Editorial: Der Gang ins Archiv
Die Rede vom Archiv schallt dieser Tage durch die Wissenschaften und Kulturlandschaft: so
omnipräsent, so unklar. Bezeichnet der Begriff des Archivs im klassischen Sinn einen konkreten Ort der Aufbewahrung mit assoziativen Verbindungen zu Zeit, Geschichte und Gedächtnis, gewinnt er zunehmend metaphorische Qualitäten und Doppeldeutigkeit. Nicht nur der Raum, in dem brüchiges Papier und Gegenstände jeglicher Couleur konserviert, gesammelt und katalogisiert werden, sondern diese Praktiken selbst bilden bereits das Archiv. Alles scheint bereits Archiv zu sein oder gerade im Begriff, ein solches zu werden.
Archivversprechen und Archiventtäuschung
Am Anfang dieses Hefts stand der Gang ins Archiv: Der pandemiebedingte Leerlauf bot den Raum, neue Projekte zu starten und zu finanzieren. Im Zuge dessen haben wir unser diskus-Archiv digitalisieren lassen, was schon lange geplant war. Die gesammelten Ausgaben der inzwischen über 70-jährigen Publikationsgeschichte des diskus als Archiv zu begreifen, konturiert dabei schon das Schillernde des Begriffs: Denn der im Studierendenhaus in der Ecke stehende schwarze Aktenschrank mutet auf den ersten Blick nicht allzu verheißungsvoll an. In ihm befinden sich acht Kisten, in denen in Hängemappen die einzelnen Ausgaben, nach Jahren geordnet, aufbewahrt werden. Doch der Schein des Archivs trügt: Hier wurde nicht penibel gesammelt und aufbewahrt. Es fehlen einige Ausgaben, teilweise sogar die Veröffentlichung kompletter Jahre. Auch die Aufbewahrungsbedingungen sind weder professionell noch gegen den Verfall des Papiers antretend. Die unterschiedlichen Papierformen sammeln sich in Klarsichthüllen, erschwert wird die Archivierung von den unbeständigen und wechselnden Formaten und Publikationszeiträumen der Studierendenzeitschrift. Redaktionen, welche sich um die Aufbewahrung ihrer Ausgaben bemühten, wird man auf dem Papier noch antreffen, andere sind nicht mehr präsent. Spricht der Überlieferungszustand der Jahrgänge auch vom Historizitätsverständnis der jeweiligen Redaktionen? Aushilfe für die Lücken schaff en andere Archive. Beispielsweise liegen im gleichen Archivschrank auch Fotokopien aus dem Universitätsarchiv der diskus-Ausgaben der 50er Jahre – diese allerdings noch ungeordneter als die sonstigen Aktenkisten. All das migriert nun auf unsere Website, die schon in den letzten Jahren oftmals die erste Anlaufstelle wurde, um alte Ausgaben aufzurufen. Im Laufe der Zeit werden hier, mehr oder weniger vollständig, alle uns noch vorliegenden Ausgaben auf der Internetseite abrufbar sein. Zusätzlich sind die Ausgaben durch eine Texterkennungssoftware durchsuchbar. Wir hoffen dadurch nicht nur das Schmökern in alten Ausgaben zu ermöglichen, sondern auch einen Splitter bundesdeutscher, linker Diskursgeschichte breiter zugänglich zu machen.
Diese Heft-Ausgabe durchziehen die vielen Fragen, die sich heute aus einer kritischen Perspektive ans Archiv stellen: Welche Möglichkeiten und Grenzen bieten Archive für Geschichtskonstruktionen? Welche Relevanz kommt diesen Gängen ins Archiv für gegenwärtige Kämpfe linker Bewegungen zu? Welche Rolle spielen »Archive von unten« gegenüber staatlichen Archiven? Die hier gesammelten Texte entwerfen darauf einige Antworten. Offenbar wurde in der Konzeption des Hefts aber auch: Das Archiv ist ein doppeldeutiger Raum. Neben konkreten Archiven und ihren Sammelpraktiken, die wir euch mit den Artikeln vorstellen wollen,
geht es vielen Forschenden, Publizist_innen und Aktivist_innen auch um eine Erweiterung des
Archivbegriffs. Indem das Archiv in den letzten Jahrzehnten zunehmend zur Metapher geworden
ist, ermöglicht diese Erweiterung auch Phänomene außerhalb von wohl geordneten Karteikästen in den Blick zu nehmen. Kunst, Musik, Literatur oder auch Zeitschriften können als Gedächtnisse ihrer Zeit befragt werden. Zugleich scheint der Begriff zunehmend porös zu werden. Denn wenn bald alles zum Archiv geworden ist, was unterscheidet ein Archiv eigentlich noch von anderen Sammlungen? Auch das Layout orientiert sich an unserem Gang ins Archiv: Versatzstücke früherer Ausgaben finden sich in Form von Werbungen, Überschriften, Bildern
und Titeln in diesem Heft wieder.
Die Zeitschrift als Archiv
Sebastian Kasper fragt in seinem Text Zeitschriften als Bewegungsarchive am Beispiel der Sponti-Publikationen nach der Bedeutung alternativer Zeitungen und Zeitschriften. Anhand eines Streifzugs durch verschiedene Exemplare und (Selbst-)Zeugnisse zeigt Kasper, welche Entwicklungen sich in der Organisation, inhaltlichen Ausrichtung wie auch Strategie der Spontis ausmachen lassen. Klar wird: Der Selbstanspruch jener Zeitschriften und Zeitungen war nicht allein die Kritik des Bestehenden, die einen Vorschein auf ein mögliches Anderes geben könnte; vielmehr begriffen sich die Publikationszusammenhänge bereits als gelebte Veränderung, die die herrschenden Verhältnisse durch neue Arbeitsweisen unterlaufen und korrumpiert haben. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist auch die kommunikative Dimension der Publikationen, in der organisationale, inhaltliche und strategische Momente zusammengebunden wurden: Die Redaktionskollektive traten für nichts weniger an, als eine Gegenöff entlichkeit zu den großen Medienhäusern und der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung zu bilden. Hierin lag einerseits das Versprechen über den üblichen Muff des Szenenklüngels hinauszukommen und andererseits eine Breiten- und Tiefenwirkung in andere politische Milieus zu erreichen. Dass Selbstbild, Außenkommunikation, Illusion und die faktische Praxis aufeinander bezogen werden müssen, führt Kasper zu der Frage nach den Grenzen der Geschichtsschreibung auf Basis der alternativen Presseerzeugnisse. Durch den Text zieht sich auch die Frage, wie sich eine linke Geschichte überhaupt archivieren lässt, welche archivierbaren Medien und Objekte von linker Theorie und Praxis übrigbleiben.
Archiv und Widerstand
Eine andere Perspektive auf das Verhältnis von Archiv und Geschichte wirft Katrin Stoll in ihrem Text Die Verheerungen bezeugen. Welche Rolle spielen Archive für Geschichtskonstruktionen? Und wie wird durch die Arbeit an (eigenen) Archiven dasselbe auch zum Ort und Dokument des Widerstands? Die Autorin setzt sich mit der Arbeit des Untergrundarchives im Warschauer Ghetto während der Zeit des Nationalsozialismus auseinander. Dieses nach dessen Gründer, Emanuel Ringelblum, benannte Archiv fasste die eigene archivierende Arbeit vor allem als widerständige Praxis auf, als Form des Erhalts dessen, was durch die Nationalsozialist_ innen vernichtet werden sollte: Jüdisches Leben und Kultur, jüdischer Widerstand und Religion, Zeugnisse der Ermordeten aber auch der Überlebenden. Dass durch diese Archivierungspraxis dem Ziel der Deutschen, der vollständigen Vernichtung der europäischen Jüdinnen_Juden, etwas entgegengesetzt werden sollte, um der Nachwelt von den Verbrechen berichten zu können und die Täter_innen juristisch zur Verantwortung zu ziehen, stellen zentralen Motive der dort Mitwirkenden dar. Das Archiv beinhaltet nicht nur Dokumente und Zeugnisse der deutschen Verbrechen, sondern auch Persönliches: private Notizbücher, Tagebücher, religiöse Aufzeichnungen oder Briefe. Die Inhalte des Archives stellen, wie Stoll mit Verweis auf Piotr Matywiescki schreibt, »vielleicht die drastischste Konkretisierung des Wissens« über die Shoah dar.
Archive von unten
In den Archivvorstellungen kommen fünf Archive zu Wort, die von ihrer Arbeit berichten. Sie erzählen auch davon, wie sich nicht-staatliche Archive, Archive von unten, gegenüber staatlichen Archiven positionieren. Archive linker Bewegungen und politischer Akteur_innen sehen sich oftmals verschiedenen Hürden und Schwierigkeiten ausgesetzt, Sichtbarkeit zu erhalten und gegenüber institutionalisierten Archiven zu bestehen. In dem vorliegenden Heft berichten wir von fünf unterschiedlichen Archivprojekten, die über die Bedeutung ihrer Arbeit, den eigenen Anspruch an die Archivführung, ihre Lieblingsobjekte und die Bedeutung des Archivierens linker Geschichte erzählen. Zu Wort kommen das Archiv der sozialen Bewegungen Hamburg, das Gorleben Archiv, Das FFBIZ - Das feministische Archiv, das Hans-Litten-Archiv und das Umbruch Bildarchiv.
Zum Archiv werden
Anhand Walter Kempowskis Echolot verfolgt Julia Fertig in ihrem Text Echolot und Echonetz den künstlerischen Zugriff auf den Komplex des Archivs: Welches Verhältnis entsteht zwischen einem kompilierenden und collagierenden Zusammenstellen verschiedener Schriftstücke? Wie lässt die Arbeit mit und an Archiven neue Perspektiven auf die Konstruktionen von Autor_innenschaft zu? Und welcher Wert liegt in den künstlerischen Archiven für die historische Forschung? Denn allzu schnell werde, so Fertigs Argumentation, das Archiv direkt mit Geschichte identifi ziert. Die dem Archiv inhärenten Logiken und Politiken, die Umstände der Überlieferung, die Sammlungspolitik aber auch die Vermittlung und Sichtbarkeit des Archivs müssten in einen komplexen Zusammenhang eingeordnet werden, um nicht vorschnell in die »Archivfalle« zu tappen. Anhand Kempowskis literarischer Verfahrensweise stellt sie die produktive Dimension archivarischer Arbeit heraus, die den Schein der Objektivität des Archivs trübt. Zugleich haften Kempowskis Archivbearbeitungen auch etwas Manisches an, der Autor scheint vom Sammeln, Bewahren, Anordnen fast wie besessen. Für Kempowski entwickelte sich die Bearbeitung von Archiven zu einer Lebensaufgabe, die ihn nicht mehr losließ. Seine Mitarbeiterin Simone Neteler zitiert Fertig mit den Worten: »Walter sagt, er könne manchmal nachts nicht schlafen, weil er all die im Archiv versammelten Stimmen gleichzeitig vor sich hinflüstern höre…«.
Archiv und Erinnerung
Dass staatliche Archive immer auch im Zusammenhang mit hegemonialer Geschichtspolitik stehen, zeichnet Veronika Warzycha in ihrer Reportage Sind auf einmal alle Helden nach. Sie gibt darin Einblicke in Gespräche mit Mitarbeiter_innen des Wrocławer Forschungszentrums »Erinnerung und Zukunft« und ihren Besuch der Ausstellung Rówieśnicy Niepodległej (»Altersgenossen der Unabhängigkeit «) im dortigen Historischen Zentrum Zajezdnia. Die Ausstellung präsentiert Material aus dem Oral-History-Projekt 100 100-latków na 100-lecie (»100 100-Jährige zum 100-Jährigen«). Anlässlich des Jubiläums des unabhängigen polnischen Staates, dessen Beginn durch das Jahr 1918 markiert wird, führte das Forschungszentrum Gespräche mit Zeitzeug_innen. Die Autorin ordnet das Projekt im Kontext der politischen Instrumentalisierung der Erinnerungskultur durch die PiS-Regierung kritisch ein. Ihre Reportage zeigt, wie dominante Diskurse und staatliche Macht die Arbeit von Oral-History-Archiven beeinfl ussen können. Zugleich wird deutlich, welche kulturellen Differenzen den polnischen vom deutschen Diskursraum unterscheiden – was u.a. entlang historisch unterschiedlich bedingter Perspektiven auf die eigene Nation, die religiöse Homogenität der Bevölkerung oder den Sowjet- Kommunismus aufscheint.
Grenzen des Archivs
Robert Zwarg spricht mit uns in Entkorkte Flaschenpost über die Kritische Theorie in Amerika und Mark Fishers Kritik der Retromanie. Zwarg untersuchte in seiner Dissertation das Nachleben der Kritischen Theorie in den USA und spricht über die Bedeutung der Zeitschriften Telos und New German Critique für die Erschließung und Diskussion der Schriften des emigrierten Instituts für Sozialforschung. Anders als die Rekonstruktion anhand zweier Druckerzeugnisse nahelegt, hebt Zwarg dabei auch die mündliche und informelle Verbreitung der Schriften hervor: Zeitschriften sind nicht nur eine Form der Objektivierung von Denken und Debatten, sondern Fixpunkte persönlicher Beziehungen, die den Blick auf lebensweltliche Aspekte des Denkens eröffnen. Fragen nach der spezifi schen Aneignung und Transformation von Theorien können somit in ein anderes Licht gerückt werden. Nicht zuletzt ist damit auch die Frage nach einer Übertragbarkeit von Theorien in andere gesellschaftliche Verhältnisse gestellt – nicht nur geographisch und räumlich, sondern auch zeitlich. Angesichts der omnipräsenten Lust am Archiv sprechen wir mit Robert Zwarg, Übersetzer der nachgelassenen Schriften Mark Fishers, über die Retromanie der neoliberalen Gesellschaft und wie dieser das Gefühl für Zeit selbst abhandengekommen ist. Die Suche nach Vergangenem, Gegenwärtigem und Ansätzen des Zukünftigen in unserer Kultur durchzieht Fishers Arbeiten, die oft aus gesellschaftstheoretischer Perspektive auf Popmusik, Filme, Literatur und Alltägliches blicken. Auf seinem langjährigen Blog k-Punk und in Schriften wie Capitalist Realism (2009) oder Ghosts of my Life (2014) stellt sich Fisher die Frage, was mit unserer Zukunft geschah und befürchtet, dass wir unsere Fähigkeit verlieren, uns ein Morgen vorzustellen, das sich radikal von unserer Gegenwart unterscheidet.
(Archiv-)Arbeit am Gedächtnis der Dominanzgesellschaft
Ceyda Çil und Louis Pienkowski beschreiben in ihrem Beitrag, wie eine filmische Archivcollage aus Musik und Bewegtbildern von der Migrationsgeschichte türkeistämmiger Menschen und deren Kampf gegen die deutsche Dominanzgesellschaft erzählt. In ihrem Text Merhabayı unuttular, grüß gott derler stellen die beiden den Dokumentarfilm Aşk, Mark ve Ölüm (»Liebe, D-Mark und Tod«) des Regisseurs Cem Kaya vor. Der Film zeichnet die Musikkultur türkischer Migrant_innen nach, die seit dem Anwerbeabkommen 1961 entstand und sich über die folgenden Generationen weiterentwickelte. Kaya und sein Team durchforsteten hierfür Archive großer Fernsehanstalten und Privatsammlungen. Das filmische Ergebnis zeigt u.a., wie gegen Rassismus und Ausbeutung demonstriert wird und wie sich Plattenlabels gründen, Gazinos und Kassettenläden eröffnen, neue Musikstile entstehen, Popstars gefeiert werden, ohne dass es die Deutschen wahrnehmen. Die Autor_innen sprachen mit Cem Kaya über seine Archivarbeit und stellen in ihrem Artikel Künstler_innen und ihre Songtexte vor. Diese werden ins Verhältnis zu kollektiven Erfahrungen der damaligen migrantischen Communities gesetzt. Die im Artikel vorgestellte Musik reicht von den melancholischen Klängen der Arabeskmusik und der »Gurbet Türküleri« der 1960er über die hedonistische oder sozialkritische Pop- und Rockmusik der 1970er und 1980er bis zu den harten Beats und Texten des HipHops der 1990er-Jahre, der Wut auf Perspektivlosigkeit und Rechtsextremismus zum Ausdruck bringt. Viel Freude beim Lesen wünscht Euch,
die diskus-Redaktion