THOMAS BRASCH
MIT SOZIALISTISCHEM GRUSS
(Aus Ramturs Nachlaß)
Erster Brief: Lieber Kollege Direktor!
Heute will ich Urnen schreiben. Ich bin Herr Ramtur aus der Dreherei und möchte Ihnen einen Vorschlag unterbreiten:
Schicken Sie mir bitte jeden Monat mein Gehalt zu. Ich möchte ein Jahr lang nicht arbeiten.
Viele Grüße
Kollege Ramtur
Erste Antwort:
Lieber Kollege Ramtur!
Ich habe Ihren Brief bekommen. Was soll aus unserer Fabrik werden, wenn alle so denken, wie Sie? Kommen Sie sofort zur Arbeit.
Kollege Direktor
Zweiter Brief:
Lieber Kollege Direktor!
Ich möchte Ihnen noch einen Vorschlag machen. Wenn ich ein Jahr nicht arbeite, hat die Fabrik einen Verlust von 2376 Stunden. Das sind genau 99 Tage. Ein Jahr hat 52 Sonnabende und 52 Sonntage. Wenn ich im folgenden Jahr jeden Sonnabend und jeden Sonntag 24 Stunden arbeite, haben Sie dazu noch einen Gewinn von 120 Stunden, die ich dem Betrieb schenke.
Herzlich
Kollege Ramtur
Zweite Antwort:
Lieber Kollege Ramtur!
Das geht alles nicht. Auch ich möchte manchmal nicht arbeiten und muß morgens im Bett weinen. Ich habe auch nicht mehr viel Geduld mit Ihnen.
Kollege Direktor.
Dritter Brief:
Lieber Kollege Direktor!
Ich möchte mich mit meiner Frau unterhalten über
a) meine Frau
b) mich
c) unsere Ehe
d) Kunst und Fernsehen
e) Haushalt, Reparaturen, Neuanschaffungen
f) unsere Kinder (Zustand und Perspektive)
g) das Leben, Qualifizierung, Weiterbildung Da ich bisher um 17 Uhr nach Hause kam und keine Konzentration hatte, brauche ich für die genaue Analysierung der Probleme ein Jahr. Ich bitte Sie, das einzusehen.
Kollege Ramtur.
Dritte Antwort
Kollege Ramtur!
Sie kommen jetzt schon acht Wochen lang nicht zur Arbeit. Das habe ich gemeldet. Sie werden Bescheid bekommen. Sie haben mich dazu gezwungen.
Vierter Brief
Herr Direktor!
Ich bin jetzt für 15 Monate in einer verschlossenen Weberei tätig. Hiermit teile ich Ihnen mit, daß sich eine Fortführung unseres Briefwechsels damit erübrigt.
Herr Ramtur 57382
(Mit freundlicher Genehmigung des Rotbuch Verlags Berlin. Entnommen aus:
Thomas Brasch, Vor den Vätern sterben die Söhne Rotbuch 162 (DM 8,-)
diese nabelschnur durchreißen
Nicht erst seit den spektakulären ereignissen um Wolf Biermann, sondern schon länger wird wichtige DDR-literatur im westen herausgegeben. In den letzten zwölf monaten war dies Köhlers Krott, Kunzes Die wunderbaren Jahre, Sarah Kirschs gedichte Rückenwind, Braschs Vor den Vätern sterben die Söhne und jüngst Gedächtnisprotokolle von Jürgen Fuchs und Gerulf Panach, die wegen ihres engagements für Biermann immer noch in gefängnissen der DDR sitzen.
Das interessanteste buch ist für mich das von Thomas Brasch. Er emigrierte im dezember 1976 in die BRD, nachdem er schon früher die repression der regierenden fühlen mußte: 1965 „wegen Verunglimpfung führender Persönlichkeiten der DDR“ und „existentialistischer Anschauungen” exmatrikuliert; wegen seines protests gegen die intervention in die CSSR - so et was heißt auch drüben „staatsfeindliche Hetze“ — wurde er zu zweieinviertel jahren gefängnis verurteilt.
Der band gliedert sich in drei teile, die jeweils aus mehreren geschichten bestehen, deren reihenfolge nicht zufällig ist. Ahn- ’ lieh wie Joyce seine geschichten über das leben der Dubliner ordnete (von der gebürt bis zum tod), versucht auch Brasch seine erzählungen in ein gefüge zu bringen. Er verwendet keine Chronologie, sondern faßt thematisch zusammen, benutzt rückblenden und schiebt mythologie und Volksgut ein, um die in der gegenwart spielenden erzählungen zu verbinden und weiterzutreiben.
Im ersten teil sind die Ursachen und folgen eines — tödlich endenden - fluchtversuchs aus der DDR beschrieben. Der flüchtling, Robert, wird stunden vor der flucht von einem alten mit list in die wohnung gelockt, um ihm zu helfen, die einsamkeit zu vertreiben. Dennoch lobt der greis die DDR, bis Robert reagiert: „Du hattest deinen Text, jetzt habe ich meinen, und der heißt: Ich kann nicht machen, was du konntest. Schließlich habt ihr um die schönen Häuser auch noch eine Mauer gebaut.“ Robert bekennt sich offen zur flucht, will „diese Nabelschnur durchreißen. Die drückt mir die Kehle ab. Alles anders machen. Ohne Fabriken, ohne Autos, ohne Zensuren, ohne Stechuhren. Ohne Angst. Ohne Polizei.“
Ein gleichnis ist eingeschoben. Ein geplanter musischer Zweikampf zwischen dem griechischen gott Apoll und dem hirten Marsyas kommt nicht zustande, weil der hirte sich weigert, die musen als Schiedsrichter anzuerkennen. Marsyas treibt den konflikt weiter — er wird schließlich von den musen getötet. Dafür schließt Apoll sie aus seiner Umgebung aus.
In der folgenden, dritten geschichte wird beschrieben, wie der erzähler von den DDR-behörden vernommen wird. Er erfährt nur, daß die ermittlungen wegen Roberts flucht stattfinden, Zusammenhänge zu ihm erforscht werden sollen. So erinnert er sich an Robert: wie er ihn in einer kinovorführung kennenlernte, die wegen der im film gezeigten arbeiterdemonstrationen (mit polizeieinsatz) beinah platzte. Wie der erzähler krankfeiert, um mit Robert auf dem motorrad durch die DDR zu brausen. Wie die chauvinistischen easy rider versuchen, „Freundschaft und Bett unter einen Hut zu bringen“, sich deshalb eine Frau suchen, mit der sie beide gleichzeitig schlafen können, damit ihre freundschaft nicht zerspringt, „das Gefühl für Solidarität (nicht) im Eimer “ ist. Bei der Vernehmung erfährt der erzähler, daß Roberts fluchtversuch tödlich ausging, ihm keine fluchthilfe angelastet werden kann. Nur einen zettel mit einem aphorismus Roberts behalten die behörden ein über das alte europa, das auf die heftigen Stöße der revolutionären drei kontinente nur noch mit einem müden zucken reagieren kann.
In der geschichtenfolge erfahren wir nicht explizit Roberts fluchtziel: ob er in den kapitalistischen westen flüchten will (wo er beim versuch, die nabelschnur zu durchreißen, sich von den autoritäten zu lösen, dieselben Schwierigkeiten hätte, wie in der DDR) oder die befreiungskriege der drei kontinente unterstützen will.
Dieselbe Schwierigkeit, wenn wir die tätigkeit Roberts bestimmen wollen. Wenn wir feststellen wollen, ob der alte aus der ersten geschichte tatsächlich Spanienkämpfer ist, wie er angibt, oder ob seiner nachbarin zu glauben ist, „Sind Sie auf seine großen Geschichten reingefallen, sagte sie. Ihnen hat er wohl auch erzählt, daß er ein Freiheitskämpfer war .“Nennt sie der alte nur deshalb „Nazikrähe“? Die Sicherheit zerfließt zu einem dichten nebel. Aussage steht gegen aussage; keine der Figuren ist im besitz der Wahrheit — wenn der alte gelogen hat, um Robert in die wohnung zu locken, lügt er dann weiter, wenn er von Spanien spricht.... Diese Ungewißheit wird von Brasch absichtlich hergestellt, um die macht, das dogma, die väterliche autorität in frage zu stellen. — Auch in persönlicher sicht: sein vater war stellvertretender DDR kulturminister.
„Leute wie ich bleiben ein Leben lang in der Pubertät, weil sie immer für oder gegen den großen Papa sind. Und das ist, was der große Papa will.“ Doch Brasch bleibt bei der Schilderung dieses konfliktes nicht im bereich des eindeutigen, beschreibt in einer parabel den Seefahrer, der den todesgeruch seiner Vaterstadt erkennt. Auf die Warnungen des kapitäns hin werden zwar die risse in den häusern verschmiert, doch er schlägt den dank aus: der Untergang der Stadt ließe sich nicht aufhalten .Als Unglücksprophet ins gefängnis geworfen, wird er von seinen matrosen befreit, die jedoch angst haben, weiter mit ihm zu fahren. Beim Untergang der Vaterstadt schwingt sich der letzte der einwohner auf seine schultern (wie einst der ,,Alte vom Meere “auf Sindbad) und läßt sich ans grab tragen. Der Seefahrer befürchtet gezwungen zu werden, da zu bleiben: „Es kommt auf das Gleiche heraus, bleiben oder sterben.“ Der einwohner hält entgegen, daß ihn keine Stadt aufnehmen wird, da alle glauben, der kapitän könnte sie verfluchen. Der Seefahrer läßt seinen warner nicht ausreden, erschlägt ihn und verliert sein gefühl für die see, daß es ihm ermöglichte, schiffe sicher zu lenken.
Die rollen haben sich in dieser geschichte verkehrt: wie die einwohner die hinweise des kapitäns auf ihren Untergang nicht respektieren, so erschlägt er den letzten einwohner, als er ihn warnt; damit einen teil seiner selbst.
Ähnlich wie diese symbolträchtige geschichte gerade durch die kürze (sie umfaßt vier seiten) wirkt, besticht auch die aus sieben kurzen briefen bestehende korrespondenz des arbeiters Ramtur mit seinem direktor. Wie schon formal deutlich wird, daß der Direktor ihn anzeigt, weil er von der arbeit fernbleibt, um sich mit seiner frau zu unterhalten: statt „Lieber Kollege Ramtur“ heißt es in der dritten antwort des direktors „Kollege Ramtur“. Ebenso wird schon durch die Unterschrift -„Herr Ramtur 57382“ deutlich, daß er „für fünfzehn monate in einer geschlossenen Weberei“ arbeiten muß.
Meisterlich wird Braschs prosa in der geschichte um den arbeiter Fastnacht, der wegen seiner Verbesserungsvorschläge innerhalb des Produktionsprozesses zum leiter des Neuererbüros ernannt wird und als seine betrügereien — um die existenz eines außerehelichen kindes zu vertuschen — ans licht kommen, fallengelassen wird.
Diese geschichte läuft in drei verschiedenen erzählebenen ab (die durch kleinschreibung,großschreibung und majuskeln charakterisiert sind): Die gedanken Fastnachts; gespräche und briefe; dialoge Fastnachts mit Marxengels. Diese ebenen besitzen jedoch die gleiche dynamik wie die geschichte, verändern ihre funktion. So kann nicht einfach aus der äußerlichen Schreibweise geschlossen werden, ob Fastnachts Selbstmordversuch am ende in träum oder Wirklichkeit abläuft. Die offene form bewirkt so weitere Ungewißheit im leser. Wie auch die karge spräche nicht nur konzentriert, sondern neben das wesentliche den Widerspruch ebenbürtig treten läßt.
So bildet der besuch des American Folk Blues Festivals den kontrapunkt zur Verlogenheit des „Sängerwettstreits“ im Ostseebad .Doch bilden solche gegenpole keine antagonismen, wie die erzählung vom aufspüren eines KZ-wächters zeigt, die gegen die ermittlungen der hintergründe von Roberts flucht gesetzt wurde.
Doch, „Form ist Formung von Etwas“(Adorno): Im gegensatz zur literarischen DDR-kritik von Jürgen Fuchs oder Wolf Biermann wird hier nicht ein allmächtiger Verwaltungsapparat in den mittelpunkt geschoben. Die wesentliche rolle der Produktion geht nicht verloren - so wird die Zerstörung von menschen beim heimlichen vernichten von ausschußproduktion beschrieben, der tod Ramturs durch einen falsch eingerichteten Schraubstock. Die bauarbeiterrevolte im film sowie die wünsche der arbeiter, die sich nicht für ein immanentes Vorschlagswesen mißbrauchen lassen („Jeder Gang auf die Toilette während der Pause ist verboten. Dafür muß die Arbeitszeit benutzt werden“), Utopien, die auch über den Produktionsprozeß hinaus reichen, das ganze System aufheben („Am 1. Mai steht die Bevölkerung auf der Ehrentribüne Marxs-EngelsPlatz, sagte Ramtur, und nimmt die Parade der Regierung ab.“)
Vielleicht wird durch Barschs buch die notwendigkeit deutlich, die DDR-wirklichkeit theoretisch zu fassen. Eine reduzierung auf ein sozialistisches System mit einer sich verselbständigten bürokratie scheint mir unzureichend; es ist richtiger, diesen mächtigen überbau mit einem Sozialismus mit „kapitalistischer Produktionsweise“ (II manifesto) zu begründen als mit einer person oder einer partei!
Engel Schramm