Am 19. März 1871 wurde die rote Fahne auf dem Stadthaus von Paris gehisst. Die Pariser Kommune war erstmals in der Geschichte keine Regierung mehr, sondern die Bevölkerung selbst, die jederzeit absetzbare Räte aus ihrer Mitte ins Stadthaus abordnete. Deren Maßnahmen brachen radikal mit dem Bisherigen. Die Stadträte schafften das stehende Heer ab und ersetzten es durch das bewaffnete Volk. Sie setzten die Mietzahlungen aus, ordneten die Übernahme von verlassenen Fabriken und Werkstätten durch Arbeiter_innengenossenschaften an und führten die unentgeltliche Schulbildung ein. In der Tendenz ging die Selbstverwaltung der Kommune »dahin, dass die Arbeiterinnen über die Probleme der Produktion und der Verteilung selbst beraten und sie lösen würden.« (Holfeld 2014: 99) Der ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft, wie Karl Marx schrieb.

In dieser Richtung einer »umfassenden gesellschaftlichen Selbstverwaltung« (AKK 2015: 21), dem strategischen Ziel der Antifa Kritik & Klassenkampf (AKK), muss deren Strategiepapier weitergedacht werden. Das muss, und so versuche ich das hier anzureißen, die Ökonomie genauso betreffen wie die politische Form und die Kultur. Denn dieses Ziel der Strategie hat wesentlichen Einfluss auf die Mittel der Strategie, die die AKK ausschließlich behandelt: Klassenbewusstsein und Organisierung. Dieses Weiterdenken erfordert die Kritik an denjenigen Schichten des Strategiepapiers, die einer kommunistischen Selbstbefreiung entgegenarbeiten. 

 

1. Sich vom Spektakel der Eventpolitik, linker Selbstästhetisierung und wiederkehrendem Leninismus abwendend, hat die AKK einen definitiven und politisch notwendigen Ausgangspunkt für kommunistische Praxis heute geschaffen. Die von ihr eingeforderte Organisierung der Menschen in ihren Lebensverhältnissen ist die Bedingung für Alltagskämpfe, Erkenntnisprozesse und Solidarisierung.

Die Kämpfe dieser Basisorganisierung sollen, so die AKK, letztlich zur »Aneignung der […] Bedingungen der Reproduktion führen.«  (AKK 2015: 14) Dennoch bleibt das Papier in diesem Punkt vage, der zudem in einem Gegensatz zu einer anderen strategischen Zielsetzung steht, die als Ausgangsfrage formuliert wird: »nämlich die drängende Frage, wie sich in der gegenwärtigen Situation eine Linke handlungsfähig organisieren kann.« (ebd.: 3)

Diese Frage steht allerdings ›im Gegensatz‹ zur Entwicklung von nichtkapitalistischen Beziehungen aus der Organisierung, denn sie zielt, wie ich hier in I ausführe, auf eine rein politische Organisierung ab, deren Sinn jenseits ihrer eigenen Kämpfe in der Umsetzung eines politischen Willens innerhalb des Staates liegt. Man muss die Organisierung aber, und darum wird es in II gehen, von der Aufhebung des Kapitalismus her denken, und konkret als Ansatzpunkt für den Aufbau kapital-unabhängiger Beziehungen.

Ich denke, dass gegenüber der Eventpolitik die Frage nach der Handlungsfähigkeit in die richtige Richtung, zum Klassenkampf, führt. Um wirklich zu ihm zu kommen, muss jedoch diese erste Frage zurückgenommen und die zweite gestellt werden, von der jedoch die Handlungsfähigkeit der Linken ein wichtiges Moment ist. Dass diese Frage problematisch ist, zeigt schon der Stellenwert der ›Linken‹ für die AKK. Schließlich handelt es sich hierbei um einen Begriff, der nur innerhalb der Sitzverteilung des bürgerlichen Parlaments Sinn macht und auf die französische Nationalversammlung des 18. Jahrhunderts zurückgeht, wo das Bürgertum zur Linken, der Adel zur Rechten des Königs Platz genommen hatte. Kommunist_innen müssen, und das folgt auch Marx, zu einer anderen politischen Selbstdefinition kommen.  

Strategisch auf eine handlungsfähige Linke hinzuwirken, bezieht sich auf das Ziel, effektiv in der Konfrontation mit Staat, Kapital und Reaktion agieren zu können (vgl. ebd.: 10). Das Machtmittel dieser ›Gegenmacht‹ stellt die Streikfähigkeit der Basisorganisationen dar, die das Funktionieren des kapitalistischen Systems behindern können sollen (vgl. ebd.: 20). Damit folgt die Idee der handlungsfähigen Linken der geschlossenen Form einer bürgerlichen politischen Logik. Diese politische Logik beinhaltet einen Willen, der sich als allgemeinen Willen durchzusetzen sucht, und die Bestimmung der effektiven Mittel hierfür. Es ist dies die politische Logik des Staats selbst, und das wird solange so sein, als eine handlungsfähige Linke sich nicht durch Eigenes, sondern als ›Gegenmacht‹ gegen den Staat versteht und damit von diesem gerade abhängig ist.

Ist diese Handlungsfähigkeit als Ziel gesetzt, dann muss sich auch die Organisierung selbst nach der Zweckmäßigkeit für die Durchsetzung dieses politischen Willens bestimmen. Und entsprechend wird sich wieder das Problem einer Avantgarde-Partei nach Leninschem Muster ergeben. Das ist der Fall bei der Interventionistischen Linken (IL), die zwar anders als die AKK eine Hegemonie, letztlich eine linke Mehrheit bei Wahlen, anstrebt, mit ihr aber die Zielsetzung der ›handlungsfähigen Linken‹ teilt. Die IL ist aus einer strategischen Verabredung im Jahr 1999 hervorgegangen, bei der vereinbart wurde, „eine neue, radikale gesellschaftliche Linke, die um politische Hegemonie ringt und Gegenmacht organisiert“ (IL 2014) zu schaffen. Zwar tritt die IL nicht ›als‹Avantgarde auf. Sie betont stets, dass die Prozesse der Selbstorganisation und Bewusstseinsbildung entscheidend sind. Zugleich hat sie aber sehr klare Überlegungen dazu, ›auf welche Weise‹ ihre Aktionen und Kampagnen so anzulegen sind, dass es in ihnen zu ›bestimmten‹ Erkenntnis- und Radikalisierungsprozessen und Subjektivitäten in Orientierung auf eine linke Hegemonie kommt.

Es ist nicht falsch, eine Interventionsmacht innerhalb der bestehenden Verhältnisse aufzubauen. Aber das darf nicht als selbständiges Ziel fixiert werden. Das Ziel muss vielmehr der Aufbau von Produktionsbeziehungen von solcher Stärke und Reichweite sein, dass sie die Selbsterhaltung unabhängig vom Kapital gewährleisten können. Wenn die Menschen in dieser Selbsterhaltung unabhängig werden, haben sie auch die Basis und die Macht, wirklich handlungsfähig gegenüber Staat und Kapital zu sein.

 

2. Wenn die gegenwärtige Organisierung auf kommunistische Produktionsbeziehungen hinarbeiten und eigentlich schon eine Vorstufe dazu darstellen soll, dann müssen sich die Organisierten gemeinsam über den ›Weg zum Kommunismus‹ klar werden, insbesondere darüber, was ihre konkrete Tätigkeit damit zu tun hat. Wolfram Pfreundschuh hat in Grundlagen einer internationalen Kommunalwirtschaft einige sehr wichtige Überlegungen dafür zusammengetragen.

Nicht funktionieren wird es so, wie es 1917 die Bolschewiki gemacht haben. Revolution hieß für sie zuallererst Übernahme der Staatsmacht, woraus keine Revolutionierung der Produktionsweise entstehen konnte. Die Bolschewiki hatten zwar vorgehabt, die Gesellschaft per Regierungsbeschluss kommunistisch zu gestalten. Aber kommunistische Produktionsbeziehungen kann man nicht von oben verfügen, die Menschen können sie nur selbst aufbauen und entwickeln.

Dafür müssen sie ihre Austauschbeziehungen nach ihren besonderen Arbeitszeiten, Fähigkeiten, Umständen und Bedürfnissen bemessen und regeln. Diese politische Vermittlung ihrer Arbeitsteilung wird nicht möglich sein, solange das Geld letztere vermittelt, denn das Geld ist ein Gleichmacher, für den individuelle Bedürfnisse und Umstände gleichgültig sind. Das Geld muss also abgeschafft werden. Sie wird aber auch nicht auf einer unmittelbaren Ebene von Individuum zu Individuum stattfinden können. Vielmehr muss die politische Verhandlung über die Austauschbeziehungen – der Hinweis auf Bedürfnisse, die Bemessung und Verteilung der Arbeiten, der Vorschlag neuer Arbeiten, die Einigung über all das – allgemein organisiert werden.

Die Form dieses politischen Prozesses ist die rätedemokratische Kommune, die »politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen« kann (Marx 1871: 342), eine Kommune wie die von 1871. Deren Räte waren ausnahmslos keine Berufspolitiker_innen, sondern stammten aus den Bezirken von Paris, in denen sie gewählt worden waren, kannten also die Verhältnisse ihrer Wähler_innen, weil sie ihre eigenen waren. Gegenüber ihren Wähler_innen waren diese Räte verantwortlich, und sie waren jederzeit absetzbar.

Die Macht des Kapitals besteht, solange das Proletariat frei ist von den Mitteln, sein Leben selbst zu reproduzieren. Solange wird das Proletariat seine Arbeitskraft dem Kapital verkaufen müssen, um zu überleben. Aber das Kapital muss die Produkte dieser Arbeitskraft wieder ans Proletariat verkaufen können. Wenn die Proletarier_innen anfangen, die Mittel für ihre Selbsterhaltung unabhängig vom Kapital zu produzieren, entziehen sie der Macht des Kapitals den Boden. Wenn niemand mehr die Produkte des Kapitals kauft, wird das Kapital seinen Wert verlieren und zugrundegehen. Mit dieser kapitalunabhängigen Selbsterhaltungsproduktion kann die kommunistische Entwicklung beginnen. Sie ist, anders als der Streik, die wirkliche Gegenmacht gegen das Kapital.

Die landwirtschaftliche Produktion der allernötigsten Lebensmittel in einem kleinen Kreis von guten Freund_innen oder die alleinstehende ›Genossenschaft ohne Chef_innen‹ sind natürlich keine Selbsterhaltung. Sie kann nicht einmal unabhängig vom Kapital sein, was sie eigentlich will. Selbsterhaltung bezieht sich auf die wirklichen, gesellschaftlich entwickelten Bedürfnisse. Den Kapitalismus aufheben wird so eine andere Produktion nur, wenn »alle Menschen […] ihre durch einen schon erreichten Lebensstandard durchschnittlich notwendigen Lebensmittel (Wohnung, Grundnahrung, Kleidung, Energie, Bildung, Sicherheit usw.) […] beziehen.« (Pfreundschuh 2015)

Offensichtlich steht zwischen diesem allerersten Schritt in den Kommunismus und dem Jetzt so einiges. Wie kommen wir dahin? Dafür wird es keine fest umrissene Methode und kein klares Programm geben können. Man wird nirgends einen eindeutigen Hebel wie den Staat (Lenin) oder einen Flächenbrand von Streiks finden, um damit in einem zentralen Ereignis alles zu ändern. Vielmehr werden viele verschiedene Praxen zusammenkommen müssen. Dazu können genossenschaftliche Übernahmen von stillgelegten Betrieben, Häuser- und Betriebsbesetzungen, solidarische Tauschbeziehungen, Protestbewegungen, Rekommunalisierung von Energie und Verkehr, Demokratisierung der kommunalen Strukturen und rechtliche Erleichterung von solidarischer Wirtschaft gehören. Für all dies gibt es international und auch hierzulande schon zahlreiche Beispiele: Die Zapatistas in Mexiko, Cecosesola in Venezuela, das Kommuja-Netzwerk im Wendland, das Mietshäusersyndikat, vio.me in Griechenland, Strike Bike usw. usf. Diese Praxen werden lange nur als Vorstufe und Kampf gegen den Kapitalismus bestehen, erst nach viel Arbeit des Aufbaus werden wir zu einer nichtkapitalistischen Produktion kommen.

 

3. Wer nur gegen Auswüchse des Kapitalismus protestiert, ohne ein Bewusstsein der systemischen Zwänge zu haben, der wird vielleicht ein paar halbe Verbesserungen erreichen, in seinem Kampf aber letztlich scheitern. Es ist genau, wie die AKK sagt: »Widerstand kann nur mit Klassenbewusstsein geleistet werden.«

Das formuliert sie aber in einer ziemlich problematischen existentialistischen Subjekttheorie. Sie versteht Klassenbewusstsein als die »Konstituierung potenzieller Träger_innen sozialrevolutionärer Veränderung« (AKK 2015: 7), damit als Konstituierung einer im Voraus bestimmten Subjektivität. Diese Subjektivität ist notwendige Bedingung für einen Zweck, der von der AKK vorausgesetzt wird: die ›sozialrevolutionäre Veränderung‹. Am Widerspruch des Kapitals gegen die Bedürfnisse der Proletarier_innen soll sich ein qualitativ neues Bewusstsein entzünden, das sich seiner Situation innerhalb der kapitalistischen Totalität bewusst ist, sich als ›anti-fetischistisches‹ nicht mehr täuschen lässt und sich stets solidarisch mit anderen verhält. Es ist dichotomisch der ›realen Bewusstseinslage‹ entgegengestellt und ermöglicht das ›Selbsttätigwerden in der Geschichte‹, also eine nur von sich selbst ausgehende geschichtliche Tätigkeit.

Was ist da der Unterschied zu der existentialistischen Erzählung, wonach die Menschen alle im Betrieb befangen sind und unselbständig vor sich hin vegetieren, bis sie von einem Stachel aufgereizt werden, endlich aufwachen und sich selbst ergreifen, von der Wortwahl abgesehen? Ein solcher Existentialismus ist mit der Vorstellung einer reinen Subjektivität verbunden, die unabhängig von ihren materiellen Verhältnissen eine qualitative Änderung zu einem autonomen Selbst, einem wesentlichen Ideal der bürgerlichen Ideologie, erfahren soll. So wird den Individuen aber vorgeschrieben, was für eine Subjektivität sie haben sollen.

Verbunden mit diesem Existentialismus ist die individualistische Gesellschaftskritik im Strategiepapier. Kriterium der Kritik ist stets der Widerspruch des Kapitals gegen das Bedürfnis des Individuums (vgl. ebd.: 10; 12), also der Marcusianismus der Unterdrückung des guten Individuellen durch das böse Abstrakt-Allgemeine. Der Riss dieser Gesellschaft geht aber mitten durch uns selbst. Genauso könnte man sagen, dass im Kapitalismus das Allgemeine den Interessen von Individuen unterworfen ist.

Man müsste die Frage des Bewusstseins nicht objektiv von der vorbestimmten Form des Totalitätsbezugs durch Widerspruchserfahrung angehen, sondern im eigentlichen Sinne subjektiv von konkreten Erfahrungsprozessen her, ausgehend von Enttäuschung, Zweifel, Erkenntnisohnmacht und den Wahrnehmungen, Grübeleien und Diskussionen, die zum Verstehen führen. Kritisches Bewusstsein geht, und hier hat das Papier recht, vor allem aus lokalen Alltagskämpfen hervor, und die strategische Frage der Organisierung muss sich wesentlich um dieses Kleinteilige bemühen. Klassenbewusstsein kann dann aber nicht objektiv, als begrifflich zu bestimmende Form gefasst werden. Es ist eine bestimmte Weise, bereits bestehende Kämpfe zu führen, und ist subjektiv, auf ›uns‹ Akteur_innen bezogen. Klassenbewusstsein ist dann ein bestimmtes Bewusstsein, in dem ›wir‹ diese Kämpfe führen, und das vielleicht gar nicht so leicht zu erreichen und aufrechtzuerhalten ist. Sein fester Boden liegt nicht in einem ›anti-fetischistischem‹ Selbstsein, sondern in einer Kultur des Widerstands. 

 

4. In einer Kultur des Widerstands, also einer Lebensweise des Widerstands, ist Solidarität zur Praxis des Alltags geworden: Sie steht dort in der Gewissheit, dass der andere ebenso für mich einstehen wird, wie ich für ihn.

»Als Sturmabteilungen der Nationalsozialisten in einem Bierlokal in der Schwartzkopfstraße ein Standquartier eingerichtet hatten, um von hier aus das Einfahrtsgebiet zum Wedding zu überwachen, schlossen sich die Bewohner des Viertels spontan zusammen, vertraten ihre übereinstimmenden Interessen und machten die Forderung auf Schließung des Versammlungshauses zu einer politischen Frage. […] Da standen sie, die Träger der Handlung, in der Schwartzkopfstraße, der Pflugstraße. Sie waren aus den Fabriken, den Werkstätten gekommen. […] Meine Mutter […] stand in der Menge der Arbeiter und Arbeiterinnen, schwieg noch, wie die andern. Wir hatten geglaubt, sagte sie, daß die Faschisten sich durch unser Warten, unsre Ausdauer verdrängen ließen. Wir waren die Mehrheit hier. Es war unser Stadtteil.« (Weiss 2005: 162f)

Zwar wurden diese Arbeiter_innen von der Polizei brutal auseinandergetrieben. In dieser Passage aus der Ästhetik des Widerstands wird aber kenntlich, was Organisierung sozial und kulturell heißen kann: Nicht Einzelne gehen auf die Straße, sondern der Stadtteil geht auf die Straße und steht für die übereinstimmenden Interessen ein. Organisierung, so verstanden, ist eine manifeste Verbindung der Menschen in ihrem Leben. Diese Verbindung ist wiederum nicht die zum spektakulären Bild gewordene homogene Arbeiter_innenkultur, sondern entsteht damals wie heute nur aus einem Zusammenhang von vielfältigen gemeinsamen Praktiken. Zu diesen sind zu zählen: die gegenseitige Unterstützung im Alltag der Reproduktion – Kinderversorgung, Mitteilung von Kenntnissen, Zurverfügungstellen von Fähigkeiten –, die geteilte Gestaltung von freier Zeit – Straßenfeste, widerständiges Liedgut (die Internationale, Bella Ciao, Macht kaputt was euch kaputt macht, Deutschland muss sterben, damit wir leben können), der gemeinsame, be-geisternde Alkohol- und Drogenkonsum –, oder auch die Gestaltung des Viertels, der Kleidung und des Körpers, schließlich gemeinsame Widerstandserfahrungen und ein geteiltes und kommuniziertes Bewusstsein derselben Proletarität.

Nicht für ein Klassenbewusstsein, das als Selbständiges fixiert wurde, müssen wir strategisch agieren, sondern für den Aufbau dieser Widerstandskultur.

 

5. Die »Bedürfnis- und Bewusstseinsstrukturen [der lohnabhängigen Klasse] sowie ihr Alltagsleben müssen […] untrennbarer Teil einer sozialrevolutionären Strategie und Praxis sein.« (AKK 2015: 12)

Das ist entscheidend, muss aber viel dezidierter, als es das Papier tut, ausgeführt werden. Das Alltagsleben als solches muss in seinen Lebensverhältnissen und seinem Eigensinn zu einem wesentlichen Bestandteil der Strategie werden. Es darf nicht zu einem Nebenschauplatz gegenüber der generalstreikfähigen politischen Organisierung im Horizont einer ›handlungsfähigen Linken‹ werden. Das ist die Tendenz des Papiers. Praktisch bedeutet dies, dass die Lebensverhältnisse des Privaten und der Kultur – der Wohnformen, der Familienformen, des Privateigentums am Kind, der privaten Konsumgestaltung ebenso wie der Psychotherapie, der Medien, des Theaters usw. usf. – aufgelöst und umgestaltet werden müssen.

Jüngere Initiativen in dieser Richtung hier in Frankfurt a. M. waren die Besetzung des ehemaligen Sozialrathauses durch communal west im Jahr 2013, mit dem Ziel, ein selbstorganisiertes Stadtteilzentrum zu gründen, sowie die Projektgruppe Philosophicum, die, laut einem Flugblatt, in einem ehemaligen Universitätsgebäude »Wohnen, Arbeiten, Kultur und Erholung so […] verknüpfen [wollte], dass diese Bereiche sich gegenseitig unterstützen und zu einem vielseitigen Alltagsleben führen.«

Einschlägig sind jedoch die vielfältigen Projekte vom Ende der 60er bis in die 80er hinein, die Kommunen, Kinderläden, antipsychiatrischen  Einrichtungen und Medienprojekte. Stichwortgeber dieser kulturrevolutionären Bewegung war Wilhelm Reich.

 

6. Reich hatte zuerst in seiner Massenpsychologie des Faschismus von 1933 deutlich gemacht, dass die bürgerlichen Formen des Alltagslebens, insbesondere die patriarchale Kleinfamilie, eine moralische Schicht in den Menschen hervorbrachte, die einer emanzipatorischen Praxis entgegengesetzt war:

»Die revolutionäre Bewegung hatte auch die Bedeutung der dem Anscheine nach nebensächlichen kleinen Gewohnheiten des Alltags nicht richtig eingeschätzt, ja sehr oft sie in falscher Weise ausgenützt. Das kleinbürgerliche Schlafzimmer, das sich der ‚Prolet‘ anschafft, sobald er Möglichkeiten dazu hat, auch wenn er sonst revolutionär gesinnt ist, die dazugehörige Unterdrückung der Frau, auch wenn er Kommunist ist, die ‚anständige‘ Kleidung am Sonntag, steife Tanzformen und tausend andere ‚Kleinigkeiten‘ haben bei chronischer Wirkung unvergleichlich mehr reaktionären Einfluß, als Tausende von revolutionären Versammlungsreden und Flugzetteln gutmachen können.« (Reich 1933: 90)

In der erdrückenden kulturellen Atmosphäre der Kleinfamilie bilden sich nach Reich starke moralische Werte wie Anerkennung, Persönlichkeit, Pflichtbewusstsein, Anstand, Familientreue. Es ist eine gesellschaftlich produzierte moralische Schicht, die »den wirtschaftlich unterdrückten Menschen strukturell derart [verändert], daß er gegen sein materielles Interesse handelt, fühlt und denkt.« (ebd.: 57) An solche tiefen Schichten der Persönlichkeit wie den Wert des Anerkanntseins oder die Liebe zur Mutter kommt man »mit Argumenten des Verstandes nicht heran« (ebd.: 78).

Grundlage hierfür ist, so Reich, die innige Verflochtenheit von Familienbindung und ökonomischer Existenzbedingung. Die Familie ist einerseits die Einheit, die der ökonomischen Vereinzelung in der bürgerlichen Gesellschaft unterworfen ist. Sie ist auf sich allein gestellt und von anderen Familien isoliert. Dies hat Folgen für die innerfamiliären Beziehungen, zentral die patriarchale Stellung des Vaters. Andererseits nehmen diese Beziehungen die Gestalt der Liebe, einer sehr speziellen Liebe, an. Es ist nicht unmittelbar die materielle Abhängigkeit vom Vater, die es undenkbar macht, gegen seine Autorität zu verstoßen, sondern die Liebe zu ihm. Weil man sich nur im Schoße der Familie – nirgends sonst – wirklich aufgehoben wissen kann, darf man nie vergessen, wem man seinen Dank schuldig ist. »Die ökonomischen Zwänge erfordern eine strenge familiäre Bindung aller Familienmitglieder aneinander« (ebd.: 72). Diese Welt ist so sehr eingeengt von Liebespflichten und Liebesdrohungen, dass eine ständige Selbstbeherrschung nötig ist. Daraus entwickelt sich die ›Haltung‹ der bürgerlichen Persönlichkeit, also die erwähnten Vorstellungen von Anstand, Pflicht, Anerkennung.

Während Reich die Bedeutung der Sexualität mystifizierte und die Lösung, vor allem in Die Sexualität im Klassenkampf (1936), in befreitem Sex sah, überdies nur in heterosexuellem, zog in den 1960er Jahren der antiautoritäre Flügel des SDS den Schluss, dass für die Revolutionierung des bürgerlichen Individuums »kollektive Lebens- und Arbeitsformen entwickelt werden [müssen], in denen die Individuen sich neu produzieren können.« (Bookhagen et al. 1969: 32) Gemeint waren damit die »Erfahrungen der Kommunen, der Kinder- und Schülerläden und der Aktionsräte zur Befreiung der Frauen« (ebd.: 33).

Gibt man Reich Kredit, dann folgt in der Tat, dass die ökonomische Isolation der Individuen, unter deren Zwängen sich alle Beziehungsbedürfnisse abspielen müssen, im Alltagsleben aufgehoben werden muss. Erst wenn das Alltagsleben gemeinsam reproduziert wird und das Individuum ökonomisch nicht immer nur wieder auf sich allein zurückgeworfen ist, werden sich die Ängste, moralischen Bedürfnisse und Selbstverwirklichungsphantasien auflösen.

Ein solcher Versuch war die Kommune 2 in Westberlin, in die 1967 sieben Erwachsene und zwei Kinder eingezogen waren. Die Kommune 2 stellte die ökonomische Reproduktion der Gruppe durch Ausgleich der verschieden hohen Einkünfte und gemeinsame Arbeit auf eine kollektive Basis, plante den Konsum, unter Achtung der individuellen Bedürfnisse, gemeinsam (Kleidung, Auto, Zigaretten), führte den Haushalt gemeinsam (Kochen, Einkaufen, Kassenbuch) und kümmerte sich auch gemeinsam um die beiden Kinder (vgl. ebd.: 52; 64-66). Und so ähnlich haben es ja auch viele andere Kommunen und Hausbesetzungen versucht.

Die Emanzipation des Privatlebens stünde auch heute an. Zwar ist die autoritäre Familie, wie Reich sie beschreibt, einer Pädagogik des Kindeswohls in Patchwork-Familien gewichen. Diese neue familiäre Liebe ist aber nur eine neue Form der Entfremdung, und eher noch verschärft hat sich die Vereinzelung der Individuen, auf deren Boden sie ihr Alltags-, Beziehungs- und Gefühlsleben meistern müssen. Weder neue Mütter und Väter, die ›alles besser machen‹, noch eine postmoderne Änderung des Selbstverhältnisses können sich über die kapitalistische Lebensproduktion hinwegsetzen.

Es muss um die Kollektivierung der Reproduktionsformen des Privaten und die Aufhebung der ökonomischen Abhängigkeit und Vereinzelung gehen. Für eine revolutionäre Strategie ist es unabdingbar, der Reproduktion des bürgerlichen Individuums seine Voraussetzung zu entziehen. Erst wenn die Individuen nicht mehr von Anerkennung abhängig sind, wird der Entstehung des Rassismus der Boden entzogen. Erst, wenn Chef, bürgerliches Recht und Obrigkeit ihre moralische Aura verloren haben, ist die Basis für wirkliche Solidarität, gemeinsamen Kampf, Organisierung entlang geteilter Interessen gegeben.

In der Aufsprengung des bürgerlichen Alltagslebens geht es aber nicht nur darum, der Revolution nützlich zu sein. Das bürgerliche Alltagsleben reproduziert eine eigene Form abstrakter Herrschaft in der Kultur, nicht zuletzt die Logik der binären Geschlechtlichkeit. Die Kulturrevolution muss daher untrennbarer Bestandteil der emanzipatorischen Praxis sein.

 

7. 1871. Die Atmosphäre in Paris war hochpolitisiert. Allerorts schossen Komitees aus dem Boden und diskutierten die öffentlichen Angelegenheiten. Sie bildeten die wirkliche Selbstverwaltung von Paris. Zu ihr gehörte die Selbstorganisation und Selbstbewaffnung von Frauen. In Paris entstand damals die erste feministische Massenorganisation der Geschichte. Ausgelassenes Feiern war an der Tages- bzw. Nachtordnung, und die künstlerische Produktivität blühte in allen Schichten und Tendenzen auf. Es war selbstverständlich, dass das Alltagsleben nicht mehr von der Politik auszunehmen war, und die politische Betätigung unmittelbar im Alltagsleben stattfand: »Die Pariser Kommune ist das größte Fest des XIX. Jahrhunderts gewesen.« (Debord et al. 1962)

Bevor die Pariser Kommune am 28. Mai 1871 in einem beispiellosen Gemetzel von konterrevolutionären Truppen niedergeschossen wurde, war in ihr ein fast unglaubliches Gemeinschaftsleben, ein Kommunismus im Wortsinn, entstanden.

 

Emanuel Kapfinger

 

*.lit:

Bookhagen, Christl/Hemmer, Eike/Raspe, Jan/Schultz, Eberhard/Stergar, Marion (1969): Kommune 2. Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Berlin.

Debord, Guy (1967): Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996.

Debord, Guy/Kotanyi, Attila/Vaneigem, Raou (1962): Über die Pariser Kommune, 18.03.1962. Online verfügbar unter http://spektakel.blogsport.de/2014/03/18/ueber-die-pariser-kommune/.

Holfeld, Lukas (2014): Das Spiel mit den Waffen. Zur Geschichte der Pariser Commune von 1871. In: Kunst, Spektakel und Revolution (4), S. 83-107.

Interventionistische Linke (2014): IL im Aufbruch - ein Zwischenstandspapier. Online verfügbar unter http://interventionistische-linke.org/print/book/export/html/153.

Marx, Karl (1871): Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation. In: Karl Marx und Friedrich Engels: Marx-Engels-Werke, Bd. 17. Berlin, S. 313-365.

Pfreundschuh, Wolfram (2015): Grundlagen einer Internationalen Kommunalwirtschaft. Online verfügbar unter http://kulturkritik.net/was_tun/internationalwirtschaft/text_internationalwirtschaft.html, zuletzt geprüft am 09.02.2016.

Reich, Wilhelm (1933): Die Massenpsychologie des Faschismus. Köln 1972.

Reich, Wilhelm (1936): Die sexuelle Revolution. Zur charakterlichen Selbststeuerung des Menschen. Zuvor: Die Sexualität im Kulturkampf. Frankfurt a. M. 1966.

Weiss, Peter (2005): Die Ästhetik des Widerstands. Frankfurt a. M.