»Merhabayı unuttular, grüß gott derler«
Der Dokumentarfilm »Aşk, Mark ve Ölüm«1 (»Liebe, D-Mark und Tod«) öffnet den Blick auf eine faszinierende Welt migrantischen Lebens. Er zeigt, wie in den Communities türkeistämmiger Gastarbeiter_innen neue musikalische Ausdrucksformen entstanden und fernab der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu einer eigenen Welt schillernder Popkultur anwuchsen. Der Regisseur Cem Kaya und sein Team machen diese Geschichte durch ein großes Konvolut an Archivmaterial sicht- und hörbar, wobei sie Melodien, Songtexte, Privat- wie Fernsehaufnahmen und Gespräche mit Zeitzeug_innen verknüpfen. Essayhaft erzählen sie von der Geburt dieser Musik im Zuge des Anwerbeabkommens im Jahr 1961 und deren Weiterentwicklung durch die folgenden Generationen bis zu den Nullerjahren.
Der Film feierte seine Premiere auf der Berlinale 2022, wo er den Publikumspreis erhielt. Wir sahen den Film auf dem Frankfurter Lichter-Filmfest 2022 und merkten dabei, auf welch fesselnde und überwältigende Weise Archivmaterial in die Gegenwart geholt werden kann. In Bezug auf das Heftthema warf die Dokumentation Fragen auf, denen wir in einem Gespräch mit dem Regisseur Cem Kaya nachgegangen sind. Aus welchen Sammlungen und Archiven stammte das Material zu dieser Musikkultur? Wo finden wir Archive migrantischer Geschichte und wer kümmert sich um diese? Wie können wir die Zeit der großen Anwerbeabkommen nachempfi nden und verstehen? Inwiefern helfen uns dabei Melodien, Songtexte und Archivbilder?
Neue Bilder der Gastarbeiter_innen
In experimentellem Stil, kennzeichnend für die Werke Kayas, laufen Archivbilder und O-Töne über die Leinwand, ohne, dass sich ein voice over darüberlegt. Das Archivmaterial spricht ganz für sich. In rasanten Schnitten wechseln sich Nachrichtenbilder, Privataufnahmen von Hochzeiten oder Ausschnitte aus TV-Sendungen über migrantisches Leben mit neu gedrehten Performances und Interviews ab. Die Aufnahmen zeigen die verschiedensten Emotionen und Situationen: freudige Tanzeinlagen, traurige Paare beim Abschied am Bahnsteig oder Material aus Fernsehdokumentationen, wobei aus deutscher Perspektive das Alltagsleben der migrantischen Arbeiter_innen beobachtet und aus der Distanz kühl bewertet wird.
Kaya verweist im Gespräch mit uns auf die neue Bilderwelt, die seine Archivcollage vorführe: »Das Videomaterial aus den Archiven hat uns eine neue Geschichte gegeben, weil das migrantische Leben hier in Deutschland so nie abgebildet wurde. Wenn es Bilder von damals gab, dann diese Schwarz-Weiß-Bilder, wie Migranten am Bahnhof ankommen und dann im Stahlwerk malochen und so weiter. Selbstständige Frauen, die alleine nach Deutschland gekommen sind, um zu arbeiten, wurden nie abgebildet. Dabei waren ein Drittel aller Gastarbeiter Gastarbeiterinnen. Das wird nicht erzählt. Es ist ganz wichtig, dass man diese Bilder hochholt«. Auch die Bilder seines Films seien männerdominiert, gibt Kaya zu, aber man versuche, das Leben der Frauen ebenso darzustellen.
Einige Archivvideos zeigen deutlich die mitunter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen. So schockieren Bilder von Gastarbeiter_innen, die in Unterhose antreten müssen, um geröntgt und von deutschen Ärzten_Ärztinnen auf ihre Arbeitstauglichkeit untersucht zu werden. Der Auschnitt scheint aus einer britischen TV-Dokumentation zu stammen, deren Kommentator sarkastisch bemerkt: »The Germans are not looking for Olympic athletes, but they are looking for durable factory workers«. In einer anderen Szene erzählt ein Ford-Gastarbeiter, dass er deutlich weniger als seine deutschen Kollegen verdient und die Kündigung erhielte, wenn er sich krankmeldete, weshalb er sich mit einem Leistenbruch zur Arbeit schleppe. Mündliche Erzählungen spielen eine wichtige Rolle in der Rekonstruktion und dem Einfangen der Stimmungen der damaligen Zeit, sagt Kaya. Die Erinnerungen der Arbeiter_innen brächten oft kuriose Details ans Tageslicht, die in die klassische Geschichtsschreibung keinen Eingang fänden. Zugleich gibt er zu bedenken, dass man es, etwa in Erzählungen über die kostspieligen Feiern der Communities, teils mit melancholischen Verklärungen oder romantisierenden Übertreibungen zu tun bekomme.
»Alle zehn Jahre kommen die Deutschen und gießen einem die Blumen«
Zwei Freunde Kayas, der Autor İmran Ayata und der Künstler Bülent Kullukcu, leisteten mit ihrer 2014 herausgebrachten Musik-Compilation »Songs of Gastarbeiter« Pionierarbeit. Diese Werksammlung aus den Archiven, erzählt Kaya, öff nete ihm die Augen dafür, dass man verstärkt in Deutschland, anstatt in der Türkei, nach türkeiämmiger Musikkultur suchen konnte. Das Zeitfenster sei glücklich gewesen: »Die Idee für unseren Film hatten wir kurz vor dem 60-Jahre-Jubiläum der Gastarbeiteranwerbung. Es ist ja dann immer so, alle zehn Jahre kommen die Deutschen und gießen einem die Blumen und auf einmal gibt es Budgets und alle Sender wollen diese Themen haben«.
Zusammen mit dem Producer und Regisseur Mehmet Akif Büyükatalay und Ufuk Cam, Co- Autor und Archivchef des Teams, wollte Kaya, der Drehbuch, Regie und Schnitt verantwortete, die lange Vorgeschichte der heutigen türkeistämmigen Musikkultur in Deutschland aufarbeiten. Insbesondere Musikstile, die hier neu entstanden und nicht aus der Türkei importiert wurden, wollte man stärker in den Fokus rücken. »In den Filmen der vielen migrantischen Regisseur_innen hat diese Archivebene gefehlt. Solche Archivfilme kosten viel Geld, das man normalerweise für Archivprojekte nicht erhält«, meint Kaya. Das Ziel sei eine neue Geschichtsschreibung gewesen, die aus einem anderem Blickwinkel von der deutschen Nachkriegsgesellschaft erzählt.
Armut und Heimweh der ersten Generation: Gurbet Türküleri
Im Film werden sehr unterschiedliche Künstler_innen portraitiert. Teilweise vertreten sie aus der Türkei importierte Musikstile, wie die Arabesk-Musik. Von Anfang an entstehen aber auch neue Stile in Deutschland, wie die »Gurbet Türküleri«2 (»Türkische Lieder aus der Fremde«) von Aşık Metin Türköz. Die Schauplätze migrantischer Musikkultur befinden sich vor allem in den industriell geprägten Metropolen Köln, Berlin, Frankfurt und München, aber auch auf dem Land. Dort gab es etwa Konzerte in Mehrzweckhallen, die für Hochzeiten angemietet wurden.
Die türkeistämmige Community verkaufte ihre Musik in dieser Zeit auf eigene Faust bei Einzelhändler_innen auf Kassetten, die ab den 1970ern eine günstige Alternative zur Vinylplatte boten. Vorreiter war hierbei vor allem das Kölner Label »Türküola«, das in den 1960er- und 1970er-Jahren das umsatzstärkste Independent-Label Deutschlands war.3 Das Ehepaar Yüksel und İhsan Ergin besitzt einen Kassettenladen in Berlin und erzählt im Film, wie immer wieder Menschenmengen der migrantischen Arbeiter_innenschaft vor ihrem Laden Schlange standen, ohne dass die Deutschen Notiz davon nahmen. »Es ist keine Subkultur, sondern eine Massenkultur, die nebenbei stattfindet – eine Parakultur«, bemerkt Kaya. »Para heißt ja auch Geld auf Türkisch, es ist eine wahrhafte Para-Kultur«, fügt er lachend hinzu.
Der Kampf gegen Ausbeutung und Rassismus: Protestlieder
In vielen der vorgestellten Lieder, gerade aus der Zeit der 1960er und 1970er, geht es um ausbeuterische und erniedrigende Arbeitsbedingungen in Deutschland. Das sogenannte Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit und der damals weitgehend anhaltende ökonomische Erfolg der BRD werden oft als Zeit des wirtschaftlichen Wohlstands und sozialen Aufstiegs erzählt. Die Lieder türkeistämmiger Arbeitsmigranten_migrantinnen vermitteln gegenläufi ge Erzählungen und Stimmungen, die den euphorischen Blick der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf diese Zeit brechen.
Der Schriftsteller İmran Ayata stellt im Film fest, dass der fortwährende Rassismus gegenüber der türkeistämmigen Community – der auch im Film immer wieder dargestellt wird – über Jahrzehnte einen Antrieb für deren musikalische Selbstbehauptung darstellte. Cem Kaya sagt hierzu: »In den Musiktexten geht es viel um strukturellen oder systemischen Rassismus, gar nicht so sehr um den Rassismus, der auf der Straße stattfindet. Wenn Metin Türköz nach Deutschland kommt und dann singt, wir dürfen nur in der Fabrik duschen, dann ist das eine Form des Protests, die aus der Aşık-Kultur kommt«. Der Aşık sei ein anatolischer Volkssänger, der der Wortbedeutung nach gewissermaßen alle Menschen liebe. »Die ersten Amateur-Aşıklar, die nach Deutschland kamen, waren eigentlich die Chronisten der Migration. Sie kommentieren das mal lustig sarkastisch, mal traurig mit Herzschmerz. Aşık Metin Türköz hat zum Beispiel eine Woche nach dem Ford-Streik einen Song über den Streik aufgenommen«. Deutsche Gewerkschaften verwehrten damals aus unplausiblen bis hin zu rassistischen Gründen Arbeitsmigranten_migrantinnen die Gewerkschaftsmitgliedschaft.4 Im Jahr 1973 brachen deutschlandweit über 300 wilde Streiks aus, denen die Gewerkschaften ihre Unterstützung verweigerten.5 Nachdem im Kölner Ford Werk 1973 ca. 300 Gastarbeiter_innen gefeuert wurden, weil sie länger im knapp bemessenen Heimaturlaub blieben, organisierten sich Tausende zu einem ›wilden Streik‹.6 Sie forderten eine faire Entlohnung, humane Arbeitsbedingungen und Akzeptanz. Im Film sieht man Demonstrant_innen mit Plakaten, auf denen »runter mit dem Fließbandtempo« oder »1 DM mehr für alle« steht und hört die Hymne des Streiks, in der Metin Türköz singt: »Also lieber Meister, ich will nicht für wenig Lohn arbeiten. Versteh es endlich: Bei diesem Arbeitstempo gehen wir beide unter«.7 Kritik an der deutschen Gesellschaft, der illusorischen Vorstellung der deutschdefinierten Integration sowie dem fortwährenden Rassismus äußerten migrantische Künstler_innen ab den 1970ern immer lauter – so wie Cem Karaca oder Derdiyoklar in den zitierten Songtexten.
Letztlich schlug eine Gruppe aus Vorarbeiter_innen, Werkschutzangehörigen, Streikbrecher_innen, Zivilpolizist_innen und leitenden Angestellten den Streik bei Ford nieder und überstellte die Streikführer_innen der Polizei.8 Im Film wird eine Schlagzeile der Bildzeitung eingeblendet: »Deutsche Arbeiter kämpfen ihre Fabrik frei«. Danach bekommt man auch Bilder eines erfolgreichen Streiks zu sehen, den Gastarbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg organisierten. Durch die Solidarität zwischen diesen und deutschen Arbeiterinnen konnte so die bundesweite Abschaffung der für Frauen vorgesehenen »Leichtlohngruppe 2« erkämpft werden.9 Bis 1973 kamen 2,5 Millionen türkische Staatsangehörige als Arbeitsmigranten_migrantinnen nach Deutschland.10 Im Film hört man Kanzler Willy Brandt in der Tagesschau sagen, in der Wirtschaftskrise müssten »wir […] natürlich zuerst an unsere Landsleute denken «, womit er einen Anwerbestopp für Gastarbeiter_innen begründet. Dieser führte paradoxerweise – u.a. durch Familiennachzug – zu mehr Zuwanderung und machte das Land »aus Versehen zum Einwanderungsland «, wie es in Kayas Film heißt.
Die zweite Generation will feiern und kritisieren: Mehr Pop
Von der schier unüberblickbaren Menge an türkischsprachiger Popmusik, die damals in Deutschland entstand, zeugen auch die ellenlangen Kassettenschränke des Sammlers Ömer Boral, die im Film zu sehen sind. Boral und Kaya pflegen eine zwölfjährige Freundschaft. Kaya kaufte Kassetten bei ihm und hat Boral schon für einen anderen Film portraitiert. Um Zugriff auf private Sammlungen zu erhalten, müsse man sich Vertrauen erarbeiten, erzählt uns der Regisseur. Online-Aufrufe, Film- oder Audiokassetten an die Filmproduzenten zu schicken, seien im Sand verlaufen. Mehr Erfolg habe man durch Kontakte im persönlichen Umfeld gehabt. Über Freunde erreichte er einen Kameramann, der ihnen Aufnahmen der Hochzeitskonzerte des Folk-Duo Derdiyoklar, aus seinem Archiv aushändigte. Dank dieses Funds werden im Film die Erzählungen des Sängers Ali Ekber Aydoğan über wilde Bühnenshows auf Hochzeitsfeiern mit spektakulären Bildern unterlegt.
Es ist Kaya aber auch wichtig zu zeigen, dass nicht nur über das Schicksal geklagt, oder die Wut über Diskriminierung ausgedrückt wurde, sondern auch der eigene Alltag, Humor oder Liebe Eingang in die Musik fanden. »Die Aşıklar erzählen natürlich auch von lustigen Seiten des Lebens, wie in Adnan Türközs ›Monika‹, einem Lied über die deutschen Mädchen, sagt er. Schon ab den 1970ern bewegten sich Sound und Texte hin zur Lust am exzessiven Feiern und selbstbewusstem Auftreten. Vor allem die Gazinos (Restaurants oder Bars mit Livemusik) der türkischen Communities boten hierfür eine Bühne. Eines der bewegendsten Portraits im Film zeigt die Erinnerungen des queeren Sängers Hatay Engin an die Party- und Konzertszene im Türkischen Bazar in Berlin. Er zählte zu den Stars des zwischen 1972 und 1991 existierenden Gazinos im U-Bahnhof Bülowstraße. Der Bazar ist europaweit vielen türkeistämmigen Menschen ein Begriff , doch heute erinnert in der kahlen Berliner Haltestelle, die nach dem Mauerfall wieder in Betrieb genommen wurde, nichts mehr an das damalige Kulturzentrum. Einzig eine RBB-Doku rettete einige Bilder des Bazars in unsere Zeit, die Eingang in den Film fanden.
Kaya beschreibt, wie sich die Generation der 1980er- und 1990er-Jahre musikalisch emanzipierte: »Die Arabeskmusik eines İbrahim Tatlıses oder Ferdi Tayfur mit ihrem klagenden und von Herzschmerz erfüllten Charakter war die Musik der damaligen Elterngeneration. Unseren Eltern half sie mit der Binnenmigration und der Entwurzelung umzugehen. Wir brauchten neue Musik«. Neben Popmusik aus der Türkei, wie der der Sängerin Sezen Aksu, habe vor allem der türkischsprachige HipHop neue Ausdrucksformen geboten.
Rechtsterror und Perspektivlosigkeit: HipHop als Ausdruck von Wut
Gegen Ende des Films werden vor allem Rapper_innen vorgestellt, wie die Düsseldorfer HipHop- Pioniere Fresh Familee, die sich bereits Ende der 1980er formierte und die ersten Zeilen deutschsprachigen Raps produzierten, oder die Berlinerin Aziza A., die Mitte der 1990er als eine der ersten Frauen rappte, auf Deutsch und Türkisch. Im Zuge der wirtschaftlichen Rezession 1982 und der Wiedervereinigung 1990 war die politische Debatte in Deutschland geprägt von reaktionären Diskussionen, wie jenen rund um Asylmissbrauch, oder dem Leitspruch der neu erstarkten Rechten »Das Boot ist voll«. Im Film werden acht rassistische Terrorakte aufgelistet. Allein durch die Brandanschläge von Duisburg-Wanheimerort im Jahr 1984, Mölln im Jahr 1992 und Solingen im Jahr 1993 töteten Rechtsradikale insgesamt fünfzehn türkeistämmige Menschen und verletzten etliche schwer. Zu dieser Zeit lebten über 700.000 Kinder und Jugendliche der dritten Einwanderungsgeneration in Deutschland. Kaya erzählt, dass dieser Generation die Zukunft verbaut wurde. Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Drogen- und Spielsucht seien weit verbreitet gewesen. Die Wut der Enkel_innen der ersten Migranten_Migrantinnen habe sich auch musikalisch Bahn gebrochen. Der Film zeigt Rapcrews aus Deutschland mit türkeistämmigen Mitgliedern, wie King Size Terror und Islamic Force, die u.a. durch die US-Rapper Public Enemy beeinflusst wurden.11 Sie setzten der rechten Gewalt mit Titeln wie »The Whole World Is Your Home« (Islamic Force, 1993) eine internationale Attitüde entgegen oder riefen zur Gegenwehr auf.
Einen Tag nach dem Anschlag von Solingen veröff entlicht die Gruppe Karakan, die aus King Size Terror hervorging, den Track »Defol Dazlak« (»Verpiss dich, Glatze«), der als Reaktion auf den grausamen Terror Härte gegenüber Nazis propagierte. Im Film sieht und hört man AK von Karakan in einem Video von damals u.a. folgende Zeilen rappen: »Kel kafa bizi Yahudi zannetme, Biz Türk’üz ya özgürüz ya ölürüz« (»Glatzkopf, verwechsle uns nicht mit den Juden. Wir sind Türken, wir sind entweder frei oder tot«12 ). Mit dieser antisemitischen Aussage meint er wohl, dass seine migrantische Community sich gegenüber deutschen Rechtsextremen nicht in die Rolle des wehrlosen Opfers begebe. Zwar werden auch an anderen Stellen im Film rassistische Aussagen unkommentiert gezeigt, auf diese folgen aber Pausen und die Botschaften sind weniger subtil. Der gezeigte Ausschnitt bringt unserer Auffassung nach den experimentellen Stil des Films an seine Grenzen, denn unmittelbar folgt der nächste Schnitt, ertönt der nächste Track, erscheint die nächste Crew. Die antisemitische Markierung von Juden_Jüdinnen als sich unterwerfende Lämmer und der mitschwingende Vergleich des Rechtsterrors der 1990er-Jahre mit der Shoa reihen sich nahtlos in die Archivschnipsel. Später im Film wird lediglich auf den Allgemeinplatz verwiesen, Rap drücke Wut auf politisch unkorrekte Weise aus. Es ist gut, dass solches Material Eingang in den Film fand und nicht etwa aussortiert wurde, doch sollte Antisemitismus nicht einfach als eine ›harte‹ Line unter vielen dargestellt werden.
Von nationalistischen Tendenzen einzelner Musikgruppen – so kritisierte etwa Imran Ayata King Size Terrors Stilisierung der Türkei zum rettenden nationalen Gegenpol13 – erzählt der Film nicht. Politische Konflikte innerhalb der türkeistämmigen Communities werden im Film insgesamt weitgehend ausgeblendet. Kaya erklärt uns im Interview, dass einigen Bands in den 1990ern vorgeworfen wurde, der türkischen Rechten nahezustehen. Die in der Türkei und Deutschland aktiven rechtsextremen Grauen Wölfe hätten versucht, Ereignisse wie den Anschlag von Solingen und Protestmusik zu instrumentalisieren, wovon sich wiederum viele Musiker_innen aktiv distanziert hätten. Diese Themen sprengten aber den Rahmen seines Dokumentarfi lms und benötigten eigene Formate, so Kaya.
Neben der inhaltlichen Ebene der Rap-Tracks sind im Film auch die neuen Musikstile der späten 1980er und 1990er zu hören. Teils vermischten die HipHop-Produzent_innen Samples der Arabeskmusik mit Funk-, Jazz- oder auch Rocksamples zu Soundcollagen, die Bezug auf die Migrationsgeschichte nahmen. Mit dem HipHop verbreitete sich auch das Sprayen und Breakdancen. Beide Subkulturen wurden stark durch junge türkeistämmige Menschen geprägt. In den Nullerjahren wurde HipHop dann u.a. durch Künstler wie Kool Savaş zum Mainstream und konnte ein ähnlich breites deutsches Publikum begeistern wie der deutsch-türkische R'n'B-Sänger Muhabbet. Letzterer bezeichnete seine Musik als R’n’B-esk, wobei die Endung für die türkische Arabesk-Musik steht. Er erzählt im Film, dass er sich zwar von Gruppen wie Cartel inspirieren ließ, aber ihm die lange Geschichte der Musik türkeistämmiger Menschen in Deutschland nicht bewusst war.
Wer leistet die Archivierung migrantischer Kultur?
Doch woher stammte all das im Film gezeigte Archivmaterial? Kaya berichtet, er sei auf der Suche nach Material teils von kommerziellen Privatsammlerbörsen abhängig gewesen. Dabei musste er immer wieder feststellen, dass Kassetten nicht professionell verwahrt werden und in feuchten Kellern verrotten. Auch in non-kommerziellen Privatarchiven, die seiner Aussage nach teils exzellent sortiert waren, sei er fündig geworden, etwa bei der Suche nach Hochzeitsvideos. Bei diesen und anderen Privataufnahmen müsse man sich fragen, wer diese institutionell sammeln soll. Anders als wir erwartet hatten, berichtet der Regisseur, dass er und sein Team das meiste Videomaterial in den Archiven des öffentlich-rechtlichen Fernsehens fand. Hier habe man Beiträge zu türkeistämmiger Musik und migrantischem Leben gesucht. Dem WDR sei es zu verdanken, dass er beides früh dokumentiert habe. Insbesondere die 1965 ins Leben gerufene WDR-Sendung »Ihre Heimat, unsere Heimat« (auf Türkisch: »Sizin vatanınız - bizim vatanımız«), die unter den späteren Namen »Babylon« und »Cosmo TV« bis 2015 im Fernsehen lief, erwies sich als wichtige Quelle für die Filmemacher. Jugoslawische, spanische, italienische, portugiesische, griechische oder türkische Redaktionen zeigten hier Szenen migrantischen Alltags, und dabei auch Musiker_innen.
Kaya berichtet, dass die Bundeszentrale für politische Bildung Vorführungen seines Films veranstaltet und Kooperationen mit weiteren Organisationen geplant seien. Es freue ihn, »dass in den Institutionen jetzt so ein Switch stattfindet und dass sich die Leute für diese Kultur und diese Musik, die sie gerade entdeckt haben, nun eine Sensibilität haben und jetzt überhaupt die Frage aufkommt, wem gehört diese Musik und wie sollte sie archiviert werden?«. Das wichtigste Archiv für migrantisches Leben in Deutschland ist für Kaya das DOMiD in Köln-Ehrenfeld, das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland. Er und sein Filmteam hätten dort viel Neues erfahren. Aber eigentlich habe das Zentrum weder ausreichend Geld noch Platz, um ein allumfassendes Archiv für Forschung zu bilden. Kaya hofft, dass sich das bald ändert, denn momentan werde ein neuer Bau für das Museum errichtet.
Der Filmemacher glaubt, Privatpersonen könnten die Archivierung migrantischer Musik nicht leisten. Denn letztendlich hänge die Qualität eines Archivs immer von der finanziellen Ausstattung und engagierten Mitarbeiter_innen ab. Er wisse nicht, ob das DOMiD private Sammlungen, wie die von Ömer Boral, aufnehmen würde, oder ob das Bundesarchiv Exemplare der Musikkassetten archiviere. Cem Kaya betont: »Der deutsche Staat muss verstehen, dass das ein Teil der eigenen Kultur ist«. Und so gesehen, müsste er Geld dafür aufbringen, um dieses Kulturgut für die nächsten Generationen zu bewahren. Ob das wirklich passieren werde, sei off en. Aber er hofft, dass sein Film ein Katalysator hierfür ist.
Was bedeutet dieser Film für die Zuschauer_innen?
Bereits vor dem Kinostart im Herbst erreichte der Film auf Festivals und in ausgewählten Vorstellungssälen einige Zuschauer_innen. Kaya erzählt uns von viel positiver Resonanz: »Es kommen immer wieder alle drei oder vier Generationen zu mir, um sich zu bedanken und zu sagen: Endlich werden wir gesehen im Sinne von repräsentiert und dann haben wir auch noch so viel Spaß dabei, sind mal traurig, mal lachen wir. [...] Da kommt auch ganz viel Liebe zurück«.
Das einzigartige Videomaterial des Films bricht mit der grauen und tristen Bilderwelt der Gastarbeit in Deutschland und der rassistischen Erzählung eines deutschen Wirtschaftswunders, die die migrantische Arbeiter_innenschaft unerwähnt lässt. Kayas Werk erzählt nicht nur die Geschichte türkisch-migrantischer Musikstile und der sie umgebenen Alltagskultur, sondern legt auch Zeugnis über den politischen und gesellschaftlichen Kampf der Einwanderer_Einwanderinnen gegen die deutsche Dominanzgesellschaft ab. Die collagenartigen Zusammenschnitte verleihen den Bildern eine Dynamik, die den Punchlines und schnellen Rhythmen der Popmusik in nichts nachstehen. Da hierbei in 96 Minuten vier Jahrzehnte Musikund Migrationsgeschichte behandelt werden, bleibt zuweilen die Schilderung der genauen Zusammenhänge zwischen Archivaufnahmen, Songschnipseln und gesellschaftlichen Umbrüchen auf der Strecke. Dafür fesselt der Film nicht nur die Augen des beziehungsweise der Betrachtenden, sondern vermittelt durch die mitreißende Dramaturgie aus Bildern, Sounds, Lyrics und persönlichen Erinnerungen kollektive Stimmungen, von Trauer, über Freude bis Wut. Einige sehen die Erzählungen ihrer Großeltern auf der großen Leinwand verbildlicht, andere lernen die Lebenswelt der städtischen Arbeiter_innen aus der eigenen Community kennen und wiederum andere sehen zum ersten Mal Teile deutscher Geschichte, die lange mit Inbrunst ignoriert wurden.
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