Monowitz. Nie gehört?
Vermutlich kennen nur wenige Angehörige der Goethe-Universität die Geschichte des Konzentrationslagers Monowitz. Doch auf dem IG-Farben-Campus zu studieren und zu arbeiten, heißt auch, sich mit der Geschichte dieses Ortes auseinanderzusetzen: Das IG-Farben-Haus ist untrennbar mit Monowitz verbunden.
›Rassenhygiene‹, Bücherverbrennungen, Ausschluss jüdischer Studierender und Lehrender aus den Hörsälen: Deutsche Universitäten im Nationalsozialismus integrierten sich nahezu vollständig in die ›Volksgemeinschaft‹. Auch die Frankfurter Hochschule hat ihre eigene kaum aufgearbeitete NS-Geschichte.
Der Einzug in den ehemaligen Hauptsitz der IG Farben 2001 fordert zusätzlich eine spezifische Form der Reflexion auf diesen Ort. Dennoch wurde eine solche von der Universitätsleitung nicht in den Mittelpunkt des Umgangs mit dem neuen Campus gerückt. Die Form der Auseinandersetzung mit der Geschichte des sogenannten Campus Westend war von Beginn an umkämpft. Die Geschichte dieser Auseinandersetzung verweist auf die fehlende Bereitschaft, die Vergangenheit des Ortes deutlich sichtbar zu machen.
Eine untrennbare Verbindung
Der IG-Farben-Campus ist als historischer Ort mit einem zweiten Ort untrennbar verbunden: Monowice. Monowice ist heute ein kleines, unscheinbares Dorf in Polen und liegt einige Kilometer östlich der Kleinstadt Oświęcim, direkt an einem großen Industriegebiet. An diesem Ort war in den Jahren 1942–1945 das Konzentrationslager Monowitz, das die Baustelle der IG Farben mit Zwangsarbeitern versorgte und zum Lagerkomplex Auschwitz gehörte. Im Hauptverwaltungsgebäude der IG Farben in Frankfurt am Main wurden Entscheidungen getroffen, die unmittelbar Folgen für das (Über)Leben von KZ-Häftlingen in Monowitz und Auschwitz hatten. Der ehemalige Hauptsitz der IG Farben, das von der Universität als »IG-Hochhaus« bezeichnete Gebäude und das Casino, sind heute fast unverändert erhalten. Recherchiert man dagegen zur Lage in Monowice, stößt man in fast allen Quellen darauf, dass heute nichts mehr aus der Zeit des Konzentrationslagers zu finden sei. Eine Spurensuche in Monowice ermöglicht es, diesem Narrativ etwas entgegenzusetzen.
Geschichte der IG Farben und ihres Konzentrationslagers
Die Interessengemeinschaft Farben AG (IG Farben) wurde 1925 als Zusammenschluss deutscher Chemiekonzerne gegründet, darunter Unternehmen wie AGFA, BASF, Bayer und Hoechst. Seit den 30er Jahren unterhielt die Leitung des neuen Konzerns gute Kontakte zur nationalsozialistischen Führungsriege. Nach innen wurde der Konzern ›arisiert‹ (1938 waren alle jüdischen Mitarbeiter_innen entlassen), nach außen beteiligte man sich an der Vorbereitung des Krieges. Allerdings greift es zu kurz, von einer bloßen ›Verstrickung‹ der IG Farben zu sprechen. Der Konzern war nicht nur schlicht Profiteur der nationalsozialistischen Politik, sondern auch aktiv an dieser beteiligt. Die IG Farben spielte für die Kriegswirtschaft eine zentrale Rolle: nicht nur weil sie ›kriegswichtige‹ Produkte herstellte, sondern weil sie für die angestrebte wirtschaftliche Autarkie Deutschlands in ihrem Wirtschaftssektor sorgen sollte. Die chemische Industrie, der im Zuge des Krieges besetzten Gebiete, fiel aus diesem Grund an die IG Farben.
1941 sollte die Produktion von Treibstoffen und synthetischem Kautschuk (Buna), etwa zur Bereifung militärischer Fahrzeuge, ausgeweitet werden. Als Bauplatz für das neue Werk wählte man ein Gebiet unweit des Konzentrationslagers Auschwitz in der Nähe des polnischen Dorfes Monowice. Ein entscheidender »Standortfaktor« war die garantierte Versorgung mit Häftlingen des Konzentrationslagers als Zwangsarbeiter. Zu Beginn mussten die Häftlinge den Weg zur Baustelle zu Fuß zurücklegen. Die ›Bauherren‹ stellten jedoch fest, dass der tägliche sieben Kilometer lange Fußmarsch die Häftlinge zu sehr schwächte und damit die Arbeitsproduktivität drückte. Aus diesem Grund begann die Bauleitung in Kooperation mit der SS ab 1942 damit, ein eigenes Konzentrationslager in der Nähe der Baustelle zu errichten. Das Konzentrationslager Monowitz (zeitweise auch »Auschwitz III«) entstand auf den Ruinen des polnischen Dorfes Monowice, das für den Bau zerstört wurde. Die Bewohner_innen des Orts wurden vertrieben. Den Alltag im Lager regelte die SS, vertraglich war alles mit der IG Farben vereinbart: Für die Häftlinge zahlte die IG Farben pro Tag zwischen drei und vier Reichsmark an die SS – sogar der maximale Krankenstand im Lager war Teil der Übereinkunft. Die Anzahl an Häftlingen schwankte, der Höchststand war Mitte 1944 mit über 10 000 Häftlingen erreicht. Die IG Farben profitierte also nicht nur vom Lagersystem des Nationalsozialismus, sondern beteiligte sich auch aktiv an der »Vernichtung durch Arbeit«. Im Lager und bei der Arbeit herrschten katastrophale Bedingungen. Auch die im Vergleich zu anderen Lagern häufigeren ›Selektionen‹, die nicht nur von der SS, sondern auch von Mitarbeitern der IG Farben durchgeführt wurden, gehörten zum Alltag in Monowitz. Regelmäßig wurden ›arbeitsunfähige‹ Häftlinge im nahen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau in den Gaskammern ermordet.
Das Lager wurde am 18. Januar 1945 ›evakuiert‹: 9000 Gefangene wurden auf sogenannte Todesmärsche gen Westen getrieben. 800 schwer kranke Häftlinge ließ die SS zurück. Die Überlebenden wurden am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit. Die Zahl der Todesopfer wird heute auf 23–30 000 Menschen geschätzt.
Nach der Niederlage Deutschlands im zweiten Weltkrieg wurde die IG Farben von den West-Alliierten in 29 Firmen zerschlagen (z.B. BASF, Bayer oder Höchst). In der sowjetischen Besatzungszone wurden die Besitzer enteignet. Einzelne Vorstandsmitglieder wurden in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zu Haftstrafen verurteilt – und bereits zu Beginn der 50er Jahre begnadigt. Norbert Wollheim, ein Überlebender des Lagers Monowitz, klagte 1951 auf Entschädigung. Er gewann in erster Instanz, die IG-Farben-Rechtsnachfolger gingen in Berufung. Man einigte sich schließlich außergerichtlich: Wollheim konnte 30 Mio. DM als Entschädigung für einen Teil der überlebenden Zwangsarbeiter erstreiten. Die IG-Farben-Nachfolger sicherten sich gegen weitere Klagen ab und betonten, dass die Zahlung kein Schuldeingeständnis darstelle.
Monowitz heute: Monowice
Heute erinnert kaum noch etwas an das Konzentrationslager Monowitz. Im Unterschied zum ehemaligen sogenannten ›Stammlager‹ Auschwitz und dem ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ist Monowitz nicht Teil des Staatlichen Museums Auschwitz. Nach dem Krieg kehrten einige der ehemaligen Bewohner_innen nach Monowice zurück und bauten es, aus nachvollziehbaren Gründen, wieder auf. In dem kleinen Dorf geht das Leben weiter. Doch auch wenn immer wieder darauf verwiesen wird, dass es dort nichts mehr zu sehen gäbe, so kann eine Spurensuche vor Ort einiges zu Tage fördern.
Biegt man in die kleine Straße ein, die zum Dorf führt, sind die Stehbunker, die den ehemaligen Lagereingang anzeigen, nicht zu übersehen. Unsichtbarer dagegen ist die ›Blockführerstube‹, die heute als Wohnhaus genutzt wird. Der Blockführer, Mitglied der SS, hielt u.a. die Appelle ab und ordnete die Häftlinge den Baracken zu. Im Garten dieses Hauses steht ein grasbewachsener Liegebunker, der die Außengrenze des Lagers markiert. Jeder Wachturm war mit einem Liegebunker ausgestattet, der den Bewacher vor Luftangriffen schützen sollte. Folgt man der Hauptstraße des Dorfs, die auf der ehemaligen Lagerstraße verläuft, fallen einem zwischen den Zäunen die steinernen Zaunpfähle auf: ehemalige Teile der Lagerumzäunung. Zwei weitere Gebäude des Lagers sind erhalten geblieben: die Schmiede und ein Teil des Häftlingskrankenbaus – beide Häuser sind heute bewohnt. Am Rande des Dorfs, mit unmittelbarem Blick auf das angrenzende Chemiewerk, verfällt eine ehemalige SS-Wohnbarracke. Unweit davon steht noch immer ein großer Bunker der SS.
Eine kleine Gedenkstätte in der Dorfmitte weist darauf hin, dass hier zehntausende Menschen ermordet wurden. Zentrum der Stätte ist ein hohes weißes Kreuz. Aufgestellt wurde dieses Mahnmal von den Bewohner_innen des Dorfes und spricht damit die Sprache derer, die gedenken; wenn auch nicht derer, denen gedacht wird.
Das riesige Gelände der ehemaligen IG-Farben-Werke wird heute von verschiedenen Firmen genutzt. Es finden sich weder vor Ort noch in der Forschungsliteratur Angaben darüber, welche Gebäude aus der NS-Zeit stammen. Auffällig ist aber vor allem der Zaun, der weite Teile des Geländes umgrenzt. Die Zaunspitze ist nach innen gebogen und hindert damit nicht daran, von außen in das Industriegelände zu kommen, sondern von innen zu fliehen.
Am Haupteingang des Industriegeländes befindet sich ein offizielles Mahnmal aus den 60er Jahren. Auf einem riesigen Dreieck, das auf die Abzeichen der Häftlinge verweist, steht eine abstrakte Darstellung eines Lagerzauns, an deren Fuß drei gekrümmte Körper liegen. Eine Gedenktafel in den Sprachen Polnisch, Russisch, Englisch und Französisch, weist darauf hin, dass 30 000 »political and war prisoners« an diesem Ort ermordet wurden; das ignoriert, dass die übergroße Mehrheit dieser Ermordeten verfolgt wurden, weil sie jüdisch waren. Anders als auf vergleichbaren Gedenktafeln in Birkenau oder im ›Stammlager‹, fehlen die Sprachen Hebräisch und Jiddisch.
Monowitz und der IG-Farben-Campus
Im (deutschen) Gedenken stellt Monowitz eine Leerstelle dar. Normalerweise wird Monowitz in das Gedenken an Auschwitz eingemeindet – bemerkenswerterweise trotz bekannter Zeitzeugenberichte wie etwa Primo Levis oder Jean Amérys. Damit wird aber die Eigenständigkeit dieses Lagers unterschätzt, dem ab Ende 1943 die meisten der Nebenlager von Auschwitz unterstanden. In der Dauerausstellung des staatlichen Museums Auschwitz spielen die IG Farben und das Konzentrationslager keine eigenständige Rolle. Die beiden genannten Denkmäler sind weitgehend unbekannt. Der Zeitzeuge Stephan Lipniak antwortete auf die Frage, was er empfinde angesichts dieser Leerstelle: »Ich bin einfach traurig.«
Umso wichtiger ist es also, die untrennbare Verbindung des IG-Farben-Campus mit Monowitz aufzuzeigen. Dass es hier überhaupt Verweise auf Monowitz gibt, ist einer langen Geschichte von Kämpfen zu verdanken, die von Überlebenden, Studierenden und dem Fritz Bauer Institut geführt wurden – gegen die Universitätsleitung, nicht etwa mit ihr. Bei dem ersten großen Treffen Überlebender 1998 an der Frankfurter Universität äußerten diese den Wunsch, auf dem neuen Campus eine Gedenktafel aufzustellen, die an Monowitz erinnert. Direkt vor dem Haupteingang des IG-Farben-Hauses liegt eine graue Tafel, normalerweise zugeparkt von Fahrrädern. Entgegen dem Wunsch der Überlebenden, sie müsse senkrecht stehen, liegt diese Tafel und kommt so nicht zur Geltung. Die von Überlebenden unterstützte Forderung des Fritz Bauer Instituts, den Grüneburgplatz in Norbert-Wollheim-Platz umzubenennen, blieb folgenlos. Immerhin ist damit über eine geeignete Form des Gedenkens auf dem Campus nachgedacht worden. Entstanden ist daraus das Norbert-Wollheim-Memorial, das explizit den Opfern von Monowitz gedenkt. Es enthält neben den Bildtafeln, die auf dem vorderen Teil des Campus verteilt sind, eine große Zahl an Überlebendenberichten und Zeitzeugeninterviews und bietet damit einen Rahmen, um eine erste Beschäftigung mit der IG Farben und Monowitz zu ermöglichen. Dass die Universitätsleitung sich kaum scheut, die unrühmliche Geschichte dieses Ortes zu ignorieren, zeigt sich nicht zuletzt darin, wie der neue Campus bezeichnet wird: Statt »IG-Farben-Campus«, was immerhin auf die Geschichte des Ortes verwiese, wird er »Campus Westend« genannt. Sogar das IG-Farben-Haus selbst sollte, wäre es nach der Universitätsleitung gegangen, als »Poelzig-Ensemble« bezeichnet werden. Aber auch jenseits des sprachlichen Umgangs reicht ein kurzer Spaziergang über das Gelände, um zu sehen, dass hier kein Bruch vollzogen wird: die Architektur der neuen Gebäude schmiegt sich ganz explizit an die historischen Vorbilder an.
In absehbarer Zeit wird die Universität Bockenheim verlassen haben und eine weit größere Zahl an Studierenden mit dem IG-Farben-Campus konfrontiert sein. Der »Campus Westend« wird endgültig zu einem der Hauptstandorte der Frankfurter Universität. Nach wie vor stellt sich die Frage, was es bedeutet, an diesem Ort zu studieren, zu forschen, zu lehren. Dabei gilt es auch in Zukunft darüber nachzudenken, wie man der Verbindung mit Monowitz gerecht werden könnte. Voraussetzung dafür ist, zu wissen, dass sie besteht.