»Zeitschriften und Zeitungen, die gegen den Strom schwimmen, die wider den Stachel der Obrigkeit löcken, die das zu drucken wagen, was die etablierten Medien verschweigen oder verschweigen müssen, weil die Besitzer dieser Zeitungen mit der Obrigkeit unter einer Decke stecken, kurzum Zeitungen und Zeitschriften, die man heute zur Alternativpresse zählt, die gibt es nicht erst seit der Jugendrebellion, die gab es schon vor 100 Jahren […]«1

Dieses Zitat von 1981 verweist darauf, dass Druckerzeugnisse spätestens seit der Industrialisierung eine zentrale Bedeutung für Protestbewegungen hatten. Jedoch kommt es in der Folge der 68er- Revolte zu einem regelrechten Alternativzeitungsboom in Westdeutschland. In jeder größeren Stadt gab es in den 1970er-Jahren gleich mehrere alternative Zeitungsprojekte. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, hatte dieser Boom vor allem mit den organisatorischen, inhaltlichen und strategischen Wandlungen der Protestbewegungen zu tun. Wer diesen Wandel verstehen will, ist schon allein deshalb auf diese Quellen angewiesen. Da die Protestbewegungen der 1970er-Jahre bis heute nachwirken und viele Debatten von damals heute in verschiedenen Bewegungen wieder geführt werden, sind die Alternativzeitungen nicht nur für Historiker_innen von Interesse. Beispiele für Themen, die immer wieder neu in Protestbewegungen diskutiert werden, sind die Organisationsdebatte, die Frage nach dem richtigen Verhältnis zum Reformismus, die Bedeutung der Ökologie, der Umgang mit internen Konfl ikten und der Rolle von Lohnarbeit, um nur einige wenige zu nennen.

Der Alternativzeitungsboom der langen 1970er-Jahre

Einige Zeitschriftenprojekte, die in den 1970er-Jahren gegründet wurden, waren kurzlebig, nur wenige Seiten dick und wurden sporadisch herausgegeben, andere wurden regelmäßig von gut organisierten Autor_innenkollektiven aufwendig produziert und hatten eine Auflage von mehreren tausend Stück pro Ausgabe. Gemeinsam war ihnen aber, dass sie sich als Projekt »von unten« als Ausdruck einer Bewegung verstanden: »Ein alternatives BLATT ist BLATT auch in dem Sinn: wir tun gar nicht erst so, als wären wir eine objektive Zeitung, in der neutrale Journalisten wertfrei berichten. BLATT ist subjektiv und sagt das auch. BLATT steht nicht über den Dingen, sondern drin.«2 Die Redaktion des Münchner Blatt, das als Prototyp der alternativen Stadtzeitungen gilt, stellte hier gleich in der ersten Ausgabe von 1973 klar, was sie unter Alternativzeitung verstanden. Die Zeitungsprojekte waren damit Teil des Versuchs, die eigenen Ideale auch in der Sphäre der Arbeit zu verwirklichen und den entfremdeten Verhältnissen entgegenzutreten. Hierarchische Strukturen sollten überwunden und Entscheidungen möglichst gemeinschaftlich getroffen werden. Dementsprechend unterschrieben auch die diskus-Redaktionen ihre Texte oft mit »diskus-Kollektiv«. Dass das sicherlich oft mehr Wunsch als Realität war und sich informelle Hierarchien herausbildeten, tat diesem Anspruch keinen Abbruch. Auch die »Trennung von Kopf- und Handarbeit«, also zwischen überwiegend geistigen und vor allem körperlichen Tätigkeiten, sollte in den Alternativbetrieben aufgehoben werden. Eng damit verbunden war das Postulat der gleichen Entlohnung für alle Angestellten.

Der Grund für diesen Aufstieg der Alternativpresse in den langen 1970er-Jahren – also ungefähr dem Zeitraum von der 68er-Bewegung bis ins erste Drittel der 1980er-Jahre – war die rasante Ausdehnung der Protestbewegungen in Folge der 68er- Revolte und die damit einhergehende Entstehung der Neuen Sozialen Bewegungen. Ende der 1960er und Anfang der 1970er-Jahre schien es zwar zuerst so, als ob der Siegeszug des Neoleninismus in der westdeutschen Linken unaufhaltsam wäre. Dieser Boom der straff organisierten K-Gruppen3 wurde jedoch recht rasch vom Aufstieg undogmatischer linker Strömungen abgelöst, auch wenn die zwar stark fallende, aber absolut immer noch bedeutende Anhängerschaft der leninistischen Organisationen bis Anfang der 1980er-Jahre ein quantitativ bedeutender Teil der Protestbewegungen waren. Im diskus hieß es deshalb schon 1975: »Um sie herum veränderte sich alles — nur sie selbst blieben sich gleich. So wurden sie oft eine Glosse der Geschichte alter Kämpfe, deren Heroik und Tragik sie in einem zwergenhaften Wuchs nachahmten«.4

Teils aus den antiautoritären linken Gruppierungen heraus, teils parallel dazu entwickelte sich im Laufe der 1970er-Jahre ein stark ausdiff erenziertes linksalternatives Milieu, das zeitgenössisch auch Alternativbewegung genannt wurde. Während davor recht feste Organisationsstrukturen die Linke geprägt hatten, entwickelten sich die Protestbewegungen im Laufe der 1970er-Jahre immer stärker hin zu einem nur sehr losen strukturierten Sammelsurium unterschiedlichster Strömungen, Kleingruppen und Projekten. Parallel dazu verschoben sich auch die thematische und strategische Ausrichtung der Protestbewegungen. Die frühen 1970er-Jahre waren bei fast allen linken Strömungen dadurch bestimmt, dass der Eindruck bei ihnen vorherrschte, dass die Weltrevolution gerade im politischen Süden mit großen Schritten voranging. In Westdeutschland sollte »das Proletariat […] aus seinem Dornröschenschlaf«5 geweckt und der »Klassenkampf im eigenen Land«6 vorangetrieben werden. Nach der Einschätzung der meisten Aktivist_innen befanden sie sich in einer akut revolutionären Situation. Als sich diese Hoffnung Mitte der 1970er-Jahre weder international noch in Westdeutschland erfüllte, kam es zu einem rasanten und tiefgehenden Utopieverlust innerhalb der Protestbewegungen. Dies führte zu einem immer stärkeren Rückzug in die eigene Szene, zu einer Verinnerlichung der Politik und gab den Protesten einen zunehmend defensiven Charakter. Anstelle der Proklamation des Klassenkampfs trat nun die Hoff nung durch den Aufbau alternativer Strukturen und der Ausdehnung der Bewegungen die eigenen Ziele verwirklichen zu können. Im Blatt hieß es dazu: »Es geht darum Netze zu bauen, vielfältige Kanäle zu ziehen, ein Milieu zu entwickeln, Nischen und Ritzen zu besetzen, den Staat zu unterlaufen, zu zerbröckeln, brüchig zu machen, anstatt ihn zu zerschlagen«.7 Statt in Großbetreibe zu gehen um dort mit den Arbeiter_innen in Kontakt zu kommen, wurde der Aufbau eigener »Alternativbetriebe« immer wichtiger. Themen wie Ökologie, Regionalismus aber auch die Esoterik gewannen schnell an Bedeutung. Gerade weil dieses Milieu größtenteils auf überregionale und feste Organisationen verzichtete, wurden die Alternativzeitungen zum »Ort der politischen Selbstverständigung und kollektiver Identitätsstiftung«.8 Für die Protestbewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre war die eigene Gegenöff entlichkeit damit zentraler Teil ihres »politischen Bekenntnis[es]«.9 Besonders früh zeigten sich diese Tendenzen bei den Spontis.

Die Spontis als Ideengeber der undogmatischen Linken

Heute sind die Spontis den wenigsten noch ein konkreter Begriff . Wenn überhaupt, kennt man sie noch aufgrund ihrer zwei bekanntesten Protagonisten, Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer.10 Diese geringe Beachtung steht dabei im schroff en Gegensatz zu ihrer großen Bedeutung für die Entwicklung der undogmatischen Linken in Westdeutschland. Dies gilt ganz besonders für Frankfurt, wo die Spontis lange Zeit die wohl dominierende Strömung links der SPD darstellten. Dies zeigt sich auch deutlich im diskus, der zwar immer auch anderen Strömungen Platz bot und sich »keinesfalls […] als Sprachrohr dieser oder jener politischen Organisation«11 sah, der dennoch längere Zeit, personell, inhaltlich wie auch ästhetisch durch die Spontis stark beeinfl usst war. Während die meisten anderen Zerfallsprodukte der 68er-Revolte, wie die K-Gruppen, seit Mitte der 1970er-Jahre rasch an Bedeutung verloren, hatten die Spontis »immer ein off enes Ohr für den Genossen Zeitgeist«12 und vollzogen und initiierten teilweise einen habituellen, organisatorischen und inhaltlichen Wandel, der die bundesrepublikanische außerparlamentarische Linke bis heute prägt.13 So hatten die Spontis beispielsweise schon in den frühen 1970er-Jahren Erscheinungen der Alternativbewegung vorweggenommen, indem sie neben Frankfurt vor allem in München, Berlin und kleineren Universitätsstädten wie Heidelberg eine Szene mit eigenen Institutionen, Habitus, Sprache und eine Gegenöffentlichkeit entwickelt hatten, auf die das entstehende linksalternative Milieu aufbauen konnte. In der Forschungsliteratur zählen die Spontis deshalb zu den »wesentliche[n] Mitbegründer[ n] der Alternativszene«.14 Die Spontis waren somit nicht nur eine Brücke zwischen der 68er-Bewegung und den Neuen Sozialen Bewegungen der 1980er-Jahre, sondern beeinflussten diese Transformation zum Teil wesentlich.

Ganz ähnlich wie große Teile der Protestbewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre waren die Spontis dabei eine recht heterogene Szene mit einer Vielzahl an Gruppen, Zusammenhängen und Unterströmungen. Trotz der Uneinheitlichkeit ist ein wesentliches Merkmal dieser Strömung, dass sie sich als Fortsetzung der 68er-Revolte verstanden. Im Gegensatz dazu wandten sich die allermeisten anderen Aktivist_innen nach dem Zerfall der 68er-Revolte entweder den Parteien der sozialliberalen Koalition bzw. deren Jugendorganisationen zu oder verschrieben sich dem aufkommenden Neoleninismus. Die Spontis hielten dementgegen am antiautoritären Anspruch von »68« fest:

»[D]irekte Aktionen statt Vermittlung – auf der Straße, nicht in den Gremien – neue Verkehrsformen, neue und off ene Zärtlichkeit, ein neues Verhältnis zur Sexualität: Lust statt Last, Angst und Unterdrückung – Wohngemeinschaften – Wir wollen Alles; die Kette ließe sich fortsetzen.«15

Großes Vorbild waren dabei die unterschiedlichen Protestbewegungen in Italien: »Wir haben Italien immer geliebt. Was hier Ansätze waren, das war dort Realität. Es stand dort immer besser um die Revolution. Stets gab es Bewegungen, die sich zur Identifikation anboten: in den Betrieben, in den linksradikalen Gruppen, später in der Gegenkultur«.16 Hier ist vor allem die neomarxistische Strömung des Operaismus zu nennen.17

Es ging den Spontis dabei darum, der existierenden »Arbeits- und Lebensweise neue, antagonistische Bedürfnisse«18 entgegenzusetzen. Aus diesem Anspruch auch den Alltag zu revolutionieren, entstand im Laufe der 1970er-Jahre eine immer stärkere Fixierung auf die eigene Szene, mit dem Ziel ein weitestgehend eigenständiges Milieu aufzubauen. Es war der Versuch »der Bourgeoisie den Einfluß in allen Bereichen des Lebens [zu] entreißen«.19 Schlussendlich führte dieser Kurs dazu, dass die Spontis ihre Eigenständigkeit gegenüber den Neuen Sozialen Bewegungen immer mehr verloren und Anfang der 1980er-Jahre als autarke Bewegung aufhörten zu existieren. Dieser Wandel wurde 1977 in einer Sponti-Publikation wie folgt selbstironisch zusammengefasst: »Bei dem Versuch, den Marxismus links zu überholen, kamen die Spontis vom Weg ab und blieben im Kornfeld stecken«.20

Sponti-Zeitungen als Organisationsersatz

Gerade aufgrund des ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre nur noch geringen Organisationsgrads der Spontis übernahmen die Publikationen die Funktion einer Plattform und die »Koordinierung über Szene-Zeitungen«21 gewann weiter an Bedeutung. Die Periodika hatten dabei den Anspruch, mehr als »nur einfach eine ›überregionale Sponti-Zeitung‹« zu sein.22 Diese über bloße Inhaltsvermittlung hinausgehende Rolle der Sponti-»Organe« wird auch in der Klage der Redaktion des Frankfurter Pflasterstrand deutlich: »[Wir werden] oft als Zentralkomitee der Spontis behandelt, das Problem dabei ist: wir gewöhnen uns daran«.23

Die Zeitschriften wurden so zum Abbild des gesamten Lebenskosmos der Sponti-Bewegung. Hier wurden nicht nur politische Debatten geführt und im Veranstaltungskalender die nächsten Plena, Kundgebungen und Demonstrationen angekündigt, sondern auch die angesagten Musik-Bands, Romane und Kneipen besprochen und beworben, es gab Reisetipps und -reportagen, Alternativbetriebe schalteten Anzeigen, Leser_innenbriefe artikulierten Empörung oder Zustimmung und die Kleinanzeigen deckten die gesamte Palette von Wohnungsgesuchen über den Möbelmarkt bis hin zur Partner_innenvermittlung ab. Neben der Funktion als »Kommunikationsmittel«24 beziehungsweise »überregionaler Bezugspunkt«25 der Sponti-Bewegung waren die Sponti-Zeitschriften auch die »halb-amtliche Öffentlichkeit der Bewegung«.26 Sie hatten somit auch eine propagandistische Intention und sollten unter anderem potenzielle neue Sympathisant_innen ansprechen. Was auch gelang, wie zum Beispiel die Erinnerung eines Frankfurter Spontis verdeutlicht: »Nach Frankfurt kam ich ganz unbescholten. Meine Welt brach ganz zusammen, als ich nicht mehr die Hannoversche Allgemeine las, sondern den Pflasterstrand, den ID, den Arbeiterkampf, die SHI-Flugblätter«.27

Mit Öffentlichkeit war aber eigentlich – das manchmal etwas weiter, manchmal etwas enger definierte – linke Milieu selbst gemeint. Hauptsächlich für dieses, selbst für Ihre Mitglieder, unüberschaubare und wirre Geflecht von verschiedensten Projekten, Gruppen, Strömungen, Einzelpersonen wurde in den Alternativmedien geschrieben: »soll eine Zeitung der Linksradikalen, Spontis oder wie auch immer undogmatisch-unorganisierten sein, die versucht, die Vielzahl der verschiedenen Ansätze, Politik zu machen und sich dabei zu verändern (oder umgekehrt) zu umfassen, sie miteinander zu vermitteln und das düstere Gestrüpp der ›Scene‹ transparenter zu machen«.28 Selbst die »Studentenzeitung« diskus, die mit einer vom »Studentenparlament « gewählten Herausgeberschaft29 keine Alternativzeitung war, berichtete immer wieder über die Szene und Themen wie z. B. »Verkehrsformen und Verhaltensweisen der Linken untereinander und nach außen«.30 Nur für einzelne Kampagnen war es erklärtes Ziel, dass die »Gegenöffentlichkeit […] bis in das Lager der Linksliberalen und Reformisten « reichen sollte.31 Erst die Tageszeitung (taz) versuchte ernsthaft »aus der Ecke der Alternativ- und Scene-Presse heraus[zu]treten« und »Teil der öff entlichen Meinung in der Bundesrepublik und Westberlin [zu] werden.«32 Sie war deshalb damals – anders als heute oft suggeriert – und aufgrund der damit einhergehenden Notwendigkeit der Professionalisierung in der Szene nicht unumstritten.33

Der Sponti-Presse kam also wesentlich auch eine organisatorische Aufgabe innerhalb der Szene zu. Sie unterschied sich allein schon von ihrer Funktion fundamental von der »bürgerlichen Presse«.34 Aber natürlich hatten die Zeitschriftenprojekte auch ganz klassisch den Zweck der Berichterstattung. Dies besonders, da man sich einem »Öffentlichkeitsmonopol der Herrschenden«35 in Form »vollautomatische[ r] Zeitungsbetriebe des Springerkonzerns und [der] christlich-liberalen-sozialdemokratischen Eintopfsuppe«36 gegenüber sah. Einerseits zielte dieser Vorwurf eines bürgerlichen Öffentlichkeitsmonopols eher allgemein auf die Rolle der Presse im Kapitalismus, so erklärte etwa die Frankfurter Sponti-Gruppe Revolutionärer Kampf: »Der Kampf der Protestbewegung gegen die Manipulation hat in aller Schärfe gezeigt, daß die Informationsmedien ihren bürgerlich-aufklärerischen Charakter völlig verloren haben. Sie werden im Gegenteil zu einem weiteren Konsumartikel und verstärken im Bereich der unmittelbaren Produktion die Mystifikation des Kapitalverhältnisses«.37 Andererseits war ganz konkret die vorherrschende Rolle einiger weniger Zeitungskonzerne damit gemeint. So war 1975 circa 70 Prozent des Zeitschriftenmarktes unter den vier Konzernen Bauer, Springer, Burda und Bertelsmann aufgeteilt.38 Die für die Spontis daraus resultierende »Notwendigkeit einer Gegenöffentlichkeit«39 war ein ganz zentrales Legitimationsmotiv. So hieß es im Münchner Blatt 1982 rückblickend: »Diese Szene, die irgendwie zusammenhing, hatte das Bedürfnis, sich auszudrücken, Inhalte zu äußern, die in der bürgerlichen Presse keinen Platz hatten, bis heute nicht. Aus dieser Subkultur, jetzt Alternativbewegung genannt, entstand das Blatt«.40

Szene-Publikationen als Quelle

Wie hier am Beispiel einiger Sponti-Publikationen gezeigt werden sollte, waren die Alternativmedien der langen 1970er-Jahre mehr als reine Debattenorgane und auch mehr als nur Gegenöffentlichkeit im Sinne der Verbreitung der eigenen Sicht. Sie waren – und das unterscheidet sie von anderen Presseerzeugnissen und auch vielen anderen politischen Zeitschriften – eine Art Organisationsersatz für das sehr heterogene und über die Jahre hunderttausende Mitglieder und Sympathisant_innen umfassende Protestbewegungsmilieu der Bundesrepublik. Die Alternativmedien waren also ein wichtiger Teil der Infrastruktur dieses Milieus.

Gerade die oft eher unscheinbaren Elemente der Zeitschriften wie Kleinanzeigen, Werbeseiten, Terminkalender, Grafi kelemente, Leser_innenbriefe usw. bieten einen Einblick in die Lebenspraxis und Vorstellungswelt ihrer Mitglieder. Das ist zum Verständnis der undogmatisch linken und linksalternativen Szene der langen 1970er-Jahre besonders wichtig, da sie sich nicht zuletzt über Fragen der Identitätspolitik wie etwa einen ähnlichen Konsum- und Handlungskodex, Kleidungsstile, Kulturvorlieben, verwendete Symbole und Ähnliches defi nierten. Eine Tendenz, die bis heute in den Protestbewegungen zu beobachten ist.

Natürlich haben Alternativmedien als Quelle ihre klaren Grenzen. Auch wenn sie vor allem Publikationen für die eigene Szene waren, so waren sie dennoch als eine Darstellung in der Öff entlichkeit gedacht. Ebenso war es off ensichtlich, dass sie nicht nur im Milieu selbst, sondern auch von verschiedenen staatlichen Stellen und politischen Gegner_innen aufmerksam gelesen wurden. Allein schon die vielen Ermittlungsverfahren gegen Presseverantwortliche verschiedener Alternativzeitungen bezeugen dies. Somit gibt es Themenkomplexe, die kaum bzw. stark selbstzensiert in den Alternativmedien vorkommen. Das wohl off ensichtlichste Beispiel hierfür ist die »Militanz-Debatte«, in der es lange Zeit gar nicht so sehr um die Frage der Legitimität von Gewaltanwendung ging, sondern vor allem um die richtige militante Strategie. Aber auch über personelle Zusammenhänge erfährt man kaum etwas in den Zeitschriften. Auch die Autor_innenenschaft der veröff entlichten Artikel ist oft durch die Verwendung von Pseudonymen anonymisiert worden, auch wenn diese zum Teil heute aufl ösbar sind. Obwohl man also oft nicht genau weiß, wer in den Alternativmedien publizierte, so ist doch auch klar, dass es eine kleine Minderheit innerhalb des Milieus war, welche hier ihre Gedanken äußerte. Trotz all dieser Einschränkungen sind die Alternativmedien neben dem Gespräch mit Zeitzeug_innen wohl die wichtigste Quelle für die Erforschung von Protestbewegungen, die sich weniger um feste Strukturen und Hierarchien organisieren, denn um eine eher lockere Szene.

 

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