Ulrich K. Preuß
Ein Ereignis wird erst dadurch zum Skandal, daß es als skandalös empfunden wird und in der Folge jene mehr oder minder kathartischen und ritualisierten Konsequenzen auslöst, die jede politische Kultur für derartige Fälle hervorgebracht hat. Gemessen an diesen Regeln unserer politischen Kultur hat es keinen “Abhörskandal” gegeben und wird es ihn aller Voraussicht nach nicht geben. Mit dem Rücktritt eines Ministers ist nicht mehr zu rechnen, von Straf- oder Disziplinarverfahren zu schweigen. Man denkt über einen möglichen Schadensausgleich für Dr. Traube nach und installiert damit eine neue Art staatlicher Gefährdungshaftung: der Staat übernimmt nach dem Versicherungsprinzip die Einstandspflicht für die Risiken seiner Herrschaftsausübung, die dadurch gleichsam zum Naturereignis oder zu einem technisch nicht vollkommen kontrollierbaren Quasi-Naturereignis wird.
Dieses Detail am Rande des “Falles Traube” gibt uns möglicherweise den Schlüssel zum Verständnis der gesamten Angelegenheit. Es zeigt uns, daß der wesentliche Aspekt der Abhörangelegenheit nicht in der unzweifelhaften Tatsache des Rechtsbruchs sondern vielmehr in der Herausbildung eines neuartigen RegelsysLoyalität - auch etymologisch der gleichen Wurzel entstammend - sind Im bürgerlichen Verfassungsstaat die einander stützenden Grundkategorien politischer Verantwortung.
Unter den vielfältigen Funktionen, die sie für das politische Leben haben, ist die, einen Bruch der Legalität als Verletzung der politischen Loyalität und damit als Angriff auf den politisch-sozialen Kompromiß der gegebenen Verfassungsordnung qualifizieren zu können, keineswegs die geringste. In der Empörung über Rechts- und Verfassungsbruch der Herrschenden bestätigt sich gleichsam ex negativo die Kraft des Legalitätssystems, dessen Verletzung durch den reinigenden Akt des Rede- und-Antwort-Stehens vor dem Gesetzgeber und ggf. dem Entzug seines Vertrauens gegenüber den Vollzugsorganen geheilt werden konnte.
All dies hat in den bekannt gewordenen Abhöraffären nur noch eine untergeordnete Rolle gespielt; selbst die Öffentlichkeit, einschließlich der linken, hat nur mit milder Empörung, wenn überhaupt, reagiert. Der Grund scheint mir darin zu liegen, daß das politische Leben unseres Landes einer anderen Logik folgt als der der Legalität.
tems staatlichen Handelns liegt. Nach unserem herkömmlichen"verfassungsstaatlichen Verständnis bietet uns das System der Legalität die Kriterien an, nach denen wir staatliches Handeln bewerten und nach denen sich seine Konsequenzen bemessen: die Bindung aller staatlichen Gewalt an Recht und Gesetz erlaubt die Identifizierung rechtswidriger staatlicher Handlungen und löst die politische Verantwortung des Ministers für einen Rechtsbruch — gar wenn es sich um Verfassungsbruch handelt - die Ministeranklage vor einem Staatsgerichtshof vorgesehen.
Die innere Logik dieses Systems liegt in der klaren Unterscheidung von Normalität und Ausnahmezustand, Krieg und Frieden, in der Komplementarität von Herrschaft und Haftung und nicht zuletzt in der Gewißheit, daß die Legalität das schützende Gehäuse gegen alle Gefährdungen sei, die dem Gemeinwesen aus der Existenz einer klassengespaltenen Gesellschaft erwachsen können. Die allseitige Beachtung der Legalität sollte jenes Netz politischer Loyalitäten knüpfen, in dem alle politischen Gefährdungen aufgefangen werden konnten. Legalität und Ich möchte sie die Logik der Gefahrenkontrolle nennen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß der Zusammenhang zwischen Legalität und Loyalität zerrissen, ein System legalitätsunabhängiger Loyalitäten installiert und die Legalität gleichsam funktionslos wird. An ihre Stelle tritt das Kalkül der Beherrschung von Bedrohungen und Gefahren. Gesellschaftliche Konflikte werden in die Handlungslogik permanenter latenter Bedrohungen und Gefährdungen übersetzt, deren Antriebskraft der Verdacht ist.
Die Auflösung des Zusammenhanges von Legalität und Loyalität haben wir in den letzten fünf Jahren an der Berufsverbotspraxis handgreiflich beobachten können: jenseits der Ebene freier staatsbürgerlicher Betätigung wurde ein Kategoriensystem der politischen Bewertung der Individuen nach Kriterien politischer Gefährlichkeit installiert, dessen Konsequenzen der Ausbau jener kontrollierenden Behörden ist, die in den jetztigen Abhörfällen im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Es ist kein Zufall, sondern systematisch bedingt, daß Behörden, die nach Kriterien der politischen Gefährlichkeit alle Staatsbürger kategoriesieren und ihre Loyalität überprüfen, ihrerseits nicht nach Kriterien der Legalität funktionieren. Loyalität ist nicht mehr eine Funktion der Legalität eines Verhaltens, sondern der situationsabhängigen Bewertung individueller Gefährlichkeit, die bereits - wie im Falle Traube bei einem “ungewöhnlichen Lebenszuschnitt“, wie es der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz formulierte, vermutet wird. Der Staat macht den einzelnen nicht mehr nur für einzelne unrechtmäßige Handlungen haftbar, sondern nach dem das Legalitätssystem überwölbenden System der Gefahrenkontrolle auch für gesellschaftliche Konflikte, in denen der einzelne nur noch als Störer, als Gefahrenquelle definiert wird.
Wo jegliche menschliche Subjektivität aus dem Begriff des Politischen eliminiert wird, ist Politik nur noch eine Technik der Risikokalkulation. In der Frage der Errichtung von Atomkraftwerken wird das Problem der Verantwortbarkeit der Gefährdung der Lebensgrundlagen unserer Gesellschaft, also eine zutiefst sozialethische Frage, in das Kalkül der Abwägung der Gefahren, die aus dem Bau solcher Einrichtungen resultieren gegen diejenigen, die beim Verzicht auf sie entstehen, übersetzt - und damit werden alle Fragen nach der Qualität des gesellschaftlichen Lebens ausgelöscht. So kann man getrost 30 000 Arbeitsplätze gegen die Möglichkeit von 20 000 Toten kalkulieren - das Individuum und sein humaner Eigenwert haben in dieser Rechnung nichts mehr zu suchen.
Interpretiert man das gesamte gesellschaftliche Leben als einen einzigen großen Gefahrenherd, so sind der Behauptung immer neuer Gefahren und Bedrohungen, die vom Individuum ausgehen können, keinerlei Grenzen gesetzt. Im Gegensatz zur Logik des Legalitätssystems bedarf es hierzu keiner tatbestandlich umschriebenen konkreten individuellen Handlungen; alltägliche, vor allem aber nicht ganz dl tägliche Verhdtensweisen, kombiniert mit dem für die Gefahrenkontrolle konstitutiven prinzipiellen Verdacht, daß jeder Mensch prinzipiell zu dlem fähig ist, erzeugen eine dauernde Atmosphäre der Gefahr und damit der staatlichen Einsatzbereitschaft.
Dies kann zu geradezu grotesken Projektionen führen. Im Fdl Traube sprach der Innenminister von einem einmdigen Zusammentreffen von Gefahrenmomenten — nämlich dem Zugang Dr. Traubes zu Atomanlagen sowie seinem Umgang mit Terroristen — dso Personen, die ihre Waffen auch gegen unschuldige Bürger einsetzen; tatsächlich ist diese Kombination von Gefahrenmomenten in einzigartiger Weise in dem Amt des Innenministers gegeben: er ist oberste Sicherheitsbehörde für Atomanlagen und hat in dieser Funktion Zugang zu allen Atomanlagen, und zugleich befehligt er mit dem Bundesgrenzschutz und dem Verfassungsschutz ein Gewaltpotential, das dank der polizeilichen Definitionsmacht von Störern und Feinden seine technischen Mittel gegen jeden unschuldigen Bürger richten kann (und, wie man sieht, dies in offenbar nicht ganz seltenen Fallen auch tut).
Nur am Rande sei vermerkt, daß es weitere Parallelen dieser Art gibt. So erinnert die Aufspaltung der vollen Erkenntnis des Umfangs und der Art der Abhöraktion in Stammheim in eine Vielzahl von Teilinformationen und ihre Verteilung auf verschiedene Stellen, die jeweils nur einen kleinen Ausschnitt überblicken, an die klassische Arbeitsweise konspirativer Organisationen; handlungstheoretisch spricht man hier von einem Handeln unter Bedingungen extremer Bedrohungen, so daß man die staatlichen Aktionen in diesen Affären als eine Art strategisches Handeln unter kriegsähnlichen Bedingungen interpretieren kann, was die These von einer neuen Handlungslogik staatlicher Herrschaft aufs Neue bestätigen würde.
So wie jeder Bürger zunächst eine Gefahrenquelle ist. so wird daher auch umgekehrt der Charakter der öffentlichen Gewalt umdefiniert: die bereits erwähnten Überlegungen zur Entschädigung Dr .Traubes zeigen, daß sie wie ein gefährlicher Betrieb behandelt wird, in dem es keine politische oder persönliche Verantwortlichkeit mehr gibt, sondern nur noch das Problem der Schadenseindämmung für den Fall, daß einmal eine Fehlkalkulation stattgefunden hat. Die Logik der Gefahrenkontrolle liegt in dem Kalkül der Abwägung der Gefahr, einen gesellschaftlichen Bereich zu kontrollieren gegenüber den Risiken, ihn unkontrolliert zu lassen — und da die Phantasie, einmal unter das Gesetz der permanenten Bedrohung gezwungen, zwanghaft stets neue Gefahrengebilde hervorbringt, reduziert sich das Kalkül auf die “Verhältnismäßigkeit der Mittel”. Der Zweck heiligt nur das verhältnismäßige Mittel, aber dies stets — dies ist der Inhalt unseres gegenwärtigen Rechtsstaates.
Spätestens heute zeigt sich, daß die weit verbreitete Indolenz gegenüber den Sondermaßnahmen in bezug auf die Terrorismusbekämpfung und den Stammheimer Prozeß einer falschen politischen Einschätzung unserer Situation entsprungen ist. Die Behandlung der Stammheimer und der übrigen Gefangenen, die dem Bereich “anarchistischer Gewalttäter” zugerechnet werden, war und ist durch und durch von der Logik des Gefahrenkalküls beherrscht: stellen sie, insgesamt vielleicht eine Anzahl von ca. 30 Personen, eine “extreme Gefahr” dar, so sind nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel auch extreme Mittel gegen sie erlaubt. Sie reichen von der radikalen sensorischen Deprivation über die auf ihre Prozesse zugeschnitten Minimierung ihrer prozessualen Rechtsstellung, insbesondere massive Behinderung ihrer Verteidigung, die Haftbarmachung ihrer Verteidiger für die ihnen vorgeworfenen Taten bis hin zur Negierung ihres Anspruchs auf physische und moralische Integrität als menschliche Wesen, wie der gutachterlich bestätigte, durch die Haftbedingungen verursachte Gesundheitsverfall sowie die jetzt bekannt gewordene Abhöraffäre zeigen.
Stammheim ist indessen nur ein Prototyp, die Serienproduktion hat längst längst begonnen. Man denkte an den Musterentwurf für ein einheitliches Polizeigesetz, in dem die Abriegelung ganzer Stadtteile, der ungehinderte polizeiliche Zugriff auf jede Wohnung die totale polizeiliche Kontrolle jeglicher Lebenstätigkeit ermöglichen soll — die Internierung der Bevölkerung in ihren eigenen Wohnungen, das gesellschaftliche Leben als Lagerleben .Oder man denke an die hintergründige Ermächtigung an den Verfassungsschutz, “nachrichtendienstliche Mittel” anzuwenden, wodurch in einem radikalen Bruch mit der rechtsstaatlichen politischen Kultur das Regime der allein durch den Stand der Technik limitierten Herrschaft als Kalkül der Machterhaltung und -erweiterung unter Bedingungen der Bedrohung etabliert wird - die Bedrohung ist das Volk und seine Lebenstätigkeit.
Denn niemand wird ernstlich die Behauptung aufrechterhalten können,all dies sei zur Abwehr des Terrorismus erforderlich. Die reine Empirie spricht dagegen. Es hat z.B. im Frankreich der IV., z.T. sogar der V.Reoublik im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg, der poujadistischen Bewegung und der bretoni sch en separatistischen Bewegung mehr Sprengstoffanschläge gegeben als es sie in der Bundesrepublik auch nur in der Phantasie der politisch Verantwortlichen je gegeben hat. Nein, die RAF ist weder die wirkliche noch die vermeintliche Gefahr. Ob sich der Staat im Angesicht verschärfter Klassenkämpfe rüstet, ist ebenfalls höchst zweifelhaft, da man von einer breiten und militanten Klassenbewegung wohl kaum sprechen kann.Die Gründe für die rapide voranschreitende Umwandlung eines leidlich funktionierenden bürgerlichen Rechtsstaates in ein kontrolliertes Gebiet dürften wohl eher in der internationalen Situation zu suchen sein. Der immer wiederkehrende Hinweis darauf, daß die Bundesrepublik ein “klassisches Exportland” sei, die gegenwärtige Auseinandersetzung mit den USA über das Atomgeschäft mit Brasilien, die Rolle der Bundesrepublik auf der Unctad und anderen internationalen Konferenzen sind Mosaiksteine einer expansionistischen Weltmarktstrategie, deren Durchsetzung ein befriedetes Land voraussetzt. Die innere Kontrolle ist die Funktion des Bedürfnisses, freie Hand im internationalen Kräftespiel zu haben und die im Innern akkumulierte Kapitalmacht in internationale Expansionsstrategien zu transformieren. Eine Politik, die sich nicht darauf beschränken will, den “Abbau demokratischer Rechte” und die Verfassungswidrigkeit staatlicher Politik stets aufs neue zu beklagen, muß angesichts der nationalen Schwäche der demokratischen Bewegung wegen des angedeuteten internationalen Zusammenhanges der Transformation unseres politischen Systems
ihren Kampf ihrerseits internationalisieren. Es geht dabei nicht nur und nicht einmal in erster Linie um einen Ruf nach solidarischer Hilfe durch ausländische demokratische Bewegungen, sondern um die Verdeutlichung der nationalen Eigeninteressen der Länder, die zum Opfer einer deutsch-amerikanischen Hegemonie in der westlichen Hemisphäre zu werden drohen. Wenn die Bundesrepublik schon ein Exportland ist — sorgen wir dafür, daß nicht wieder Krieg und Elend unsere bevorzugten Exportartikel werden, und glauben wir nicht, daß ein Lauschangriff nichts weiter sei als ein Verfassungsbruch. Dies ist — leider — heute schon von un"ergeordneter Bedeutung.