Ein Denkmal als Symbol.

Die Geschichte des Berliner Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma

»Wir sind uns der herausragenden Bedeutung der Gedenkorte für die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes nahe dem Reichstag und dem Brandenburger Tor bewusst« (DB 2020b), erklärte der Konzernbevollmächtigte der Deutschen Bahn (DB), Alexander Kaczmarek, nachdem die Baupläne der DB in die Kritik geraten waren. Sechs Monate zuvor war von diesem Bewusstsein noch wenig zu spüren: Die DB verkündete im Januar 2020, dass sie endlich eine Route für die neue S-Bahnlinie 21 gefunden habe und damit ein Projekt abschließen könne, das sie gemeinsam mit dem Land Berlin seit dem Jahr 1993 vorbereite (vgl. DB 2020a), eine zweite Nord-Süd-Strecke der Berliner S-Bahn. Bisher war der genaue Routenverlauf unklar geblieben – der Deutsche Bundestag sah seine Sicherheit durch geplante Tunnelarbeiten am Reichstagsgebäude gefährdet. Die Erfolgsmeldung war daher mit einiger Erleichterung bei den Verantwortlichen verbunden. Dass es problematisch sein könnte, dass das erst 2012 eingeweihte Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma von den Bauarbeiten beeinträchtigt werde, war kein Thema. So kam es, dass auch die Vertreter_innen des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma von den Bauplänen nur aus der Presse erfuhren. Keiner der Beteiligten hatte sich im Planungsprozess mit Vertreter_innen von Menschen mit Romani Hintergrund in Verbindung gesetzt.

Erst bei einem klärenden Gespräch im März 2020, das auf Initiative des Zentralrats stattfand, erhielten sie Einblick in die konkreten Pläne. Die Forderung zivilgesellschaftlicher Akteure an das Land Berlin das Denkmal, ähnlich wie das Denkmal für die ermordeten Juden in Berlin, als zentralen »Zwangspunkt«, der durch Baumaßnahmen nicht beeinträchtigt werden darf, zu schützen, fand kein Gehör. In einer nachfolgenden Pressemitteilung versuchte die Deutsche Bahn das Desaster einzufangen. Das Denkmal solle nicht mehr als Ganzes gefährdet sein, sondern die Anlage nur temporär entfernt oder in Teilen gesperrt werden. Unter der irreführenden Überschrift »Gedenkstätte für ermordete Sinti und Roma wird durch neuen S Bahn-Tunnel nicht angetastet« versprach Kaczmarek, dass »[während] der Bauarbeiten für die neue City-S‑Bahn […] immer ein Zugang zum Denkmal möglich sein wird« und betonte, dass die »Planungen noch in einem sehr frühen Stadium« (DB 2020b) seien.

 

Das Denkmal als Ort der Trauer und der Begegnung

Was die Gemüter beruhigen sollte, war ein Ausdruck umfassender Unkenntnis über das Denkmal selbst, als auch seiner Bedeutung. Im Jahr 2012 in Anwesenheit von Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeweiht, ist das Denkmal das wichtigste sichtbare Zeichen dafür, dass auch das Leiden und die Verfolgung von Menschen mit Romani Hintergrund in Deutschland anerkannt werden. Die Doppelbedeutung des Ortes als Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft als auch als Ort der Trauer für die Angehörigen der Minderheit spiegelt sich auch in der Architektur wieder: Das Denkmal befindet sich am Rand des Stadtparks Tiergarten in Berlin, zwischen dem Reichstagsgebäude und dem Brandenburger Tor. Der verantwortliche israelische Künstler Dani Karavan hat im Zentrum der Anlage ein kreisrundes Wasserbecken mit schwarzem Grund platziert. In der Beckenmitte befindet sich eine dreieckige steinerne Stele, die von oben an die Winkel auf der Kleidung von KZ-Häftlingen erinnert. Obenauf liegt eine frische Blume – immer wenn sie verwelkt, sinkt die Stele in einen Raum unter dem Becken, wo eine frische Blume auf den Stein gelegt wird. Auf dem Rand des Brunnens ist auf Englisch, Deutsch und Romanes das Gedicht »Auschwitz« von Santino Spinelli eingraviert.

»Eingefallenes Gesicht/ erloschene Augen/ kalte Lippen/ Stille/ ein zerrissenes Herz/ ohne Atem/ ohne Worte/ keine Tränen«

Rund um das Wasser liegen flache Steine, die die Namen der Orte tragen, wo die Menschen, derer hier gedacht wird, ermordet wurden. Entgegen der Fremdzuschreibung als imaginierte homogene Gruppe sind die kulturellen Hintergründe der Ermordeten sehr unterschiedlich, sie gehörten u.a. der Gruppe der Sinti, Roma, Lalleri oder Manusch an, ebenso wurden Jenische und andere Fahrende verfolgt und ermordet. Gläserne Informationstafeln in der Umgebung des Beckens informieren über die Verfolgung und den Massenmord an Menschen mit Romani Hintergrund. Sie werden von zahlreichen Workshops und Schulklassen genutzt, die das Denkmal als Lernort besuchen.

Aus den Bäumen um das Denkmal ertönt Musik, die der Musiker und Europa-Abgeordnete der Grünen Romeo Franz mit dem Geigenbogen seines Onkels Paul eingespielt hat. Er wurde vor den Toren von Auschwitz erschossen. Insgesamt sechs Familienangehörige von Franz wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Die persönlichen Bezüge auf die Verfolgungsgeschichte in der Gestaltung tragen dazu bei, dass das Denkmal auch zu einem privaten Gedenkort geworden ist, wo Menschen einen Raum finden, um ihre Verstorbenen, die sie nie begraben konnten, zu verabschieden. Das komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Elemente und Ebenen des Denkmals sieht die Initiative Das Denkmal bleibt unangetastet durch die Baupläne gefährdet. Die dort vertretenen Organisationen und Initiativen vertreten ihre Kritik an den Bauplänen vehementer als der Zentralrat: Das Denkmal verliere während der Baumaßnahmen seine Funktion, kritisieren sie. Auch die Klanginstallation sei genau an das Areal angepasst und könne weder versetzt, noch umgebaut werden. Das Bündnis setzt sich für einen »maximalen Schutz« des Denkmals ein (vgl. Landesverband Sinti & Roma Baden-Württemberg 2020).

Romeo Franz zeigt sich im Gespräch mit der diskus über das Vorgehen der Beteiligten sehr enttäuscht: Das Land Berlin verweise die Verantwortlichkeit an die Deutsche Bahn und verweigere echte Unterstützung beim Schutz des Denkmals. Es entstehe der Eindruck, dass die relevanten Akteure im Senat und Bundestag auf Zeit spielen und sich auf verklausulierte Formulierungen zurückziehen. Auch von der Deutschen Bahn als Nachfolgerin der Deutschen Reichsbahn, die Hunderttausende Menschen mit Romani Hintergrund in den Tod transportierte und daran verdiente, hätte er sich mehr Geschichtsbewusstsein und Verantwortung gewünscht:

»Gerade dieses Vorgehen spiegelt das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zur Minderheit der Menschen mit Romani Hintergrund wider. Stellen Sie sich vor, das Denkmal für die ermordeten Juden sollte temporär abgebaut werden, das wäre gesellschaftlich nicht vermittelbar. Der gesellschaftliche Antiziganismus ist weiterhin tabuisiert und wird ignoriert. Es gibt ein weit verbreitetes Nicht-Bewusstsein zu dem Thema.«

 

Das Denkmal als Symbol für die Missstände in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft

Wer verstehen will, welche Bedeutung das Denkmal für die Beteiligten hat, muss seine Vorgeschichte kennen: In Deutschland gab es in der Nachkriegsgesellschaft kaum Auseinandersetzung mit der Diskriminierung und Verfolgung von Menschen mit Romani Hintergrund. Sie hatten nach 1945 nicht den Status einer allgemein anerkannten Opfergruppe. Beispielhaft ist ein viel zitiertes Urteil des Bundesgerichtshof (BGH) aus dem Jahr 1956: In einem Grundsatzurteil in Bezug auf Entschädigungsansprüche von als »Zigeuner« Verfolgten entschied der BGH, dass die Maßnahmen »gegen die Zigeuner« im Nationalsozialismus nicht aus »rassischen Gründen« erfolgt seien. Der BGH urteilte, dass »Zigeuner« von den Nationalsozialisten zurecht als »artfremd« und »Landplage« verfolgt wurden:  

»Sie [die Zigeuner] neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremden Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen, ein ungehemmter Okkupationstrieb zu eigen ist.« (BGH IV ZR 211/55 S. 8 & 9 in RZW 56; 113, Nr. 27)

Ausgeblendet wurde in diesem Urteil die Realität der Menschen mit Romani Hintergrund im Nationalsozialismus, die in Deutschland bereits ab dem Jahr 1935, ab Inkrafttreten der Nürnberger Rassegesetze, verstärkt entrechtet und ausgegrenzt wurden (vgl. Fings 2019: 7f.). Stattdessen blieb das Gericht im Rahmen der rassistischen Begründungslogik des im Jahr 1938 von Heinrich Himmler veröffentlichten »Runderlass zur Regelung der Zigeunerfrage«, der »aus dem Wesen dieser Rasse heraus« eine »endgültige Lösung der Zigeunerfrage« begründete (vgl. Stengel 2019: 20). Der Erlass forderte alle Behörden des Reiches auf, die dort lebenden Menschen, die sie als »Zigeuner« identifizieren konnten, zu erfassen, um ihre Ermordung vorzubereiten (Fings 2019: 9). An vielen Menschen mit Romani Hintergrund wurden in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern medizinische Versuche durchgeführt – bekannt ist das Beispiel des Arztes Dr. Josef Mengele, der im Konzentrationslager Auschwitz grausame Versuche an Menschen, und insbesondere Kindern, mit Romani Hintergrund durchführte, viele Menschen wurden zwangssterilisiert (vgl. Rose 2015b: 27; Fings 2019: 13). Doch nicht nur in Deutschland, auch in den besetzten osteuropäischen Ländern und durch die Bündnispartner der Nationalsozialisten waren Menschen mit Romani Hintergrund grausamer Verfolgung ausgesetzt (Rose 2015b: 28). Mit seinem sogenannten »Auschwitz-Erlass« ordnete Himmler im Jahr 1942 die Deportation aller Menschen mit Romani Hintergrund nach Auschwitz an. Damit begann die systematische Ermordung der erfassten Personen (vgl. Rose 2015b: 26; Fings 2019: 12). Insgesamt wurden mehr als 500.000 Menschen mit Romani Hintergrund ermordet. Aus dem BGH-Urteil folgte eine Verweigerung des Anspruchs auf finanzielle »Wiedergutmachung«. Als das Urteil im Jahr 1963 revidiert wurde, waren die meisten Entschädigungsverfahren bereits abgeschlossen. Im Jahr 2015 wurde das Urteil von der damaligen BGH-Präsidentin Bettina Limperg öffentlich als »unvertretbar« eingeordnet (vgl. Rose 2015a: 17; Stengel 2019: 21).

Ein ähnliches Narrativ findet sich in weiteren Gerichtsverfahren zu Verbrechen gegen Menschen mit Romani Hintergrund: Oskar Rose, ein wichtiger Initiator für die Gründung des Verbands deutscher Sinti, hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, eine strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen anzustoßen. Bereits im Juli 1948 erstattete er Strafanzeige gegen Dr. Robert Ritter, den vormaligen Leiter der »Rassenhygienischen Forschungsstelle«. Ritter war eine zentrale Figur der Vorbereitung der Verfolgung und Ermordung von Menschen mit Romani Hintergrund, da er mit seiner »Definition« zur Bestimmung der »Zigeunerrasse« die Grundlage für ihre massenhafte Erfassung und Verfolgung lieferte (Rose 2015a: 15; Fings 2019: 11-12). Das Verfahren gegen ihn wurde »mangels Beweise« im August 1950 eingestellt (vgl. Heuß 2015: 35). Zur Begründung hieß es u.a.:

»Der Umstand, dass der Beschuldigte bei seinen Darlegungen, die er auch heute noch als seine wissenschaftliche Überzeugung vorträgt, nach Maßgabe von zu erlassenden Gesetzen verbrechensverhütende Maßnahmen gegenüber Asozialen und asozialen Mischlingen vorschlägt, kann in dieser Form weder als eine Identifizierung mit nazistischer Rassenideologie gewertet werden, noch als eine Proklamierung von Gewaltmaßnahmen.« (zit. n. Heuß 2015: 36)

Auch die Leiter des »Zigeunerreferats« im Reichssicherheitshauptamt, u.a. Josef Eichberger, Hans Maly, Wilhelm Supp und Leo Karsten, zeigte Rose erfolglos an (Rose 2015a: 15). Ritter arbeitete nach 1945 unbehelligt im Frankfurter Gesundheitsamt, heute erinnert eine vom Frankfurter Förderverein Roma am Gebäude angebrachte Tafel an seine Verbrechen. Die mangelnde Strafverfolgung ist auch darauf zurückzuführen, dass deutsche Gerichte Menschen mit Romani Hintergrund zumeist nicht als glaubwürdige Zeug_innen einschätzten. Im Fall Ritters erklärte die Staatsanwaltschaft:

»Zahlreiche Wissenschaftler haben lange vor 1933 die Anschauung vertreten, dass Zigeuneraussagen grundsätzlich für die richterliche Überzeugungsbildung ausscheiden müssen.« (zit. n. Heuß 2015: 38)

Die Verbrechen wurden in der Justiz, aber auch der Nachkriegsgesellschaft im Allgemeinen, geleugnet oder – mit dem Verweis, dass »die Zigeuner« ihre Vernichtung und Verfolgung selbst verschuldet hätten, da sie »asozial« seien – teilweise auch gerechtfertigt. Elemente der nationalsozialistischen Rassenlehre blieben hier ungebrochen erhalten und wurden in dem neuen gesellschaftlichen Kontext aktualisiert (vgl. Stengel 2019: 20).

Erst in den 1970er Jahren fand die Bürgerrechtsbewegung der Sinti langsam Zugang zur bundesdeutschen Öffentlichkeit. Auch im restlichen Europa bildeten sich in dieser Zeit verstärkt Strukturen der Selbstorganisierung. Insbesondere auf europäischer Ebene setzten sich die verschiedenen, neu entstandenen Organisationen für eine Einigung der Menschen mit Romani Hintergrund aufgrund der gemeinsamen Diskriminierungserfahrung ein (vgl. Liégeois 1994: 209). Am 27. Oktober 1979 sprach die damalige Präsidentin des europäischen Parlaments, Simone Veil, auf einer Gedenkkundgebung für die ermordeten Sinti und Roma im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen. In diesem Rahmen wurde eine Gedenktafel enthüllt. Romani Rose, Neffe von Oskar Rose und heute Vorsitzender des Zentralrats, betonte in dem Vorwort an die Sinti in der Dokumentation des Gedenkakts:

»Auch nach 35 Jahren hat Auschwitz für uns noch kein Ende gefunden, mit einer Einschränkung: wir Sinti werden heute nicht mehr vergast oder erschossen, aber wir werden weiter erniedrigt, gedemütigt und diskriminiert. […] Kaum einer von uns Sinti kann sagen, daß er im Dritten Reich keine Verwandten verloren hat.« (Rose 1980: 15)

An der Veranstaltung nahmen auch Vertreter_innen von Roma-Organisationen aus anderen europäischen Ländern teil. Die Rede Wir wollen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen! des damaligen Präsidenten der Internationalen Romani Union, Dr. Ján Cibuľa, zeigt, dass auch Menschen mit Romani Hintergrund aus Zentral- und Osteuropa bei der Gedenkveranstaltung mitgedacht wurden:

»Wenn wir uns hier zu Ehren der Märtyrer versammelt haben, welche in den Konzentrationslagern vernichtet wurden, kann man nicht nur an deutsche Sinti denken, sondern an alle Roma, welche im 2. Weltkrieg umkamen, d.h. in Osteuropa, im Balkan und in allen von Deutschen besetzten Gebieten.« (Cibuľa 1980: 35)

Dass der Ermordeten das erste Mal in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte mit einer offiziellen Gedenkveranstaltung, unter Anwesenheit hoher staatlicher Repräsentant_innen, erinnert wurde, sah Rose als Ergebnis harter Kämpfe der Vertreter_innen der Minderheit, die jede Anerkennung und Teilhabemöglichkeit der Mehrheitsgesellschaft mühsam abringen müsse:

»Erst durch unseren intensiven Kampf wurde die Gedenkfeier im ehemaligen KZ Bergen-Belsen zu einem hoffnungsvollen Beginn für unseren künftigen Weg, weil dort zum ersten Mal nach 34 Jahren von der Präsidentin des Europaparlaments, von Vertretern der Bundesregierung, aus Kirchen, Verbänden und dem öffentlichen Leben der NS-Holocaust an unserem Volk offiziell anerkannt und als Unrecht bedauert wurde.« (Rose 1980: 16)

Im Nachgang der Gedenkveranstaltung besetzten 13 Mitglieder der deutschen Sinti-Bürgerrechtsbewegung, unter ihnen Romani Rose, das ehemalige Konzentrationslager Dachau und organisierten einen Hungerstreik. Sie protestierten gegen die Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den nationalsozialistischen Verbrechen an Menschen mit Romani Hintergrund und problematisierten gleichzeitig die nach 1945 fortgesetzte Diskriminierung und Ausgrenzung (vgl. Rose 1980: 17). Im Februar 1982 wurde der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gegründet, im März erkannte Bundeskanzler Helmut Schmidt den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma offiziell an. Im Jahr 1995 wurden Sinti und Roma als nationale Minderheit in Deutschland anerkannt. Es dauerte bis ins Jahr 2012 bis in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma eröffnet wurde.

 

Der Umgang mit dem Denkmal als Sinnbild für aktuelle Formen des Antiziganismus

Die jahrelange Leugnung der antiziganistischen Dimension des Holocaust nach 1945 durch die Mehrheitsgesellschaft bildet die Folie vor der der Umgang mit dem Denkmal diskutiert werden muss. Die nach 1945 weitergeführte Diskriminierung hat die Betroffenen jahrzehntelang ausgeschlossen. Für ein Sprechen über erlittenes Leid und ein Gedenken an die Ermordeten gab es keinen Raum und vor allem auch keine Zuhörer_innen. Dies hebt auch Romeo Franz im Gespräch hervor: Seit 37 Jahren erlebe er einen von der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma geführten Kampf um Anerkennung, zwanzig Jahre sei allein um das Denkmal gekämpft worden, bevor es im Jahr 2012 eingeweiht werden konnte. Das Denkmal sei »der Punkt, wo sich die Verantwortung Deutschlands materialisiert, wo sichtbar geworden ist, das Leid unserer Menschen anerkannt wird. Dass es bereits nach acht Jahren wieder geschlossen oder eingeschränkt wird, wiegt umso schlimmer«. Das Desinteresse und die mangelnde Empathie erlebt er als eine »Hierarchie der Opfer«, das Gedenken an die ermordeten Menschen mit Romani Hintergrund habe in der öffentlichen Aufarbeitung der Verbrechen der Nationalsozialisten keinen Platz:

»Es gibt nur wenige Orte, wo sichtbar wird, was Antiziganismus anrichten kann.«

Insbesondere vor dem Hintergrund des ansteigenden Antiziganismus in Zeiten der Corona-Pandemie hält Franz eine Einschränkung des Denkmals für ein verheerendes Signal: Der rücksichtslose Umgang erscheine dann als Symptom weiterhin bestehender struktureller Diskriminierung sowie antiziganistischer Vorurteile, die auch in gewalttätigen Übergriffen resultierten. In Osteuropa seien Menschen mit Romani Hintergrund aktuell massiver Polizeigewalt ausgesetzt, sagte Franz. Hintergrund sei, dass Menschen mit Romani Hintergrund, die als Wanderarbeiter nach Deutschland kommen, das schwächste Glied der osteuropäischen Arbeiterschaft darstellten. Die Diskriminierung in ihren Herkunftsländern führe teilweise dazu, dass sie auch in Deutschland die schlechtesten Jobs annähmen und in den prekärsten Wohnunterkünften lebten. So seien sie in ihren Arbeitsstätten in Deutschland besonders der Gefahr ausgesetzt, sich mit COVID-19 anzustecken (vgl. diskus 2020 ). In ihren Heimatländern gelten sie als »Virusträger«, sodass sich bestehende Ausgrenzungs- und Diskriminierungsstrukturen nochmals verschärfen. Romeo Franz kritisiert, dass die Lebensbedingungen und Ausgrenzung vieler Menschen mit Romani Hintergrund in Osteuropa Arbeitssklaven produzierten, die eine so schwache gesellschaftliche Position hätten, dass sie Ausbeutung und Unterdrückung wehrlos ausgeliefert seien. Deutschland profitiere aber nicht nur ökonomisch von dem Elend der Wanderarbeiter_innen, es komme auch immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen auf Menschen mit Romani Hintergrund, ohne dass Antiziganismus in seiner Systematik als gesellschaftliches Problem breit wahrgenommen werde. Franz berichtet, dass es bei den Menschen mit Romani Hintergrund das Gefühl gebe, dass auch in Deutschland die Diskriminierung zunehme. Die Menschen suchten nach Möglichkeiten ihre Herkunft zu verstecken, um ein normales Leben führen zu können. Er habe aber keine Lust mehr, seine Geschichte und seine Erwartungen an den diskriminierenden Blick der Mehrheitsgesellschaft anzupassen.

 

Der Kampf gegen Antiziganismus ist Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft

Die Auseinandersetzung mit antiziganistischen Diskriminierungs- und Verfolgungsstrukturen gibt zwar keinen Einblick in die konkrete Lebens- und Erfahrungswelt der Betroffenen, weil hier der diskriminierende Blick von außen nur aufgedeckt und nachvollzogen wird. Antiziganistische Zuschreibungen und Vorurteile geben aber, ebenso wie beispielsweise der Antisemitismus, Auskunft über die Mehrheitsgesellschaft und ihre zentralen Institutionen der Vergesellschaftung. Der Umgang mit dem Denkmal ist damit nur ein Symbol für das grundsätzliche Desinteresse und die strukturelle Ausgrenzung die Europas größte Minderheit auch in Deutschland erfährt. Die Stoßrichtung des Gerichtsurteils des BGH von 1956 scheint in der Mehrheitsgesellschaft weiterhin als rassistisches Deutungsmuster präsent zu sein. Bereits ein selbstbewusstes Auftreten von Menschen mit Romani Hintergrund als politische Subjekte wird teilweise als Provokation wahrgenommen, die Unwohlsein auslöst.

An dem Kampf um das Denkmal in Berlin ist aktuell mitzuerleben, was im Umgang mit Menschen mit Romani Hintergrund im Argen liegt und wie wenig Empathie und Verantwortungsbewusstsein vorhanden ist.

 

Hannah Hecker

*.Weiterführende Informationen

 

*lit.

Acton, T. & I. Klímová (2001): The International Romani Union: An East European answer to West European questions? In: Guy, W. (Hrsg.): Between past and future, the Roma of Central and Eastern Europe. 1. Aufl. Hertfordshire: 157-219.

Bartels, A. (2013): Antiziganismus benennen. Zur sprachen Diskriminierung durch das »Zigeuner«-Wort. In: ebd. et al. (Hrsg.): Antiziganistische Zustände 2. Kritische Positionen gegen gewaltvolle Verhältnisse. 1. Aufl. Berlin: 20-38.

Cibuľa, J. (1980): »Wir wollen uns Schicksal in die eigene Hand nehmen!« In: Gesellschaft für bedrohte Völker (Hrsg.): Sinti und Roma im ehemaligen KZ Bergen-Belsen am 27. Oktober 1979. Erste deutsche und europäische Gedenkkundgebung »In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt«. Eine Dokumentation. Göttingen: 35-41.

DB (2020a): Klarheit über Verlauf des S-Bahn-Tunnels am Reichstag. Pressemitteilung vom 30. Januar 2020. URL: https://www.deutschebahn.com/pr-berlin-de/aktuell/presseinformationen/Klarheit-ueber-Verlauf-des-S-Bahn-Tunnels-am-Reichstag-4848228 [8.08.2020].

DB (2020b): Gedenkstätte für ermordete Sinti und Roma wird durch neuen S-Bahn-Tunnel nicht angetastet. Pressemitteilung vom 25. Mai 2020. URL: https://www.deutschebahn.com/pr-berlin-de/aktuell/presseinformationen/Gedenkstaette-fuer-ermordete-Sinti-und-Roma-wird-durch-neuen-S-Bahn-Tunnel-nicht-angetastet-5237808 [8.08.2020].

diskus (2020): »Wir machen uns gerade vor allem Sorgen um die Gesundheit der migrantischen Arbeitskräfte«. Ein Interview mit Ivan Ivanov über die Arbeitsbedingungen von Wanderarbeitern in der Bauwirtschaft – vor und während Corona. URL: https://diskus.copyriot.com/news/wanderarbeitbauwirtschaft [13.08.2020].

End, M. (2013): Antiziganismus. Zur Verteidigung eines wissenschaftlichen Begriffs in kritischer Absicht. In: Bartels, A. et al. (Hrsg.): Antiziganistische Zustände 2. Kritische Positionen gegen gewaltvolle Verhältnisse. 1. Aufl. Berlin: 39-72.

Fings, K. (2019): Der Völkermord an den Sinti und Roma im Deutschen Reich. Lokale Initiative und nationalsozialistische Rassenpolitik. In: Einsicht 2019. URL: https://www.fritz-bauer-institut.de/fileadmin/editorial/publikationen/einsicht/Einsicht-2019.pdf [8.08.2020].

Heun, J. (2011): Minderheitenschutz der Roma in der Europäischen Union. Unter besonderer Berücksichtigung der Definition der Roma als nationale Minderheit sowie der Möglichkeit positiver Maßnahmen im Rahmen von Art. 19 AEUV. Menschenrechtszentrum der Universität Potsdam, Bd. 34. Berlin.

Heuß, H. (2015): »Verleugneter Völkermord? Ursachen und Konsequenzen – Eine kritische Darstellung und Bewertung von Ermittlungsverfahren zu NS-Verbrechen an den Sinti und Roma«. In: Heuß, H. et al. (Hrsg.): Schonung für die Mörder? Die justizielle Behandlung der NS-Völkermordverbrechen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft und die Rechtskultur in Deutschland. Das Beispiel der Sinti und Roma. Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Schriftenreihe, Band 9: Dokumentation einer Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll am 20./21- Mai 1992 und neue Prozesse. Heidelberg: 30-44.

Kenrick, D. S. (1971): The World Romani Congress. Journal of the Gypsy Lore Society. IL 3: 105-108.

Landesverband Sinti & Roma Baden-Württemberg (2020): Aktionsbündnis »Unser Denkmal ist unantastbar!« wird in künftige Gespräche über das Denkmal eingebunden. URL: https://www.sinti-roma.com/aktionsbuendnis-unser-denkmal-ist-unantastbar-wird-in-kuenftige-gespraeche-ueber-das-denkmal-eingebunden/ [8.08.2020].

Liégeois, J.P. (1994): Roma, Gypsies, Travellers. Straßburg.

Rose, R. (1980): Vorwort an die Sinti. In: Gesellschaft für bedrohte Völker (Hrsg.): Sinti und Roma im ehemaligen KZ Bergen-Belsen am 27. Oktober 1979. Erste deutsche und europäische Gedenkkundgebung »In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt«. Eine Dokumentation. Göttingen: 15-20.

Rose, Romani (2015a): Vorwort: Beschreibung des gesamten Projekts. In: Heuß, H. et al. (Hrsg.): Schonung für die Mörder? Die justizielle Behandlung der NS-Völkermordverbrechen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft und die Rechtskultur in Deutschland. Das Beispiel der Sinti und Roma. Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Schriftenreihe, Band 9: Dokumentation einer Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll am 20./21- Mai 1992 und neue Prozesse. Heidelberg: 13-18.

Rose, Romani (2015b): »Einführung zur Tagungsthematik 1992 in Bad Boll«. In: Heuß, H. et al.  (Hrsg.): Schonung für die Mörder? Die justizielle Behandlung der NS-Völkermordverbrechen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft und die Rechtskultur in Deutschland. Das Beispiel der Sinti und Roma. Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Schriftenreihe, Band 9: Dokumentation einer Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll am 20./21- Mai 1992 und neue Prozesse. Heidelberg: 25-29.

Stengel, K. (2019): »Wieder hatten wir keine Rechte, standen wieder auf der Straße«. Die verfolgten Sinti und Roma in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. In: Einsicht 2019. URL: https://www.fritz-bauer-institut.de/fileadmin/editorial/publikationen/einsicht/Einsicht-2019.pdf [8.08.2020].

 

*.notes