Noch heute mangelt es an einer erinnerungspolitischen Auseinandersetzung der Goethe-Universität mit der Geschichte ihrer Studierenden im Nationalsozialismus. Auch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit individuellen Schicksalen von Angehörigen der Goethe-Universität und eine Einbettung dieser Lebensgeschichten in den Gesamtkomplex des Nationalsozialismus steht bisher aus. In diesem Zusammenhang ist besonders auffällig, dass zumeist insbesondere die Geschichte jüdischer Studierender im Nationalsozialismus ausgeblendet wurde.Aus der Literatur geht hervor, dass es beispielsweise Studierende waren, die sich im Mai 1933 für das Einsammeln der Studienausweise verantwortlich sahen, sämtliche Eingänge des Jügelhaus-Gebäudes versperrten und ihren ›nicht-arischen‹ Kommiliton_innen die Ausweise entzogen. Es waren ebenfalls Studierende, die im selben Zeitraum zur Bücherverbrennung in Frankfurt aufriefen und diese schließlich am Römer durchführten (Stuchlik, 1984). Der Text Frankfurter Studierende als Wegebereiter einer reibungslosen Machtübergabe an die Nationalsozialisten in diesem Heft setzt sich mit diesem Komplex vertiefend auseinander. Dieser Umstand motivierte uns 2016 zu der Gründung der studentischen Projektgruppe Biographien jüdischer Studierender an der Goethe Universität im Nationalsozialismus. Da unserem Verständnis nach die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus neben der wissenschaftlichen immer auch eine erinnerungspolitische Aufgabe darstellt, bewegt sich unsere Erforschung von Biographien an dieser Schnittmenge. So verschafften wir uns durch Recherchearbeiten in Archiven, Museen und Literatur zunächst einen Überblick über die Situation von in der Weimarer Republik diskriminierten und im Nationalsozialismus als »jüdisch« verfolgten Studierenden. Unser Ziel ist es, die Biographien dieser Studierenden darzustellen. Der Zugang zu dem Thema über Einzelschicksale ermöglicht es zum einen, die allgemeinen Verhältnisse zu thematisieren, in welchen antisemitisch Verfolgte ihren Universitätsalltag bestreiten mussten. Zum anderen werden dadurch die individuellen Schicksale aus ihrer Anonymität und Unbestimmtheit geholt. Es sind jene Geschichten, an denen die Verfolgung von Jüdinnen und Juden sowohl an der Goethe-Universität als auch im gesamten deutschen Reich konkret wird. Aus diesem Grund bilden diese Schicksale einen unverzichtbaren Gesichtspunkt in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus an der Universität. Dazu ist jedoch auch unumgänglich, sich mit den nicht-jüdischen Studierenden auseinanderzusetzen, da diese maßgeblich für die Atmosphäre verantwortlich waren und aktiv in den studentischen Alltag eingegriffen haben.

Unsere Recherchearbeit wurde und wird stets von einer theoretischen Reflexion begleitet, die wir im folgenden Beitrag vorstellen möchten. Wir verstehen unsere Arbeit als Prozess, durch den wir versuchen, Potenziale und Herausforderungen zu identifizieren, was nun im Folgenden abgebildet werden soll.

 

Anamnetische Solidarität lernen

Grundlegend für eine Auseinandersetzung mit den Biographien erscheint uns zunächst, eine Kritik an bestehenden Formen des Umgangs mit der Geschichte des Nationalsozialismus zu formulieren und darüber hinaus theoretisch fundierte Gegenentwürfe zu entwickeln. Gedenkveranstaltungen, Trauertage und Schweigeminuten zu Jahrestagen bestimmter, historischer ›Großereignisse‹ sollen im postnationalsozialistischen Deutschland die rückwirkende Betroffenheit der Deutschen belegen. Solch ritualisierte Gedenkveranstaltungen laufen jedoch Gefahr, das Geschehene lediglich pflichtgemäß zu verurteilen. Stattdessen müsste eine andere Art des Gedenkens etabliert werden, die die Fixierung auf das eigene Kollektiv überwindet. So könnte die Möglichkeit für eine schonungslose Selbstaufklärung und eine Solidarität mit den Opfern geschaffen werden, die an Stelle der Auffassung steht, die Nachfahren der TäterInnenAn dieser Stelle wird bewusst auf den Unterstrich verzichtet, da in der Zeit des Nationalsozialismus auch diejenigen verfolgt wurden, die sich nicht dem binären Geschlechtermodell zuordneten. An Stelle des Sterns wird das Binnen-I verwendet, um auch die Rolle und die Beteiligung von Frauen während des Nationalsozialismus sichtbar zu machen. könnten auf identische Art und Weise um die Opfer trauern und an sie erinnern, wie deren Nachkommen. Diese bestehende Diskrepanz sollte anerkannt und die damit verbundenen Ambivalenzen ausgehalten und deutlich gemacht werden, um die »Unfähigkeit zur Identifikation« (Adorno, 1966/2003, S. 687) zu problematisieren und die Voraussetzungen für ein empathisches Vermögen zu schaffen.

Aus diesem Grund räumt auch der Erziehungswissenschaftler Matthias Heyl der individuellen Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen und ihren Entstehungsbedingungen einen Vorrang vor den ritualisierten und meist leeren Formen des kollektiven Gedenkens ein (1995, S. 37). Die Opfer und die Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechen werden in dem vagen zeremoniellen Gedenken in Deutschland häufig zu abstrakten Statist_innen. Derart in den Hintergrund gedrängt wird ihnen erneut solidarische Anteilnahme verwehrt.

Der Begriff der anamnetischen Solidarität ist hilfreich, will man ein Gegenmodell zu hegemonialen Formen des Erinnerns entwickeln. Er geht zurück auf den Pädagogen und Theologen Helmut Peukert und meint ein Verhältnis der Lebenden zu den ihnen unbekannten Toten der Geschichte, das den Anforderungen eines universellen moralischen Bewusstseins gerecht wird (Peukert, 1978, S. 300-301). Peukerts Geschichtsverständnis geht zurück auf Walter Benjamin und betont die Spuren, die Geschichte in der Gegenwart hinterlässt. (vgl. ebd.) Vor diesem Hintergrund skizziert Peukert für ein moralisches Bewusstsein, das unabhängig von partikularen Beschränkungen auf das eigene Kollektiv und unabhängig von zeitlicher Beschränkung urteilt. Ein solches lässt sich im Kontext des Erinnerns nicht einfach voraussetzen, es zu entwickeln ist jedoch eine wichtige Forderung. Denn das Fehlen eines universellen moralischen Bewusstseins machte die Verbrechen an den europäischen Jüdinnen und Juden erst möglich. So ist die Stärkung des Individuums und dessen autonomer, moralischer Urteilskraft auch Adorno zufolge »die einzig wahre Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz« (Adorno, 1966/2003, S. 679).

Doch wie kann es überhaupt möglich sein, bei den nicht-jüdischen Deutschen solidarische und anteilnehmende Gefühle für diejenigen zu wecken, die während des Nationalsozialismus zu Fernen und Fremden degradiert wurden und somit zu Opfern und Verfolgten der nationalsozialistischen Verbrechen (vgl. Heyl, 1995, S. 31)? Schließlich ist Trauer nach Freud eine Reaktion auf den Verlust eines geliebten Objekts. Micha Brumlik (1988, S. 122) zufolge enthält »die Forderung nach Trauer um die fernen und fremden Opfer der Massenvernichtung einen zumindest paradoxen Charakter.« Es wird also deutlich, dass die Trauer der Überlebenden und ihrer Angehörigen nicht in derselben Art und Weise von den Nachfahren der Täterinnen und Tätern empfunden werden kann (vgl. Heyl, 1995, S. 30). Brumlik plädiert deshalb für eine der Trauer analoge Form der Solidarität (Brumlik, 1988, S. 114), die um ihre Brüche, Ambivalenzen und Grenzen weiß. Denn während in der transgenerationalen Weitergabe von historischen Erfahrungen die Nachfahren der Überlebenden zu den Trägern der Erinnerung wurden, hat sich in der postnationalsozialistischen Gesellschaft und den Nachfahren der AnhängerInnen des Nationalsozialismus vor allem die (groß)elterliche Abdrängung und Vergessenheit eingeschrieben. In der aktuellen Auseinandersetzung müsste es demnach Aufgabe sein, dieser Verdrängung entgegenzuwirken und sich dem Geschehenen zuzuwenden. Das heißt, es müsste »die Anstrengung einer konkreten und konkretisierenden Erinnerungsarbeit« auf sich genommen werden (ebd., S. 30f.), um so neue Erfahrungen und Informationen zu generieren, auf Grundlage derer Gefühle geändert und neue moralische Maßstäbe gewonnen werden können (Brumlik, 1988, S. 115). Die »Unfähigkeit, überhaupt unmittelbare menschliche Erfahrungen zu machen«, verknüpft Adorno ebenfalls mit der verbreiteten Emotionslosigkeit innerhalb der deutschen Gesellschaft, während des Nationalsozialismus, wie danach (1966/2003, S. 683).

Es gilt also, das angeeignete Wissen in den Kontext der jeweiligen Perspektiven zu setzen und zu reflektieren. Dies scheint gerade im familiären Kontext von besonderer Relevanz, da hier die Abwehr besonders stark ist. In der Erinnerungsarbeit haben sich daher bereits seit den 1980er Jahren – sei es in Gedenkstätten, Geschichtswerkstätten, in vereinzelten schulischen oder außerschulischen Projekten, sowie in der Universität – biographische Perspektiven mehr und mehr etabliert, da sie helfen, »geschichtliche Strukturen, Zwänge, Bedingungen, Entscheidungs- und Handlungsspielräume zu konkretisieren und auszuloten« (Heyl, 1995, S. 53). Das eigene Erinnern kann schließlich als subjektiver Prozess verstanden werden, in dem ein Bezug zum Gegenstand entwickelt wird. Dabei geht es nicht primär um den zum Scheitern verurteilten Versuch des Sich-Einfühlens in die Menschen, die Grausamstes erleiden mussten, sondern um den Prozess der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Geschehenen (vom Gedenkstättenbesuch, über eigene familiäre wie nicht-familiäre Recherchearbeiten bis hin zum Sehen oder Hören von Zeitzeug_innengesprächen etc.).

Auf diese Weise entsteht die Chance, Erfahrungen und Wissensbestände zu ermöglichen, die den Ausgangspunkt eines solidarischen Verhaltens und Erinnerns bilden können (Seidel, 2018, S. 15f.). Das heißt, um den Opfern im Sinne einer anamnetischen Solidarität im Erinnern gerecht zu werden, müssen auch ihre individuellen Geschichten konkretisiert und aus der Anonymität und Unbestimmtheit des ritualisierten Gedenkens ins Bewusstsein gehoben werden, was u. a. durch Biographiearbeit geschieht. Erst wenn die Opfer wieder erkennbar gemacht werden als das, was sie sind: Individuen, Mitmenschen, denen unsere unbedingte Solidarität gilt, die ihnen zuvor versagt wurde, hört Gedenken im Sinne von Erinnerungsarbeit auf, selbstgefällig zu sein. Hierin liegt dann die Möglichkeit einer rückwirkenden Solidarisierung und einer Überwindung der von Adorno beklagten »universellen Kälte«. Hierbei ist es wichtig, die konkretisierte, an individuellen Biographien orientierte Auseinandersetzung, immer wieder an die allgemeinen, gesellschaftlichen Strukturen des Nationalsozialismus und seine Verbrechen rückzubinden, Einzelschicksale in den Gesamtkontext einzubetten und sie trotzdem als erlebtes »Schicksal« für sich sprechen zu lassen (Heyl, 1995, S. 37; Seidel, 2018, S. 16f.).

Konkret meint dies zweierlei: Zum einen ist gemeint, dass die im Nationalsozialismus vollzogene Entsolidarisierung, der Ausschluss von Jüdinnen und Juden aus dem Bereich wechselseitiger moralischer Verpflichtungen, vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen interpretiert werden muss. Denn die Verfolgung war mehr als die Antipathie einzelner Nationalsozialisten gegenüber einzelnen Jüdinnen und Juden. Sie war das Grundprinzip einer partikularen und mörderischen Moral. Zum anderen meint es, dass Jüdinnen und Juden gerade nicht als Individuen verfolgt und gehasst wurden. Ihre Individualität spielte für die VerfolgerInnen ebenso wenig eine Rolle, wie die Frage, ob sie sich selbst als jüdisch definierten. Gleichzeitig sind die einzelnen Verfolgungsgeschichten immer konkrete Schicksale individueller Personen und ihre Biographien sind als solche zu betrachten und abzubilden.

Dass die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gerade dann, wenn sie persönlich wird und Einzelschicksale beleuchtet, ungute Gefühle, Abwehrreaktionen oder die Angst vor Konsequenzen bezüglich des Verhältnisses zu den eigenen Familienmitgliedern hervorrufen kann, steht außer Frage. Dies lässt sich ebenfalls auf die Beschäftigung mit der Geschichte von Institutionen wie der Universität übertragen, der man selbst angehört. Doch im besten Fall können auch diese Erfahrungen in den »Prozeß der bewußten Auseinandersetzung« (Heyl, 1995, S. 37) integriert und schließlich reflektiert werden, um sich der Idee einer anamnetischen Solidarität zu nähern. Erinnerungsarbeit ist unbequem, gerade weil sie deutlich macht, wie direkt die Vergangenheit uns heute noch betrifft. Denn im Rahmen einer kritischen Aneignung von (Familien-) Geschichte steht nicht zuletzt »die Frage nach Identifikation mit der eigenen Kultur und Familie auf dem Spiel« (Brumlik, 1988, S. 115). Es ist daher wichtig festzuhalten, dass die Aneignung von Geschichte einen subjektiven Prozess darstellt, der mit Irritationen und Ambivalenzen einhergehen kann, der aber gleichzeitig die Möglichkeit einer anamnetischen Solidarität birgt (Heyl, 1995, S. 36). Das heißt, dass der Suche nach Möglichkeiten des Erinnerns subjektive Lern- und Bildungsprozesse vorangestellt werden müssen. Eine solche Auseinandersetzung findet sich auch in der von Micha Brumlik formulierten Forderung, dass eine »Erziehung nach Auschwitz« immer auch eine »Erziehung über Auschwitz« zu implizieren habe (Brumlik, 2008). Die Formen der persönlichen Auseinandersetzungen unterscheiden sich natürlich und legen entsprechend verschiedene Schwerpunkte. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Quellen und Gegenstände, sowie der Frage, wessen Perspektive auf das Geschehen im Fokus steht. So macht es einen Unterschied, ob die jeweiligen Untersuchungsgegenstände Zeugnisse der Überlebenden sind, oder ob man es ausschließlich mit Dokumenten der TäterInnen zu tun hat.

 

Potenzial und Grenzen einer solidarischen Hinwendung zum Konkreten durch Biographieforschung

Für uns als Studierende bedeutet das Bemühen um die Möglichkeit anamnetischer Solidarität folgendes: Wir können qua unserer akademischen Ausbildung und gesellschaftlichen Position Erfahrungen und Kenntnisse nutzen, um die Geschichten derer, denen das Studieren an derselben Universität unmöglich gemacht wurde, sichtbar zu machen. So können wir zum Beispiel durch Recherchen in Archiven Biographien rekonstruieren, Einzelschicksale in den Gesamtkontext der Verbrechen einordnen und diesen (theoretisch) reflektieren. Dass sich Studierende heute mit der nationalsozialistischen Ausrichtung der Universität auseinandersetzen, bei der Studierende gleichermaßen Ausgangs- wie Zielpunkt von Antisemitismus waren, kann als Versuch anamnetischer Solidarität verstanden werden. Mit der Betonung des Persönlichen in der Auseinandersetzung ist klar, dass für andere Personen in anderen (Lebens)Lagen solidarisches Erinnern auch anders aussehen kann und muss. »Was hat die Geschichte mit mir persönlich zu tun?« Die Herstellung einer erlebbaren Verbindung zwischen denen, die erinnern und jenen, derer erinnert wird, ist Voraussetzung anamnetischer Solidarität und kann nicht mittels institutionalisierter Gedenkzeremonien geschaffen werden.

Während unserer Recherchearbeiten werden uns jedoch immer wieder die Grenzen eben dieser deutlich: Wir können anhand der Matrikelbücher nachvollziehen, wann eine Person sich in welches Fach einschrieb und wann ihr das Studieren verboten wurde. Wir können Informationen darüber erlangen, wohin eine Person geflohen ist, ob sie versuchte, Restitutionsansprüche geltend zu machen, oder ob sie ermordet wurde. Die Spuren, die ehemalige jüdische Studierende in Archiven und Registern hinterließen, lassen also eine Rekonstruktion öffentlicher bzw. institutioneller Prozesse und in Teilen auch darüber hinaus, zu. Wir mussten bei unseren Recherchen fast immer auf staatliche oder universitäre Dokumente, auch aus der NS-Zeit, zurückgreifen. Daraus lassen sich zwar biographische Eckdaten rekonstruieren und die grobe Verfolgungsgeschichte ableiten, wir können anhand dieser Dokumente jedoch nicht behaupten, dass wir wirklich etwas über die individuelle Person an sich wissen. Es ist klar, dass Vieles, was die Personen ausmachte, von uns bislang keine Beachtung erfuhr. Wir müssen uns daher eingestehen, dass unsere Recherchearbeiten immer unzulänglich bleiben werden. Unser Anspruch kann es also nicht sein, ein umfassendes Bild einer Person zu rekonstruieren, um uns mit diesem von uns geschaffenen Bild nachträglich zu identifizieren und zu solidarisieren. Ein solcher Anspruch wäre nicht nur zum Scheitern verurteilt, er liefe ebenfalls Gefahr, die einzelnen Opfer und ihre Geschichten zu mystifizieren und im Zweifelsfall für Identifikationsbedürfnisse zu instrumentalisieren. Der Unzulänglichkeit unserer Arbeit in Bezug auf die Lebensrealität der Personen selbst, sind wir uns durchaus bewusst. Sie steht jedoch nicht im Widerspruch zu der Idee anamnetischer Solidarität, die gerade die Fähigkeit fördern will, sich auch mit »Fernen und Fremden« (Brumlik, 1988, S. 122) bewusst und der Distanz zum Trotz zu solidarisieren. Im Sinne eines universellen moralischen Bewusstseins darf Nähe oder Ferne gerade nicht über den Grad an Solidarität entscheiden. Diese gilt allen Individuen gleichermaßen. Doch müssen sie hierfür zunächst wieder als Individuen erkennbar gemacht werden. Die Opfer und ihr erfahrenes Leid sichtbar zu machen, und im Erinnern in den Vordergrund zu stellen, ist deshalb unsere Absicht. Diese Konkretion ist umso wichtiger, je stärker insbesondere kollektives Gedenken zur Selbstbezüglichkeit neigt und die individuell Betroffenen und ihre Nachkommen zu vergessen drohen. Deshalb ist es ein erster Schritt zur Möglichkeit eines solidarischen Erinnerns, sich selbst klar zu machen, an wen oder was erinnert werden soll, wem oder was das vielbeschworene »Nie Wieder« gilt, das viel zu oft zum Jargon wird. Wenn wir also die Geschichten derjenigen erforschen, die aus eben jener Universität ausgestoßen wurden, an der wir heute studieren, dann kann uns das nicht unberührt und unverändert lassen. Die Möglichkeiten, die uns die Universität heute bietet, wurden jüdischen Studierenden ab einem bestimmten            Zeitpunkt versagt. Wir, als Studierende der Goethe-Universität, die eben auch ein Ort des Verbrechens, der Verfolgung und des offenen und brutalen Antisemitismus war, müssen diesen Umstand stets mitreflektieren. Diese Beteiligung der Universität am Nationalsozialismus sichtbar zu machen, ist im Sinne einer anamnetischen Solidarität zentral. Denn es würde solidarischem Erinnern widersprechen, wenn wir, wie Helmut Peukert es formuliert, den »Verlust des geschichtlichen Gedächtnisses [zur] Voraussetzung für [ein] glückliches Bewußtsein« machten (Peukert, 1978, S. 309).

In der Beschäftigung mit Einzelschicksalen dürfen also nicht diejenigen gesamtgesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen aus dem Blick geraten, die das vorbereiten und ermöglichen halfen, was sich hinter der Chiffre Auschwitz verbirgt. Die Individualität der Opfergeschichten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Nationalsozialismus und seine Verbrechen sich bis zuletzt der aktiven und begeisterten Unterstützung nahezu der gesamten deutschen Bevölkerung sicher sein konnten, und dass die gesamte gesellschaftliche Organisation auf die Realisation der massenhaften, anonymen und industriellen Ermordung von unzähligen Menschen ausgelegt war. Die Tatsache, dass es sich bei den Ermordeten also nicht um einzelne und vereinzelte Tote, sondern um Millionen von Opfern eines staatlich organisierten Massenmordes handelt, macht es notwendig, sich auch der Erforschung eben jener Strukturen zuzuwenden, die Solches möglich machten. So muss auch die gegenwärtige gesellschaftliche Situation auf Überbleibsel dieser Strukturen befragt werden. Denn die Barbarei besteht, so Adorno in der Erziehung nach Auschwitz, fort, solange ihre Bedingungen nicht restlos überwunden wurden (1966/2003, S. 674).

Die solidarische Hinwendung zum Konkreten durch Biographiearbeit, und ihre Ergänzung durch eine Analyse allgemeiner, gesamtgesellschaftlicher Strukturen, kann das Konzept anamnetischer Solidarität für eine »Erziehung nach Auschwitz« fruchtbar machen. Die »freiwillige Solidarität« im Erinnern an individuelle Einzelschicksale kann als Gegenentwurf zur »universellen Kälte« verstanden werden, die Adorno zufolge Voraussetzung für die Möglichkeit von Auschwitz war. Die gesamtgesellschaftlich verbreitete Indifferenz gegenüber dem Schicksal Anderer zu überwinden, ist das Ziel anamnetischer Solidarität.

 

*.lit

Adorno, T. W. (1966, 2003). Erziehung nach Auschwitz. In R. Tiedemann & T. W. Adorno (Hrsg.), Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften (Kul- turkritik und Gesellschaft II, Bd. 10.2, S. 674-690). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Brumlik, M. (1988). Trauer und Solidarität – Zu einer Theorie öffentlichen Gedenkens. In M. Brumlik & P. Kunik (Hrsg.), Reichspogromnacht (1. Aufl., S. 111-119). Frankfurt am Main: Brandes und Apsel.

Brumlik, M. (2008). »Dass Auschwitz sich nie wiederhole... « Pädagogische Reaktionen auf Antisemitismus. Verfügbar unter: https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremimus/41277/dass- auschwitz-sich-nie-wiederhole-?p=all [25.07.2018].

Heyl, M. (1995). Jews are no metaphors, oder: Die Kontextualisierung des Holocaust in Deutschland. In H. Schreier, & M. Heyl (Hrsg.), »Daß Auschwitz nicht noch einmal sei…« – Zur Erziehung nach Auschwitz (1. Aufl., S. 27-62) Hamburg: Krämer.

Peukert, H. (1978). Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamen- tale Theologie. Frankfurt am Main: Patmos.

Seidel, I. (2018). Lernen mit Biografien: Ziele, Möglichkeiten und Grenzen der pädagogischen Arbeit mit Lebensgeschichten und biografischen Fragmenten von ehemaligen NS-Verfolgten. Lernen aus der Geschichte Magazin, 18(6), 15-19.