Wie westlich ist Westdeutschland ?
Liebe Anwesende, wir wissen noch nicht, was praktisch heute abend herauskommen kann, auch nur vorbereitend herauskommen kann, nur soviel, daß von der Zukunft dieses Falles Peter Paul Zahl einmal gesagt werden könnte, daß das Schicksal der Demokratie in diesem Land an ihm sich entschieden hat. Man kann von Zahls Fall gar nicht reden, ohne von mehr als nur ihm zu reden. Beispielhaft, wie ich zu zeigen versuchen, werde, faßt in diesem Fall sich zusammen, was seit ungefähr 1970 in der BRD wirklich im Gange ist, nämlich die Wiederauftischung unserer schlechtesten, von der Menschheit mit Recht verachtetsten Traditionen: von den Berufsverboten über die Entrechtung unbequemer Strafverteidiger bis zu einer sogenannten Gewaltgesetzgebung auf der Linie Metternichs und des Sozialistengesetzes im Bismarckreich. Daß der zwangsimportierte bürgerliche Verfassungsstaat in Deutschland von seinen vereidigten Hütern zum feudalen Willkürstaat vorkapitalistischer Prägung zurückgeschraubt wird, geschieht nicht zum ersten Mal in diesem Jahrhundert, aber vermutlich zum letzten. Denn entweder diese Schraube wird so gestoppt, daß denen, die an ihr drehen, ein für alle Mal mit ihrem Handwerk der Appetit, es zu praktizieren, gelegt wird oder sie setzen sich weiter durch, bewahrheiten abermals die Regel, daß die Rechte in Deutschland — und die Rechte, das sind nicht bloß die Rechtsparteien, in jedem Herrschaftssystem ist sie überall dort, wo es einen unmenschlich sturen, verfestigten Apparat gibt - daß also die Rechte in Deutschland immer unwiderstehlich ist, und nur Deutschland unter ihrer Führung dann allerdings, wenn auch unter sehr großen Menschheitsopfern, um so widerstehlicher. Dann würde die letztgenannte Phase diesmal so ausgehen, daß es zu einem dritten deutschen Anschlag auf die Demokratie nicht mehr kommen kann, für seine Verhütung gesorgt wäre.
Für die Niederwalzung ebenso von Denkgesetzen wie Verfassungsnormen ist der Fall exemplarisch. Mit bedingtem Vorsatz handelt, heißt es in der Urteilsbegründung des Bundesgerichtshofes für seine Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils, wer sich die Möglichkeit des schädlichen Erfolgs vorstellt und seinen Eintritt billigend in Kauf nimmt. Außer mit unschlüssigen, lose hypothetischen, um so begreiflicher daher emphatischen Redensarten, ist für die Annahme, es habe so eine Vorstellung, gar Billigung damals in dem Angeklagten gegeben, nicht einmal versuchsweise argumentiert worden. Was aber ergibt die Anwendung ihrer Logik auf die Rechtssprechung selber? Gar nicht nach unserer, nach ihrer eigenen Begriffsbestimmung, die ich zitiert habe, und mit der sie Zahl dann für fünfzehn Jahre, in Strafhaft schickte statt der ursprünglichen vier, wäre das zweitinstanzliche Urteil selber, da es die langsame Zerstörung eines Menschenleben billigend in Kauf nimmt, ein Mordversuch.(Beifall) Anders als Zahl selbst, der in Flucht und Abwehr handelte und für Überlegungen gar keine Zeit hatte, hatten die Richter in Karlsruhe und dann in Düsseldorf vor dem Urteil in zweiter Instanz viele Stunden. Die Sabotage inzwischen an Zahls Ausübung seines Schriftstellerberufes in der Haft, von derer ersten Stunde an und durch Schikanen, die bis heute nicht enden wollen, neuerdings auch noch durch Strafanklage seitens einer Zensur, die bekanntlich nicht stattfindet, liegt bestätigend auf der Linie solchen billigenden in-Kauf-Nehmens seines Untergangs ja sie betreibt diese auf das allerdirekteste. Demgegenüber gibt es in der Sache gegen ihn, dort wo nach zivilisiertem Rechtsverständnis die unhinterfragbarsten Beweise zu stehen hätten, bloß Beteuerungen des Gerichts, wie jedes Schulkind sie auswendig lernen und dann hinschreiben kann, daß es selber von seiner Tatkonstruktion, von diesem billigenden in-KaufNehmen der schädlichen Folgen durch Zahl überzeugt sei. In Deutschland genügt das.
Ich mag an diesem Punkt, es fällt mir gerade ein, einflechten, daß es in dieser Stadt vor ein paar Monaten, es wurde nach meiner Erinnerung im Berliner Extradienst berichtet, einen Einführungsunterricht für Gerichtsrefe rendare gegeben hat, ich glaube seitens eines Staatsanwaltes, jedenfalls eines vereidigten Staatsdieners, bei dem auseinandergesetzt wurde, daß natürlich Polizisten einander dekken bei derartigen Aussagen vor Gericht und daß man ihnen im Grunde in sehr vielen Fällen nicht glauben dürfe, daß man aber sich so verhalten solle, als glaube man ihnen in jedem Fall; und daß das auf Seiten der Refe rendare selber einen gewissen Widerstand in Gestalt eines Gemurmels, einen artikulierteren brachten sie nicht fertig, zur Folge hatte. In der Presse ist das weitgehend unterdrückt worden, von einer Anklage wegen Verfassungsbruchs gegen diesen Verfassungshüter hat man auch nichts gehört. Soviel nur mit dem Blick auf die Unbedingtheit, mit der bisher alle Gerichte in dieser Sache den polizeilichen Zeugen geglaubt haben.
Aber mit dieser Zurechtbiegung - Zuunrechtbiegung — des Begriffs des bedingten Vorsatzes in der Sache fängt der Rechtsbruch erst an. Unverschämter als diese -Konstruktion, obwohl Steigerungen da kaum noch möglich erscheinen, ist die offene Verhöhnung von Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes durch plumpe Vertauschung, die in keiner authentischen bürgerlichen Gesellschaft, deren politische Formen revolutionsgeschichtlichen Ursprungs sind, auch nur denkbar wäre, zweier heterogener Gesinnungsbegriffe, die nichts als das Wort teilen: eines, der Strafverschärfung wegen niedriger Gesinnung gestattet und dessen Einschlägigkeit so die Person und ganze Lebensgeschichte des Verurteilten ausschloß, daß sie auch vom Zweitgericht gar nicht behauptet wurde und eines ganz anderen, den das Grundgesetz meint, wo es in seinem Artiktel 3.Absatz 3 ohne die leiseste Einschränkung festsetzt, niemand dürfe seiner Gesinnung wegen bevorzugt oder benachteiligt werden, das also nicht werden, was Zahl in aller Ausdrücklichkeit wurde, als seine Zweitrichter seiner Gesinnung wegen — die sie in der NS-Tradition ihres unaufgeräumten Unbewußten als staatsfeindlich kennzeichneten — auf das Höchstmaß der Strafe erkannten, die ihre windige Tatkonstruktion zuließ. Wer eigentlich in dem Fall sich als Verfassungssaboteur, öffentlicher Brecher des Gmndgesetzes erwiesen hat, konnte nur einer deutschen Gesellschaft verborgen bleiben. Das heißt aber auch, daß eine Öffentlichkeit, die nach der Abweisung von Zahls Revision noch das Potential hätte, die Sache wieder in Bewegung zu bringen, zunächst nicht existiert. Sie kann nach allem Gesagten a) auf die BRD nicht beschränkt bleiben, sondern hätte ein westliches Ausland, aus dem unsere Verfassungsnormen einmal bezogen worden sind, mit einzubeziehen, b) würde es allerdings Zeit, und das ist durchaus auch pro domo gesprochen, daß Schriftstellerverbände und Bürgerrechtsorganisationen von den kritischen Öffentlichkeiten dieser authentischen Demokratien endlich lernen,daß man in solchen Dingen eine viel genauere, aber auch viel kritischere, viel härtere, unverblümtere öffentliche Sprache zu reden hat, um die Apparatschick-Welt zu verunsichern. Versuchers endlich dahin zu bringen, werden gerade zu dieser Stunde gemacht, im übrigen gibt es ein Patentrezept dafür so wenig, wie die Dreyfusards in Paris vor achzig Jahren eines gehabt haben. Sie kamen auch nicht ganz ohne Organisation aus, daß sie ihre Sache aber schließlich durchsetzen konnten, lag an ihrer konzentrierten, spontan vielstimmigen Initiative, von deren Muster wir lernen könnten, wie man so etwas macht. Vielen Dank!