SIE LEBEN JA NOCH,
I
In direkter Folge der beiden Massenveranstaltungen in Brokdorf fand am 12.3. in Gorleben, direkt an der DDR-Grenze, eine dritte Veranstaltung statt: 25- tausend trafen sich zu einer Großkundgebung gegen die geplante Wiederaufbereitungsanlage (WAA). Die WAA ist ein Projekt, das die Superlative der KKW-Bedrohung noch in den Schatten stellt: ökologische Gefahren, Kosten, militärische Verwertbarkeit und vor allem die unmittelbare Dringlichkeit für den weiteren Betrieb der Kernkraftwerke machen die WAA zum Nadelör, durch das das Kernenergieprogramm der nächsten 10-20 Jahre durch muß.
Die Standortfrage hatte schon Anfang 1976 an drei anderen Orten zur Gründung von BI‘s* geführt: In Li’chtenmoor (Fallingsbcstel), in Unterlüß (Celle) und in Wippingen - Wahn (Aschendorf Hümmling). Sofort nach Bekanntwerden der Bauvorhaben erwirkten die Betroffenen Verfügungen gegen anfangs als Ölsuche getarnte Probebohrungen, oder man zog zur Behinderung der Baumaschinen tiefe Gräben um das Baugelände. In Lichtenmoor besteht seit Sommer 76 sogar ein Wachdienst, der Nacht- und Nebelaktionen wie in Brokdorf verhindern will.
PUBLIKUMSWIRKSAME ENTSCHEIDUNGSSCHLACHT
Gorleben wurde von der Regierung Albrecht offiziell als der zukünftige Standort der WAA ausgewiesen. Die technischphysikalische Argumentation (etwa daß die Gorleber Salzstöcke für die Endlagerung des Atommülls besonders gut geeignet seien) kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit dieser Vorentscheidung versucht wird, Zeit zu gewinnen. Denn selbst wenn die endgültige Prüfung der Salzstöcke positiv ausviele, kann die *Bürgerinitiativen Bundesregierung diesem Standort, der nur ein paar hundert Meter von der DDRGrenze entfernt liegt, kaum zustimmen. So wird Albrecht die publikumswirsame Entscheidungsschlacht um das Kernenergieprogramm erst nach den Wahlen 1978 bestehen müssen. Daß sie stattfindet, ist klar; denn jede Bürgerinitiative gegen Kernenergie weiß, daß ohne WAA in absehbarer Zeit kein KKW und erst recht kein Schneller Brüter laufen wird.
II
Der Zweck der WAA innerhalb des Brennstoffkreislaufs ist schnell beschrieben: Nachdem das Uranerz angereichert ist (angereichertes Uran wird z.Z. aus den USA und der UDSSR importiert), wird es noch einigen chemischen Prozessen unterzogen, in Tablettenform gepreßt und mit einer Metallhülle umgeben. Mehrere solcher Brennstäbe faßt man zu einem Brennelement zusammen und speist sie in den Reaktor ein. Die nun einsetzende Kettenreaktion erzeugt Wärme (die für den Antrieb der Turbinen sorgt) und außerdem radioaktive Spaltprodukte, die, wenn alles gut geht, während der Betriebszeit des Reaktors innerhalb der Metallhüllen bleiben (wenn nicht, droht die Verseuchung des Reaktorkerns und das KKW muß stillgelegt werden). Nach einem Jahr muß ein Drittel der Brennelemente ausgetauscht werden, da das spaltbare Uran 235 zu einem großen Teil aufgebraucht ist und die Kettenreaktion nicht mehr aufrechterhalten werden kann , und da die Metallhüllen der Brennstäbe unter dem intensiven Strah lenbeschuß undicht werden und den Austritt der Spaltprodukte ermöglichen. Ein Drittel der Brennelemente heißt für einen 1300-MW-Reaktor (Typ Biblis) ca. 34 t hochradioaktives Material, das permanent gekühlt und wegen des hohen Innendrucks der Brennstäbe sorgfältig gegen Lecks geschützt werden muß.
Hier beginnt das düstere Kapitel der Entsorgung: Die erste Station befindet sich im Kraftwerk selbst. Hier werden in großen Wasserbecken die bestrahlten Brennelemente solange gekühlt, bis die allmählich schwächer werdenden Kernreaktionen den Transport ermöglichen. Nach 6—12 Monaten werden die Brennelemente in Spezialbehältern zur WAA gefahren.
Schon an dieser Stelle geht man kaum kalkulierbare Risiken ein; denn sollte ein Transport verunglücken, würde das Äquivalent der Radioaktivität mehrerer Hiroshima-Bomben frei. Zusätzlich besteht das Problem der Kritikalität, d.h. ,es könnte sich das transportierte Material so anordnen, daß eine unkontrollierte Kettenreaktion in Gang kommt. Bei 1100 Transporten im Jahr 1985 nimmt dann auch der Aufwand an “Sicherheitskräften” 1984er Dimensionen an.
Nach erneuter Zwischenlagerung werden die Brennelemente in der WAA unter äußersten Sicherheitsvorkehrungen aufgeschnitten und in einem sehr komplizierten Verfahren „aufbereitet”: Der Inhalt der Stäbe wird in kochender Salpetersäure aufgelöst und die wiederverwertbaren Anteile, Uran und Plutonium, werden von den übrigen Spaltprodukten getrennt. Während dieses Vorgangs können folgenreiche Komplikationen eintreten. Z.b. besteht die Möglichkeit, daß im verflüssigten Brenn Brennstoff durch Kritikalität unkontrollierte Kettenreaktionen beginnen („atomare Verpuffungen“), die zwar nicht mit einer Bombe vergleichbar sind, aber dennoch sämtliche Sicherheitsbarrieren zerstören und damit das gesamte radioaktive Material freisetzen können.
UMELTRISIKO DURCH NICHT SICHER BEHERRSCHTE AUFBEREITUNGSTECHNOLOGIE
Zusätzlich besteht das Problem der Emission von Zerfallsprodukten im Normalbetrieb. Vergegenwärtigen wir uns: Der Kernbrennstoff von 40 Kernkraftwerken (diese Menge entspricht der geplanten Jahreskapazität der WAA von 1500 t), bisher sorgsam eingeschlossen in die BrennBrennstäbe, diese wiederum unter größten Sicherheitsvorkehrungen transportiert und gelagert, wird hier in der WAA freigesetzt und behandelt. Es ist heute technisch unmöglich, alle freiwerdenden Spaltprodukte zurückzuhalten; vor allem Krypton 85, Tritium, Jod 131 und Jod 129 und Plutonium können in hohen Dosen entweichen. Um in unmittelbarer Nähe der Anlage die Schadstoffbelastung innerhalb der gesetzlichen Normen zu halten, werden riesige Schornsteine gebaut, durch die sich die Spaltprodukte auf eine große Fläche verteilen sollen. Wegen der Gefahren aus der noch nicht sicher beherrschten Aufbereitungstechnologie und den zu jedem Zeitpunkt dort vorhandenen Mengen radioaktiven Materials stellt die WAA durch die hohen Emissionsraten, wenn man sich auf einen Vergleich auf dieser Ebene einläßt, ein sehr viel größeres Umweltrisiko dar, als alle durch die Anlage entsorgten KKW zusammengenommen.
Mit der WAA ist der Brennstoffkreislauf geschlossen: aus den abgebrannten Brennelementen rückgewonnene Spaltmaterialien werden entweder weiter angereichert, oder gehen direkt in die Brennelementfabrik; der Abfall, aufgeteilt in schwach-, mittel-, und hochaktive Anteile, kommt in die Endlagerung. Hierfür gibt es allerdings noch kein sicheres Konzept; Die langen Halbwertzeiten (für den giftigsten Stoff überhaupt, das Plutonium, etwa 24 000 Jahre), die Wärmeproduktion und die hohe Toxidität der Abfälle schaffen unlösbare Probleme. In Europa sollen bis 1990 ca. 1 000 000 irr schwach- und mittelaktiver Atommüll anfallen und man weiß eigentlich noch nicht, was man mit ihm machen soll. Die Bundesregierung hat sich seit einiger Zeit auf die Einlagerung in Salzstöcke festgelegt, da diese geologisch stabil und gegen Wassereinbrüche gesichert scheinen. (Aus denselben Gründen wurde diese Methode in den USA verboten und man lagert dort oberirdisch in Wüsten.) Auch ist der Einfluß der Wärmeproduktion auf die Stabilität der Salzformationen ungeklärt. Besondere Probleme wirft der hochaktive Abfall auf: er hält für Jahrzehnte eine Temperatur von 400°C, muß also dauernd gekühlt werden, und er kann wegen der intensiven radioaktiven Strahlung nur hinter meterdickem Beton durch Roboter und Maschinen bearbeitet werden. Noch vor kurzer Zeit wurde ernsthaft erwogen, ihn mit Saturn-V-Raketen in die Sonne zu schießen; mittlerweile laufen jedoch Versuche, die die Möglichkeit der Einlagerung auch hochaktiven Mülls in Salzstöcke klären sollen.
WOHIN MIT DEM ATOMMÜLL?
Auf jeden Fall ist heute der Standort der WAA mit der Wahl des Salzstockes zur Endlagerung eng verbunden da man das Risiko weiterer Transporte vermeiden will. Für den endgültigen Standort kommen demnach nur die Salzstockfelder zwischen Unterelbe und Ems in Betracht. Die Bürgerinitiativen dort wehren sich also nicht nur gegen die unmittelbaren Gefahren aus der WAA, sondern auch gegen die langfristigen Folgen eines Endlagerungskonzeptes, dessen Risiken für die kommenden zig Generationen nicht abzusehen sind.
III
Die große Dringlichkeit des Projektes WAA hat zwei Gründe: Zunächst die technische Ebene. Wie wir gesehen haben, ist das Auswechseln von Brennelementen für jeden Reaktor unbedingt notwendig. Selbst wenn man von der Rückführung von Brennmaterial absieht, müssen die Brennstäbe weiterverarbeitet werden, damit durch Klassifizierung in schwach- mittelund hochaktiven Atommüll die Endlagerung möglich wird. Bisher wurden die KKW’s in der BRD durch eine kleine Anlage in Karlsruhe (30 t/a) und durch die WAA’s in Frankreich und England entsorgt. Da die Kapazität dieser Anlagen in absehbarer Zeit ausgelastet ist, muß möglichst bald mit dem Bau einer neuen WAA begonnen werden. Die Planungen gingen ursprünglich davon aus, daß 1981 die erste, 1984 eine zweite und dann alle weiteren zwei Jahre eine 1500 t/a Anlage in Betrieb genommen würde .Heute richtet man sich darauf ein, daß sich diese Planungen um drei Jahre verzögern. Konsequenz: 1986 müssen 40001,1990 sogar 7000 t bestrahlten Brennstoffs in Abklingbecken gelagert werden! Zum Vergleich: 1975 fielen während des ganzen Jahres 250 t an. Aber selbst diese Menge machte in allen Phasen der Entsorgung große Schwierigkeiten. Um wegen des auftreten- den Entsorgungsengpasses nicht den Stillstand von Kraftwerken zu riskieren, verfolgt heute die Atomlobby parallel zu den Bemühungen u n die WAA die Errichtung von Zwischenlagerbecken. Erst wenn auch der Bau dieser „Pufferkapazität” verhindert wird, müssen Kraftwerke stillgelegt werden. Mit der Zwischenlagerung ist das Problem der Wiederaufbereitung aber nur verschoben worden und die weitere Akkumulation der hochgefährlichen Brennelemente wird zum Druckmittel der beteiligten Konzerne, um den Staat zur Übernahme unrentabler Aufgaben in der Entsorgung zu zwingen. Dr.S.Mandel, Präsident des Deutschen Atomforums: “Energieund wirtschaftspolitisch entscheidend ist also nicht die Inbetriebnahme der WAA zum Zeitpunkt des Anfalls bestrahlter Brennelemente, sondern die rechtzeitige Planung und Bereitstellung von Lagerkapazität für bestrahlte Brennelemente.”
ZIEL DER ATOMLOBBY: ETABLIERUNG DER TECHNOLOGIE DER SCHNELLEN BRÜTER
Es gibt jedoch auch ökonomische Gründe, die den Betrieb der WAA dringend erforderlich machen. Wie oben schon angedeutet befinden sich in den Brennstäben noch erhebliche Mengen wiederverwertbaren Brennstoffs. Während der (angenommenen) Betriebszeit der WAA von 20 Jahren fallen etwa 70 000 t rückführbares Uran an (dJi. 15% des Bedarfs der durch die Anlage entsorgten KKW’s) und soviel Plutonium, daß 20 000 MW Schnell-Brüter-Kapazität damit ausgestattet werden können. Nach heutigen Preisen würden so 6 - 10 Milliarden DM Brennstoffkosten eingespart. Man muß jedoch berücksichtigen, daß wegen der Verknappung der Natururanreserven und dem bald einsetzenden Engpaß in der Anreicherungskapazität die Brennstoffkosten noch schneller steigen werden als bisher. (Von 1973 bis 1976 haben sich die Brennstoffkosten verdreifacht. Im selben Zeitraum stieg der Brennstoffkostenanteil im Strompreis von 0,5 Pf/kWh auf 1,6 Pf/kWh) Die Rückführung der Brennstoffe aus der WAA hat also in Zukunft großen Einfluß auf die Konkurrenzfähigkeit der Kernenergie, da die Preissteigerungen für Kernbrennstoffe sehr viel schneller sind, als die Entwicklung der Investitionskosten, und so der bisher geringe Brennstoffkostenanteil pro kWh an Bedeutung gewinnt.Die fortgeschrittenen Reaktortypen sind noch stärker auf einen geschlossenen Brennstoffkreislauf angewiesen. Die Plutonium-Produktion im Schnellen Brüter hat nur dann einnen Sinn', wenn der Brennstoff über eine WAA in die Leichtwasserre aktoren zurückgeführt werden kann. Für das Ziel der Atbmlobby, die Etablierung der Schnell-Brüter-Technologie, ist also ausreichende WAA-KapaZität unbedingte Voraussetzung.
IV
Wegen der „bedauerlichen Primitivität der Anlagen der ersten Generation (so ein Vertreter der Industie) sind inzwischen erhebliche technische Verbesserungen notwendig geworden, die die Investitionskosten auf heute 8—10 Milliarden DM (ohne Kosten für die Endlagerung) steigerten.
VERTEUERUNGEN DURCH VERZÖGERUNGEN
Hier entsteht das Problem, daß durch die schnellen Fortschritte in der Kerntechnologie keine großen Abschreibungszeiten möglich sind, andererseits aber kurze Zeiten (bei der WAA etwa 10 Jahre) durch das große Investitionsvolumen hohe Kosten durch Kapitaldienst und Abschreibung entstehen lassen. Entsprechend hoch sind die Verluste aus unvorhergesehenen Stillegungen, die wiederum durch Investition in die Zuverlässigkeit der Anlage, d.h. in die redundante Auslegung mancher Teile, möglichst gering gehalten werden sollen.
Weitere Verteuerungen entstehen durch die Verschärfung der Sicherheitsbestimmungen (etwa bezüglich der Emission von Spaltgasen), in denen sich der Druck der Bürgerinitiativen wiederspiegelt, und in den Verzögerungen des Baubeginns.(Eine zweijährige Verzögerung im Bau führt zu einer Preissteigerung von 25%, 5 Monate Stillstand innerhalb von 5 Jahren zu einer Steigerung um 8%). Angesichts dieser Risiken wird die Entsorgung als industriellkommerzielle Dienstleistung nicht durchzuführen sein. Der erste Schritt in diese Richtung, also der Übertragung der Probleme auf die halbstaatlichen Kunden, die EVU’s, wurde mit der Gründung der PWK schon vollzogen: Die PWK (Projektgesellschaft Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen mbH), die sich aus den 12 Elektrizitätsversorgungsunternehmen zusammensetzt, wird voraussichtlich den Betrieb der Anlage übernehmen. Die Herstellung und Errichtung dagegen bleibt in den Händen der Atomindustrie, der KEWA (Brennstoff-Wiederaufbereitungs-Gesellschaft).
DER EINFLUSS DER ATOMLOBBY IST KAUM ZU ÜBERSCHÄTZEN
In dieser Gesellschaft sind zu je 25% die Konzerne Bayer, Hoechst, Gelsenberg und NUKEM direkt, und über komplizierte Verflechtungen die gesamte Atomindustrie beteiligt. Wie in allen anderen Bereichen der Branche (Kraftwerksbau, Anreicherung, Kernchemie etc.) gelingt es der Atomindustrie auch in diesem Fall, nicht nur die Finanzierung der Grundlagenforschung und die Entwicklung der Produktionstechnologie (durch die 4 Atomprogramme), sondern auch die Rolle des Betreibers unrentable Anlagen dem Staat zu übertragen. Man kann den Einfluß der \tomlobby kaum überschätzen: Die Lenkungsorgane der Atomwirtschaft (vor allem die Deutsche Atomkommission),in denen die Interessen der Monopole mit den Möglichkeiten des Staatshaushalts koordiniert werden, werden bis 1985 über die Investition von ca.l 10 Milliarden DM allein in den Sektor Kernenergie beschließen ! (Das ist die Hälfte der Investitionen für den gesamte^ Energiesektor; diese werden 30% der industriellen Produktion ausmachen.)
V
Für die Entwicklung der Ereignisse in 'Wyhl 1 spielte eine Rolle die Verbindung nach Breisach und Marckolsheim, also die Region, ln Breisach wurden Bohrungen zur Prüfung der Bodenbeschaffenheit als Bauvorbereitung für ein KKW entlarvt, in Marckolsheim wurde ein Bleiwerk verhindert. Beide Aktionen waren erfolgreich: Im Erreichen des Zieles und auch in der Ausbildung einer „Struktur des Widerstandes“. Also konnten die neuen Betroffenen in Wyhl auf Unterstützung aus ihrer engsten Umgebung rechnen: sie haben dieselbe Sprache, sie verteidigen dieselbe Sache.
DIE GLEICHE SPRACHE DIE GLEICHE SPRACHE
Die bewußt gewordene Gemeinsamkeit fußt auf der Tradition der Alemannen, und gerade der Versuch der Regierenden die künstliche Grenze zwischen Marckolsheim und Wyhl zur Trennwand hochzuspielen, verkehrte sich ins Gegenteil. Die Interessen in Stuttgart, Bonn, Paris waren gleichermaßen feindlich, nicht nur für die im Verwaltungsbezirk Betroffenen, sondern für die gesamte Region.
Für Wyhl ist nicht die Ausnahmesitnation das Spektakuläre, das Kennzeichnende, sondern gerade umgekehrt die Besinnung auf den Alltag, die Erfahrungen in der Nutzbarmachung der Natur, die Kenntnis der Fähigkeiten jedes Einzelnen im Dorf. Der Widerstand folgt nich t einem entfernten Ziel, das, um auf dem Weg dorthin zu bleiben, zwingt, die eigene Geschichte zu vergessen, sondern er verfolgt praktische Ziele, unmittelbare Interessen. Hieraus entsteht die Sicherheit, die aufgestellten Forderungen und die Militanz zu ihrer Durchsetzung als Recht zu sehen, das zu jeder Zeit wieder neu verteidigt würde: auch noch nach einem Jahr Baustopp und aufgehobener Platzbesetzung.
Die anderen Schauplätze - besonders Brokdorf, Grohnde und Gorleben wird man unter zwei Gesichtspunkten betrachten müssen: Dem Beispielcharakter des Wyhler Widerstandes und der zunehmenden Bedeutung der Massenaktionen. Die durch Wyhl entstandene Öffentlichkeit, die nach den Protesten gegen militärische Nutzung der Kernenergie nun zum erstenmal die Gefahren der zivilen Anwendungen diskutierte, wurde noch verstärkt durch die spektakulären Massenaktionen am Bauplatz, in deren Mitte zwar die Winzer standen, deren Masse aber durch die solidarische Linke aus der BRD gebildet wurde. Für Wyhl gilt, daß die Identität, das Selbstbewußtsein der Bürgerin titiativen vor den Fremden nicht kapitulierte. Die Erfahrung der großen Solidarität machte nicht vergessen, das das Spektakuläre der Riesendemonstration zwar eine große Bedeutung für die Öffentlichkeit, für das Problembewußtsein über die Region hinaus besitzt, daß aber der Erfolg des Kampfes in der Ausdauer auch in den Ruhezeiten, im Bewahren der eigenen Interessen liegt. Die Situation in Brokdorf und Grohnde ist in diesem Punkte sehr viel schwieriger. Die kurze Vorbereitungszeit, die Militarisierung der Auseinandersetzung und die Panikstimmung in der Presse bewegten Brokdorf und Grohnde immer weiter aus dem Gesichtskreis der unmittelbar Betroffenen heraus zu einem Symbol für die ganze „Bewegung”.
DER VERSUCH DER LINKEN DIE INTERESSEN DER ANSÄSSIGEN ZU IHREN INTERESSEN ZU MACHEN
In den zu erwartenden Kämpfen in Gorleben („hier wird es den ersten Toten geben”), oder wo auch immer der Standort der WAA liegt, wird dieses Problem noch deutlicher auftreten, da die Sachzwänge um die WAA zum Angelpunkt für sämtliche Kernkraftwerke in der BRD werden. Es besteht die Gefahr, daß die Solidarität der „mittelbar” Betroffenen mit den „unmittelbar” Betroffenen auch Verfremdungen und Abwehr der BI’s zur Folge hat. Denn der Versuch der Linken, die Interessen der Ansässigen zu ihrem Interesse zu machen, entwickelt sich in die falsche Richtung: Die militanten Auseinandersetzungen in Grohnde fanden gegen den Willen der Betroffenen statt.Diese doppelte Funktion der Massenaktionen findet ihre Entsprechung auf der Ebene der Einschätzung und der theoretischen Klärung des “neuen Widerstandes”: die Konsequenz der Ansässigen, dem Bewußtsein yon der Rechtmäßigkeit des „kein KKW in Wyhl und auch nicht anderswo” auch radikale Handlungen folgen zu lassen, widersetzt sich allen Bestrebungen zur Subsumption unter einen Begriff. Das gilt für die strategisch-taktischen Erwägungen der K-Gruppen genauso wie für die gescheiterten Integrationsversuche der Parteien und die Interpretation der Autonomisten, hier handle es sich allein um eine Bewegung zur Verteidigung der Region oder um den Kampf gegen die Technik überhaupt. Denn wenn sich zur Zeit Leute gegen die Zerstörung ihres Lebenszusammenhangs wehren (sei das in der Stadt gegen die fremden Betonhochhäuser oder auf dem Land gegen Radioaktivität und Industrie), so haben sie ihre Stärke in der konkreten Auseinandersetzung um ihre unmittelbaren Interessen, und nicht darin, daß ein paar Theorieproduzenten die mit anderen Schauplätzen gemeinsamen, allgemeinsten Merkmale zur „ Bewegung“ erklären. Erst mit dieser „abstrakten“ Bewegung aber haben wir uns solidarisiert und 20 000 Leute aufgehäuft. (Wer dachte schon vor Wyhl und Brokdorf an KKW‘s? ) Wir müssen noch viel diskutieren, um unser Engagement inhaltlich anders zu füllen, als mit der Diskussion um den besten Wurfanker
VI
Einen guten Überblick zum Thema Wiederaufbereitung geben zwei kleine Bücher: “Absolute Sicherheit oder verbrannte Erde“,G.Dreyer und H.Vinke, Verlag Association und der rororo-aktuell Band „Atommüll oder der Abschied von einem teuren Traum“, Arbeitsgruppe an der Uni Bremen,Rowohlt .Sehr viel technische Informationen enthält der Bericht „Entsorgung der Kerntechnik” (Deutsches Atomforum ist der Herausgeber) zum Symposium vom 19/20.1.76 in Mainz. Aktuelle Informationen und Kurzberichte findet man in der monatlich erscheinenden Zeitschrift „Atomwirtschaft”(atw).
Hartmut Schröter