolle Diskussionen, Anregungen und Kritiken bei der Erstellung dieses Artikels möchte ich Dietmar Flucke und Alek Ommert danken.
//_noten #1 Unter dieser Überschrift (genauer: CRISIS? WHAT CRISIS? Rail, lorry, jobs chaos - and Jim blames press) polemisierte die britische Sun gegen den britischen Premierministers James Callaghan, der im Winter 1978/79 nach der Rückkehr von einem G7-Gipfel in Guadeloupe von der britischen Presse zu den eskalierenden innerbritischen Auseinandersetzungen befragt wurde und wie folgt antwortete: »Well, that's a judgment that you are making. I promise you that if you look at it from outside, and perhaps you're taking rather a parochial view at the moment, I don't think that other people in the world would share the view that there is mounting chaos.« Der britische > Winter of Discontent< war ein Meisterstück der Offensive der rechten Boulevardpresse und trug wesentlich zum Machtgewinn Margaret Thatchers bei. Jener Winter wurde mit Bildern von Abfallbergen auf den Straßen und geschlossenen Schulen, da sie nicht gereinigt wurden, inszeniert. Bilder von mangels Bettwäsche in Alufolie eingewickelten Patientjnnen in Krankenhäusern oder sich türmenden Särgen, da die Totengräber_innen von Liverpool ihre Arbeit verweigerten, prägten diese Inszenierungen.
//_texte Adams, Willi Paul (2000): Die USA im 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg.
Bieling, Hans-Jürgen (2007): Internationale Politische Ökonomie. Eine Einführung. Wiesbaden: VS.
Evans, Trevor (2008): Marxists on the capitalist crisis 5: Trevor Evans. Auf: Solidarity 3/134, 26th June 2008, www.workersliberty.org/ taxonomy/term/719 [11.08] Helleiner, Eric (1996): States and the Reemergence of Global Finance. From Bretton Woods to the 1990s. Ithaca, London: Cornell.
Kannankulam, John (2008): Autoritärer Etatismus im Neoliberalismus. Zur Staatstheorie von Nicos Poulantzas. Hamburg: VSA.
Marx, Karl (MEW 23): Das Kapital, Band 1. Berlin: Dietz.
Vollmer, Florian (2006): Faschismusrezeption amerikanischer Eliten der 1920er und 1930er Jahre. Diplomarbeit am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der J.W. Goethe-Universität, Frankfurt am Main.