AIDS-Politik
Wie aus dem Nichts taucht Anfang der 1980er Jahre ein Schreckbegriff auf: AIDS. Die kurze und heftige Debatte über gesellschaftliche und gesundheitliche Bedeutung der Krankheit bündelt den Entwicklungsstand und die Gestaltungskraft der gesellschaftlichen Kräfte und der fachlichen Logiken, die sich in diesen Diskurs einbringen und sich die Krankheit in jeweils eigenem Sinne zu Nutze machen. Der nachfolgende Beitrag analysiert die Entwicklung der AIDS-Politik aus den Perspektiven von Medizin und Gesundheitsbewegung, schwuler Szene und Politik. Zunächst werden dabei die ersten Reaktionen in den frühen 1980ern dargestellt, auf die einige Jahre später der Definitionskampf um AIDS folgt. Die AIDS-Kritik verschiedener Kinder der Frankfurter Schule ebenso wie die Aktionen von schwuler und AIDS-Selbsthilfe verdeutlichen, wie aufgeladen die Diskussion geführt und welch grundsätzliche Bedeutung ihr beigemessen wurde. Dies erscheint heute im Zuge der Normalisierung von AIDS, weg von einer tödlichen und hin zu einer chronischen Erkrankung, eher überraschend - macht aber zugleich deutlich, dass manches uns heute selbstverständlich Erscheinendes sehr wohl eine spezifische Entwicklungsgeschichte hat und Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche ist. Die unterschiedliche Wirkungskraft der Kritik in USA und Europa ist im Wesentlichen bedingt durch die Integrationsfähigkeit der jeweiligen Gesundheitssysteme: Hier ist das in Europa verbreitete korporatistische Modell wesentlich aufnahmefähiger, wobei diese Systemstabilität andererseits durch Innovationssperrigkeit bedingt ist und eine weitere paternalistisch-bevormundende Entwicklung der europäischen Gesundheitsversorgung vorzeichnet.
Spontandiagnose und Spontanpolitik AIDS ist die Abkürzung für eine medizinisch definierte Erkrankung und Schwächung des körpereigenen Immunsystems in Folge von Virusinfektionen, die erstmals 1981 diagnostiziert wurden. Als Ursache wird ein Retrovirus angesehen, dem der Name »HIV« gegeben wurde. Die Übertragungswege dieser Infektion - u. a. über sexuelle Praktiken oder den gemeinsamen Gebrauch infizierter Nadeln beim Drogenkonsum - und ihr oft tödlicher klinischer Verlauf machen Behandlungsstrategien bis heute problematisch, da hier gesellschaftlich tabuisierte und teilweise rechtlich diskriminierte Praxen, Lebensweisen und -Verhältnisse wie (Homo)Sexualität, Prostitution, sexuelle Gewalt, Drogengebrauch etc. thematisiert werden müssen.
Bis Mitte der 1980er Jahre herrscht eine traditionelle seuchenrechtliche Orientierung zur Bekämpfung von
Massenepidemien vor. Die unzureichende biomedizinische Erkenntnis über HIV/AIDS und die fehlende Medikation verstärken medial vermittelte Diskurse um eine AIDS-Katastrophe, die in hysterischen Angstphantasien und heteronormativen Ausgrenzungen artikuliert wird - insbesondere gegenüber Schwulen, Prostituierten und afrikanischen Migrant_innen. Seit Mitte der 1980er Jahre setzen sich jedoch in nahezu allen Industriestaaten konsensorientierte Politiken der Aufklärung und Verhaltensprävention durch, wenn auch national ungleichzeitig und mit unterschiedlichen Ausprägungen und Widersprüchen. Das ungenügende Versorgungsangebot im Gesundheitswesen, wirtschaftspolitische Interessen und bürgerrechtlicher Protest legten nahe, auf selbstversorgende Aktivitäten von Betroffenen und Arbeitenden im Gesundheitswesen zu rekurrieren und diese Dienstleistungen zu »inkorporieren», das heißt sie als Teil eines Modernisierungsprozesses in die bestehenden Strukturen des Gesundheitswesens einzubinden. Die bis dahin unvergleichlich hohen Investitionen in eine gewinnbringende Medikation zeitigen Ende der 1980er Jahre die Einführung von lebensverlängernden Therapien, die neben der Erfahrung stabiler Infektionsraten zur Entdramatisierung von AIDS beitragen.
Im Zuge des Protestes gegen die Diskriminierung und im Kampf für angemessene Gesundheitsversorgung konnten zugleich schwule Lebensweisen gesellschaftlich thematisiert werden und fanden weithin soziale Integration. In Anlehnung an den in der Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation 1986 konzeptionalisierten Ansatz der Gesundheitsförderung wurde im Zusammenwirken der Schwulen- und Gesundheitsbewegung die Institutionalisierung spezifischer Betreuungs- und Versorgungsstrukturen für die »schwule Community» errungen - im Gegensatz zu anderen Betroffenen wie Drogenabhängigen, Prostituierten, Migrant innen, Frauen.
Trotz der allgemeinen Zustimmung bilden selbstbestimmte Versorgungsstrukturen ein marginales Entwicklungskriterium für das gesamte Gesundheitswesen und sind im Zuge neoliberaler Vorgaben zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die nationalstaatlichen Gesundheitswesen durch »Eigenvorsorge» auch finanziell zu entlasten, existenziell infrage gestellt. Bis heute ist umstritten, ob die sogenannte »AIDS-Katastrophe» in den »dritten Welten» eine Hinterlassenschaft »weißer«, kontrollorientierter, epidemiologischer und einseitig virologischer Sichtweisen im Interesse der Entwicklungspolitik und Pharmaproduktion der Industriestaaten ist und so Erkrankung und Verelendung aufgrund Armut und Krieg verdeckt bleibt.
Die Auseinandersetzung um die Definitionsmacht
Virologen und Epidemiologen erhoben den Anspruch zur definitorischen Bestimmung und sicherheitspolitischen Regulierung von HIV/AIDS. Die zunächst in New York und San Francisco diagnostizierten Infektionen werden von lokalen Ärzt innen zunächst eher phänomenologisch als >GRID< (Gay Related ImmunoDeficiency) beschrieben, da sie bei Schwulen diagnostiziert werden. In Analogie zur hohen Verbreitung von Geschlechtskrankheiten unter Schwulen konzentriert sich die medizinische Fachpresse darauf, Zusammenhänge zwischen der Übertragbarkeit durch sexuelle Praktiken, den (promisken) Lebensstil von Schwulen in der Subkultur, die Einnahme von SzeneDrogen und dem meist tödlichen Krankheitsverlauf zu erörtern. Gegen die wachsende Einsicht ärztlicher Praxis in unterschiedliche Infektionswege und verschiedene folgende Überbelastungen des Immunsystems vereinheitlicht die US-amerikanische Behörde für Seuchenkontrolle CDC (Centers for Disease Control) 1983 die Erkrankung zu »einem Syndrome mit der Bezeichnung AIDS (Acquired Immune Deficiency Syndrome) und legt in Folge eher willkürliche Grenzwertangaben fest. In Tradition einer herkömmlichen Epidemiologie, die in linearen Ursachen-Wirkungs-Effekten der Medizin des 19. Jahrhunderts denkt, wird die CDC-Definition weltweit als Orientierungseinheit übernommen. Auf dieser Grundlage beginnt ein Forschungswettbewerb in der Virologie, um Herkunft, Arten und Übertragungswege des Virus und um Bestimmung der Mittel zu seiner Bekämpfung. Konkurrenzkämpfe um Definitionsmacht und die zu gewinnenden Anteile aus Patentrechten für nationale Forschungsinstitute und Pharmakonzerne, wie auch nicht zuletzt um individuelle Karrierevorteile von Virologjnnen - wie die von Robert Gallo und Luc Montagnier - zwingen zu einem internationalen Regierungskonsens 1985, weltweit von einer gemeinsamen Virusbezeichnung HIV (Human Immuno-Deficiency Virus) auszugehen. Dies ermöglicht die Erneuerung der hegemonialen Erklärungsweise für >die< Heilung, »die» Medizin - unter notwendigem Ausschluss ambivalenter Forschungsergebnisse. Sukzessive wird neues biomedizinisches Wissen über >das< HIV vergesellschaftet, welches >die< Krankheit zunehmend differenziert, aber zugleich unter der medizin-, politik- und geschäftsfähigen Einheitsvorstellung >HIV< labelt: wie die mehrfachen Übertragungsweisen >der< Virusinfektion (sexuelle Praktiken, Transfusion infizierten Blu-
tes, Transplantation infizierter Organe, gemeinsamer Gebrauch von infizierten Nadeln bei intravenösem Drogenkonsum, Mutter-Kind-Übertragung u. a.) oder die unterschiedlichen Vorkommensweisen und die Veränderlichkeit des Virus (genetischer Polymorphismus) etc. Im sprachlichen Gebrauch hält sich bis heute die medizinische Unterscheidung zwischen HlV-Infizierten und AIDS-Kranken, womit die Stadien des klinischen Verlaufs der Erkrankung bis zum Tod und auch die Aggressivität des Erregers verallgemeinert werden.
Offene Fragen zum Ursprung des HIV und eindeutigem Nachweis des Erregers und seiner Medikation aktivierten den Regulierungsanspruch der traditionellen Epidemiologie: Prognosen der definitionsmächtigen CDC von stark ansteigenden Infektionsraten - und damit der Gefahr einer möglichen Massenepidemie und ihre Orientierung auf bevölkerungspolitische Maßnahmen der Seuchenbekämpfung erinnern an Szenarien der Beherrschung der Syphilis im 19. Jahrhundert. Bis Mitte der 1980er Jahre werden so Instrumente legitimiert, Infizierte zu identifizieren und zu isolieren - mittels allgemeiner Zwangstestung und der Meldepflicht von Infizierten, ihre räumliche Absonderung und die Rückverfolgung ihrer sexuellen Kontakte. Die sich formierende autoritäre Strategie zur Bewältigung von HIV/AIDS mobilisiert durch Angst und Hilflosigkeit begründete Zustimmung in Politik, Medien und Bevölkerung, aber auch wissenschaftliche Kritik und bürgerrechtlichen Protest. Sukzessive schränken die nationalen Seuchenbehörden den Kreis >sicherheitsgefährdender< Personen ein: Sind zunächst noch vielerorts Staatsbedienstete mitgemeint, konzentriert sich letztlich das Augenmerk auf traditionell gesellschaftlich Diskriminierte wie Schwule, Drogenabhängige, Prostituierte und Armutsmigrant_innen als so genannte »promiske Hauptrisikogruppen«. In den Massenmedien entfaltet sich der spekulative Charakter der AIDS-Epidemiologie: Die bekannteste These war das Eindringen des Virus von wahlweise Afrika oder Haiti in die USA und seine weltweite Verbreitung mittels promisker und mobiler Schwuler als Hauptrisikogruppe. Konnotationen der Infektionskrankheit mit Krieg und Rassenhygiene prägen das medial vermittelte sprachliche Alltagsverständnis von AIDS als »Schwulenpest« oder »Todesseuche«. Die Personalisierung von Aids schreibt Hauptrisikogruppen eine widersprüchliche Lebensweise sexueller Promiskuität zu - als Täterinnen und Opfer. Gegenüber in der Minderheit bleibender wissenschaftlich-aufklärerischer Berichterstattung kommt es zu diskursiven Strategien der vereinfachten Gegensätze, Moralisierung, Skandalisierung, Dramatisierung und Hysterisierung und dem Interesse kommerzieller Medien an der Meinungsführerschaft einer »Testermutigungspolitik«. Sich gegenseitig verstärkende Artikulationen um autoritäre Lösungen in den Medien und konservative gesellschaftliche Kräfte kennzeichnen die Diskurslandschaft, wie zum Beispiel die staatstragende Rhetorik der deutschen Gesundheitsministerin Rita Süssmut 1 , die in anderen Ländern ähnlich artikuliert wird.
Unterschiedliche und ungleichzeitige Weisen sozialer Ausgrenzung werden durchgängige Erfahrungen in nahezu allen Industrieländern, zum Beispiel der Ausschluss vieler HlV-Infizierter vom (Vor-)Schulunterricht, Arbeitsplatz, Militär, aus Familien oder von öffentlichen Einrichtungen, auch vom Gesundheitsdienst. In den USA werden in einigen Bundesstaaten Gefangene und Prostituierte in Quarantäne isoliert. Schwulensaunen, Drogenhandel und Prostitution unterliegen nationalstaatlich unterschiedlich scharfer Kontrollen. Bis heute werden Urteile im Strafrecht gesprochen, in denen Infizierte belangt werden, andere insbesondere durch sexuellen Kontakt - fahrlässig infiziert zu haben. Die Politisierung von AIDS bringt nationalstaatlich diskontinuierliche Weisen der Verarbeitung hervor, abhängig von den jeweiligen kulturell und moralisch besetzten Gepflogenheiten im Umgang mit Sexualität, Drogenkonsum, Privatleben, den Rechten von Minderheiten und dem Bewusstsein einer Gefährdung der öffentlichen Gesundheit. Der sich einbürgernde Begriff >Aids< in Kleinschrift verweist auf einen den medizinischen Diskurs erweiternden Regulierungskontext von Gesundheit/Krankheit. Dabei ist auch die Bedeutung der Reorganisation der korporatistisch strukturierten Gesundheitssysteme in der sozioökonomischen Krise der 1980er Jahre in den Industrieländern zu berücksichtigen: Wirtschaftspolitische Interessen der Pharmaindustrie verbinden sich durchaus mit einer staatsautoritären Politik der >Testermutigung< genauso wie organisatorische, finanzielle und bürgerrechtliche Gründe das Interesse staatlicher Gesundheitspolitik davon abrücken lassen. Die Neue Rechte in der USA unter Ronald Reagan nutzt AIDS als Angriffspunkt zur Erneuerung nationaler Moral und Autorität gegen »Abweichung« und »Degeneration«, die zugleich außenpolitische Strategien militärischer und wirtschaftspolitischer Vorherrschaft legitimieren soll. Im Kompromiss mit der bürgerlichen Schwulenbewegung - die rechtliche Sicherung des Privatlebens - geht der Verzicht auf eine Politik der Diskriminierung und Zwangsgewalt einher mit der Disziplinierung gegen eine umfassende Inanspruchnahme des Staates für die Gesundheitsversorgung. Die Gesundheitsapparate westeuropäischer
Länder sind stärker auf sozialstaatliche Integration verpflichtet. Der Aufruf zur »Toleranz« und »humanitärer Hilfe« in staatlichen Kampagnen wird an ein (sexuelles) Verhalten der »Zurückhaltung« gebunden und ist zugleich von der Reartikulation von Treue und Familie überlagert. Mit der konsensorientierten Begründung von AIDS als Ausnahmefall normaler Gesundheitspolitik werden nationale Beratungs- und Steuerungsgremien geschaffen. In Ländern mit föderal strukturierten Institutionen und mit anerkannten und mobilisierungsfähigen Schwulenorganisationen partizipieren diese an der Aushandlung kooperativer Maßnahmen AIDS-spezifischer Versorgung, was zu ihrer institutionalisierten Auslagerung aus der allgemeinen Gesundheitspolitik führt. Die Normalisierung der Ausnahme entkräftet strategisch die Kritik an der hegemonialen Interessensicherung von Arzteverbänden, profitorientiert organisierter Pharmaindustrie und medizinischer Forschung im Gesundheitsapparat, wie auch ihrer Kritik an heteronormativer Vergesellschaftung - dies u. a. in Deutschland, Niederlande, Australien und Kanada. In Ländern mit zentralistisch gesteuerten Gesundheitssystemen wie in Großbritannien und Frankreich wird eine nachholende AIDS-Politik von bürokratischen Gesundheitsexpert_innen dominiert. In Großbritannien wird die Thematisierung von Sexualität von einer Moral der Privatheit kanalisiert, während in Frankreich die Moral eines universalistisch orientierten Sozialstaates die spezifische Betroffenheit Schwuler unterordnet. In südeuropäischen Ländern (katholisches Sozialmodell) wie auch in Japan bleibt AIDS-Politik ein unterdrücktes »NichtThema«; schwule Lebensweisen sind bis heute marginalisiert. In Südeuropa verschiebt sich die Infektion zunehmend auf Drogenabhängige. Außer in den Niederlanden und ansatzweise in Dänemark und in der Schweiz bleiben Integrationspolitiken für Drogenabhängige, Migrant_innen, Prostituierte und Gefangene weitgehend einer restriktiven Sicherheitsmoral untergeordnet. >Bluter< erhalten in den meisten Ländern eine staatliche Entschädigung für die Infizierung über staatlich zur Verfügung gestelltes Blutplasma bei Transfusionen; moralisch legitimiert als »unschuldige Opfer« der Infektion.
AIDS-Kritik
Kritik der Sexualwissenschaften und Psychologie bezieht sich in den 1980er Jahren vorwiegend auf die Bedeutungskämpfe um eine heteronormative, patriarchale und sexualfeindliche Remoralisierung. Psychoanalytisch orientierte Positionen erkennen in der Dramatisierung von AIDS Strategien zur Produktion kollektiver Angst und Schuld gegenüber sexuellen Bedürfnissen und das >Ventil< Aggressionen und Hass auf HlV-Infizierte zu verschieben. Politisch sei eine solche kollektive Hypochondrie zur Erneuerung autoritärer Sexualitätskontrolle nutzbar: Die vielfach wiederholten ideologischen Verankerungen von Enthaltung, Treue und Familie trieben die Legitimation homophober Diskriminierungen voran; »krypto-faschistische Reaktionen« im AIDS-Diskurs reaktivierten »Selektionsphantasien und Sagrotanideologien«, wie es 1986 im Konkret-Sonderheft zu AIDS heißt. Hier findet sich auch die kulturtheoretische Kritik, dass Sexualität schon seit dem 18. Jahrhundert als Gefährdung gehandelt werde. Die Reduktion der Frage auf die Diskriminierung, Kontrolle oder Anerkennung von Schwulen(sex) im AIDS-Diskurs begrenze Konsens auf der Ebene von Sozialtechniken. Die Sexualwissenschaft zeigt sich als scharfe Wortführer_in im Abwehrkampf gegen den Einbruch der tradierten Zwangsmoral, gewinnt darüber hinaus jedoch kaum an Einfluss. Die Sexualwissenschaft stellt eben das medizinische Paradigma des >AIDS als Infektionskrankheit< nicht substantiell in Frage, so dass sich ihre Ideologiekritik und Krisenanalyse mit dem späteren Vorweisen lebensverlängernder Medikation relativiert. In der hegemonialen Bewegung einer medizinischen Lösung von AIDS reduziert sich der Blick auf das korporatistische Interesse der Pharmaindustrie und Hochtechnologie wie der ihnen unterworfenen Regierungspolitik. Die Zivilisationskritik der Sexualwissenschaft kritisiert die Unterwerfung der schwulen Selbsthilfebewegung in Europa unter die weltweite Hegemonie eines institutionalisierten Sozialdarwinismus, angeführt von einer durch kriegerische Sicherheits- und Sexualneurosen geprägten Innen- und Außenpolitik der USA. Weitgehend unberücksichtigt bleiben darin jedoch die durch sie vorgegebenen Lebensmöglichkeiten und die widersprüchlichen Kämpfe um diese, die ihrerseits wiederum erhebliche Mobilisierungspotenziale beinhalten, wie die schwulen- und bürgerrechtliche Bewegung schon zeitgleich aufzeigt.
In der Abgrenzung von sich erneuernder feministischer und Kapitalismuskritik, kritischer Medizin wie auch von Perspektiven der Gesundheitsbewegung erklärt sich die Ablehnung der Sexualwissenschaft gegenüber der in den USA dominierenden Debatte, AIDS als stigmatisierende Metapher zu interpretieren. Der Rekonstruktion der symbolischen Ordnung von AIDS als Krankheit durch die bekannte amerikanische Kolumnistin Susan Sontag wird vorgeworfen, die Lösungsorientierung auf Stigmamanagement im Sinne
des Soziologen Goffmann zu verstärken, da sie nicht die Ebene der Moral überwindet. In dieser Kritik wird übersehen, dass Sontag die herrschaftliche Bedeutung von Moral an die Analyse männlicher Handlungsfähigkeit bindet und so die Perspektive »sexueller Befreiung« im Kontext selektiver staatlicher Repression und Freiheitsbewegungen in kapitalistischen Reproduktionsverhältnissen verschiebt: In der Verbreitung von risikolosem Freizeit-Sex als unvermeidliche Neuerfindung der Kultur des Kapitalismus, abgesegnet auch von der Medizin, sei die komplementäre Anordnung der Übung in kapitalistischer Flexibilität, begleitet mit Übungen der Selbstkontrolle (Safer Sex) schon vor AIDS zu erkennen. Die in der Abwehr von AIDS eingespannte Disziplinierung reagiert auf die sexuelle Depression und bedient die Verschiebung der Bedürfnisbefriedigung auf Safer-Sex-Märkten. Metaphern wie die Gleichsetzung von AIDS und Katastrophe gerieten zu wirkungsmächtigen kulturellen Vermittlern selektiver Erinnerungen des Kampfes gegen frühere Pest- und Syphilis-Epidemien: Reartikuliert wird die Projektion eines idealisierten gemeinsamen Kampfes gegen die Krankheit, tabuisiert aber die globalisierte moralische Krise, dass durch AIDS die Jagd nach Geld und isolierenden Vergnügungen vor allem von weißen, hochqualifizierten und artikulationsfähigen Männern prakktiziert wird.
Anders als Sontag greift Wolfgang F. Haug die Leerstelle der Mobilisierungswirkung autoritärer AIDSPolitik im Übergang zur hochtechnologischen Produktionsweise in der Kritik der Sexualwissenschaft auf, um die Stabilisierung herrschender Kontrolle von Sexualität in kapitalistischen Gesellschaften zu erklären. Über Michel Foucault hinausgehend, der Sexualität nicht als Widerpart von Herrschaftsmacht, sondern das Sexuelle als Brennpunkt von Machtbeziehungen und Subjektivation als Produkt von Diskurseffekten versteht, untersucht Haug die Vergesellschaftung in der Herausbildung individueller sexueller Handlungsfähigkeit. Mit dem Rückgriff auf das ideologische Material kultureller, medizinischer und moralischer Diskurse des Syphilis-Paradigmas im 19.
Jahrhundert wirken in der AIDS-Politik neue Weisen der Rationalisierung der Lebensweise, Durchsetzung einer Diätetik der Leistungsfähigkeit, Körpertraining, Abhärtung, Willensstärkung: Eine allseitige Mobilisierung der Subjekte für Leistung und Leistungsfähigkeit, die als Gesundheit und Schönheit artikuliert waren, fasst die Praktiken der Selbstnormalisierung zusammen und normiert sie ihrerseits von Staats wegen. In Anlehnung an Antonio Gramscis Fordismusanalyse skizziert Haug neue kulturelle Individualisierungsformen: Individuen über alle Klassen-, Kultur- und Identitätsgrenzen hinweg begegneten sich eigenverantwortlich und in je spezifischer Weise in der massenhaften Nachfrage nach Fitness und Gesundheitspflege zur Aneignung von Qualifikationen in Fragen der Lebensweise und des Kapitalmanagements, als Restauration des Privaten, die Chancen und Karriereräume multipliziert. Dies verbindet sich mit einer neuen sozial- und gesundheitspolitischen Selektion der Leistungsfähigkeit und wird koppelbar mit sexualitätsfeindlicher AIDS-Politik, die an Ängste, Schuldgefühle, Projektionen - eine Verschlingung medizinischer und moralischer Diskurse - anschließen und eine Formation populistischer Dynamiken hervorbringt. In Anbetracht einer derart analysierten staatlichen Funktionalisierung der Gesundheitsinstitutionen verbleiben Gesundheitsbewegung und alternative Kulturbestrebungen als zentrale Hoffnungsträger.
AIDS- und Schwulenbewegung
Angesichts der Erfahrung noch weiter gehender Kriminalisierung von Homosexualität wird die Entstehung einer AIDS-Selbsthilfebewegung von den in den meisten Ländern zunächst noch zersplitterten Schwulenbewegungen initiiert. Vorreiter sind Solidaritäts-, Aktions-, Lobby- und Selbsthilfe-Gruppen in den USA wie die 1981 entstehende »Gay Men's Health Crisis« oder später das übergreifende Bündnis und Netzwerk »People with AIDS Coalition«. Agiert wird zwischen Abwehr, Lobbyarbeit und Aufklärung: Diskriminierung und Ausgrenzung durch offizielle Gesundheitspolitik und Medien, ebenso wie die Projektion der Epidemiegefahr mobilisieren organisierte Gegenwehr; in Tradition der 1970er Jahre werden Gesundheitsprobleme von Schwulen thematisiert und medizinisches Wissen geprüft. Die organisierte Interessenvertretung gegenüber staatlichen Institutionen wird von weißen, gebildeten Schwulen aus der Mittelschicht dominiert, die ihre flexiblen, autonomen und ungebundenen Lebensweisen und die sexuelle Subkultur in den Metropolen durch autoritäre AIDS-Politik angegriffen sehen. In der Verhandlung von Umgangsweisen mit der vornehmlichen Infektion mit HIV / AIDS über sexuelle Praktiken und über gemeinsamen Spritzengebrauch beim Drogenkonsum erfolgt eine frühe Annäherung an die Programme der CDC zur Verhaltensprävention (Safer Sex), auch begründet in der Sicherung des Zugangs zu einer medizinischen Lösung. In der Auseinandersetzung um Privatsphäre, Sexualverhalten, Drogengebrauch und Grenzen staatlicher Intervention und Fürsorge radikalisiert sich der Protest linker, feministischer und anderer oppositioneller
Aktivistinnen, die eine weiße, von der Mittelschicht dominierte AIDS-Industrie in den westlich dominierten AIDS-Organisationen sieht, welche nicht nur die Geldmittel, sondern den gesamten Diskurs kontrolliert. Die daraufhin 1987 gegründete »AIDS-Coalition to Unleash Power« (ActUp) stört gezielt die öffentliche Ordnung durch Sit-Ins an zentralen öffentlichen Plätzen, die Erstürmung der New Yorker Börse oder der Besetzung der Nationalen Gesundheitsbehörde und der New Yorker Kathedrale. Ziel ist dabei die Mobilisierung einer informierten Öffentlichkeit gegen die korporatistische Politik von Reagan-Administration und Pharmaindustrie, die den allgemeinen Zugang zu wirksamer Medikation und zu weitergehenden Präventionsprogrammen (wie Spritzentausch für Drogenabhängige) verschleppen. Mit der radikalen Forderung nach völliger Individualisierung der Normen zur Arzneimittelerprobung eilt die Selbsthilfebewegung aber auch den zehn Jahre später artikulierten Strategien zur Verwertung der Gentechnologie voraus. Entgegen eines ethischen Regelsystems sollen nur noch autonome Entscheidungen der potentiellen Versuchspersonen gelten. Demokratisierung und Partizipation werden als Gegenmacht zu Staat, Wissenschaft und Wirtschaft erklärt: An die Stelle der von oben verfügten Forschungspläne, so der Vorschlag, solle ein demokratischeres Modell der Gleichberechtigung treten, bei dem ein Interessenausgleich an die Stelle wissenschaftlicher Autorität treten müsse.
Der Protest von ActUp gegen die Ungerechtigkeiten des us-amerikanischen Gesundheitsversorgungssystems, in dem der verarmende Teil der Bevölkerung unzureichend krankenversichert ist, bleibt letztlich wirkungslos. Die Technik der Gegen-Skandalisierung, bei der das hegemoniale medizinische AIDS-Paradigma nie durchbrochen wurde, wird von der entdramatisierenden Einführung lebensverlängernder Medikationen Ende der 1980er Jahre eingeholt. Zugleich bewirkt der sich durchsetzende Moralkodex einer eigenverantwortlichen Verhaltensprävention in der Schwulenszene ein Absinken der Infektionsraten: In dem Maß, wie sich das gesundheitspolitische Augenmerk von den Homosexuellen, bei denen die Zahl der HlV-Infektionen in den letzten Jahren niedrig geblieben ist, auf arme afro- und hispanoamerikanische Drogenkonsument_innen und deren Sexualpartner innen verlagert, schwindet auch die solidarische Repräsentation einer allgemeinen gesundheitspolitischen Alternative durch die in der AIDS-Kritik dominierende Schwulenbewegung. Die folgenden Kämpfe von ActUp konzentrieren sich auf die Preispolitik der Pharmakonzerne, verlieren aber zunehmend an Mobilisierungswirkung. AIDS-politische Aktivitäten der Selbsthilfebewegung verlagern sich zurück in geschlechts-, klassen- und ethnisch segmentierte lokale Versorgungsnetzwerke und Hilfsdienste. Nach dem Vorbild der US-amerikanischen Protestkultur bilden sich weltweit Acflip-Gruppen in vielen Metropolen. In Europa entwickelt ActUp keine Wirkungskraft auf die umbrechenden paternalistisch-sozialstaatlich orientierten Politiken und löst sich bald auf, denn die Boykottkampagnen und die versorgungsbezogenen Aktionen von ActUp weisen auf eine gesellschaftstheoretisch und politisch inkohärente Art von politischem Aktionismus hin, bei dem das subjektive Gefühl der eigenen Betroffenheit in den Mittelpunkt gestellt wird, aber kaum politische Kooperationsfelder eröffnet werden. Kulturell haben die Protestformen von ActUp nachwirkenden Einfluss auf avantgardistische metropolitane Protest- und Theaterkultur wie auch auf Werbungsästhetik. In den US-amerikanischen Literaturwissenschaften, Gay Studies und Cultural Studies werden die Kategorien der Identität und Repräsentation im Kontext von ActUp und AIDS akademisch reflektiert, dabei aber meist die klassengeschlechts-ethnien-übergreifende Perspektive in ihren Kämpfen nivelliert.
Die unterschiedlichen Bedingungenin USA und Westeuropa
Die zugespitzten und vorauseilenden Auseinandersetzungen in der US-amerikanischen AIDS-Politik sind zunächst das dominante Orientierungsmuster in Westeuropa, auch wenn die zentrale Problematik der gesundheitlichen Unterversorgung weiter Kreise der Bevölkerung nur in den USA gegeben ist, nicht jedoch in vergleichbarem Maße in Europa. Auch wenn die Schwulenbewegungen weniger etabliert sind, so erweisen sich die europäischen Solidarsysteme als handlungsfähiger und orientieren sich früh auf Politiken der Verhaltensprävention. Stärker als in den USA wird der epidemiologische AIDS-Diskurs von den Grenzen der staatlich organisierten Gesundheitssysteme gebrochen, die sich in den kommunalen Erfahrungen mit einer unzureichenden Beratung und Versorgung zu HIV / AIDS offenbaren. Gegen staatlich-repressive Vorhaben zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten durch Intimkontakte streiten Selbsthilfeorganisationen - im Zusammenwirken mit Sozialwissenschaftler_innen und Psychologinnen, Vertreterinnen der Medizin, Pflege und nicht medizinischen Heilberufen - um die Anerkennung alternativer Ansätze der Prävention und Gesundheitsförderung, in denen das naturwissenschaftliche Paradigma und der kurative
Ansatz relativiert werden. Dies bleibt in den USA auf die lokale Zusammenarbeit von Selbsthilfegruppen und gesundheitspolitischen Institutionen reduziert. Im Gegensatz zur Kernkategorie der Pathogenese in der Biomedizin orientiert sich die Gesundheitsbewegung an der Entstehung von Gesundheit und Wohlbefinden in einem soziokulturellen Kontext der sozialen Integration: Die Perspektive von Selbstbestimmung und Eigenkompetenz für einen »befreienden« Umgang mit dem eigenen Körper ist verbunden mit der Herausbildung gesellschaftlicher Lernstrategien. Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock (1992) spricht den Errungenschaften der Gesundheitsbewegung in der AIDS-Politik die Rolle eines Modellfalls zu: »AIDS war und ist seit vielen Jahrzehnten der erste Anwendungsfall einer massiven und nicht primär auf die Medizin gestützten Gesundheitssicherungspolitik«. Allerdings nimmt sich der Anteil alternativer Versorgung verschwindend gering aus gegenüber dem Grad symbolischer AIDS-Politik und der Größe institutioneller Kurativmedizin; das Handlungsfeld umfassender Gesundheitsförderung bleibt marginal. Die staatliche Anerkennung und Finanzierung flexibeler, selbst organisierter und zugleich gesellschaftlich notwendiger neuer Versorgungsformen konzentrierte sich auf die soziale Partizipation der schwulen Gemeinschaft, deren Aktivitäten besser ausgestattet werden als die jeder anderen Krankenselbsthilfe. Die Ausweitung partikularer Handlungs- und Gestaltungsautonomie quer zur allgemeinen korporatistischen Machtstruktur lenkt die Kritik an ihr auf die Teilhabe an ihrer Modernisierung. Am Beispiel der Deutschen AIDS-Hilfe zeigt sich die »Inkorporierung« zunehmend erweiterter Dienstleistungen der nichtmedizinischen Selbsthilfe ins staatliche Gesundheitswesen, die das Behandlungsmonopol der Biomedizin aber nicht problematisieren.
Die sich erweiternde Medikation von HIV / AIDS und die sich durchsetzende Neoliberalisierung der Gesundheitspolitik in den 1990er Jahren verschieben das widersprüchliche Verhältnis von Marginalisierung und Integration in der AIDS-Politik erneut: Der Übergang in eine behandelbare chronische Erkrankung als medizinische Normalisierung von AIDS bricht die vormals enge metaphorische und biologische Verknüpfung von AIDS und Tod auf, zugleich auch der damit begründete Charakter des Besonderen in der AIDS-Politik. In der veränderten Politikkonfiguration einer neoliberal geprägten Skandalisierung von staatlichen Versorgungsstrukturen, die die Unmöglichkeit, ökonomische Steuerungskriterien für das Gesundheitswesen zu entwickeln, überformt, dient die strategische Delegation von Verantwortung als moralisch-konsensuelle Orientierung zwischen Interessengruppen und legitimiert zugleich staatliche Kontrolle der Gesundheitspolitik und -Wirtschaft. Die Anforderung, spezifische HIV/AIDS-Versorgung als inhaltliche und organisatorische Tätigkeit in re-privatisierten und konkurrenzorientierten Praxisverhältnissen zu reorganisieren, wirft die Frage des Verhältnisses der Einzelnen zur Sexualität und - vermittelt darüber - die Beziehungen zu anderen neu auf. Mit der sich auflösenden Identitätsstiftung von Schwulen über ihre kollektive soziale Ausgrenzung sind solidarische Praxismuster wie das in der schwulen Selbsthilfebewegung erprobte »Buddy«-Modell in Frage gestellt: die Vermittlung von »Lebensqualität« erweiternden Repräsentations-, Betreuungs- und Pflegekompetenzen an Freund_innen und Verwandte der Infizierten, eingebunden in ein »Community Building« mit umfassender soziokultureller Infrastruktur. Vorbote der Kämpfe um die Absicherung privilegierter Versorgung ist die unzählige Ratgeber_innenliteratur zum Umgang mit AIDS, die die Verabschiedung der Selbsthilfe von bewegungsorientierter, gesundheits- und sozialwissenschaftlicher Kritik anzeigt.
Hier zeigt sich das Dilemma der Inkorporierung durch das Gesundheitssystem: auch wenn die in den USA erfolgte Eskalation vermieden und die AIDS-Versorgung in Europa wesentlich bürgerrechts- und patient_innenorientierter erfolgt, so bleiben die Innovationen doch marginal und können sich kaum im Gesundheitssystem verankern. AIDS bleibt ein Phänomen aus langer Vergangenheit, auf deren Hintergrund die Schwulenbewegung Rechte und Anerkennung erkämpfen kann, ohne dass dieser emanzipatorische Ansatz für durchaus stärker belastete Bevölkerungsgruppen wie Drogennutzer_innen, Prostituierte oder Migrant_innen zum Tragen kommt.
Raimund Geene //_noten #1 In dem von ihr selbst geschriebenen Buch zu AIDS heißt es: »Unser Verständnis von demokratischer Gesellschaft und demokratischem Staat, unser Menschenbild und unsere Vorstellungen von Zusammenleben stehen auf dem Prüfstand« (Süssmuth 1987: 24).
//_txt Rolf Rosenbrock (1992): AIDS. Fragen und Lehren für Public Health. In: Heinz-Harald Abholz et al. (Hg.): Wer oder was ist Public Health? Jahrbuch für Kritische Medizin, Band 18. Hamburg Rita Süssmuth (1987): AIDS - Wege aus der Angst. Hamburg