Eine Erfahrung, von der nahezu alle Schüler und Schülerinnen der frühen Kritischen Theorie berichten, ist die ebenso faszinierende wie zunächst Distanz schaffende, gewaltige Kraft der vorgetragenen Überlegungen. Gleichermaßen gilt dies für Alfred Schmidt, der Adorno nicht nur in dieser Hinsicht übernahm, sondern weiterführte.

1931 in Berlin geboren, studierte Schmidt zunächst Geschichte, englische und klassische Philologie, später dann Philosophie und Soziologie in Frankfurt am Main. In den 1950er und Anfang der 1960er Jahre veröffentlichte er über fünfzig meist kleinere Arbeiten und Rezensionen im Diskus. Bereits der Titel des ersten Beitrags von 1954 »Leid und Erlösung« kann als programmatisch für das Werk von Alfred Schmidt verstanden werden. In diese Zeit fiel auch Schmidts Engagement im Frankfurter SDS, für den er beispielsweise im Rahmen der Arbeitsgemeinschaften »Marxismus« und »Grundlagen des Sozialismus« Vorträge hielt, die zur internen und wissenschaftlichen Selbstverständigung beitragen sollten. Seine Dissertation unter dem Titel »Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx« bei Adorno und Horkheimer wurde 1962 veröffentlicht und später in alle europäischen Sprachen sowie ins Chinesische und Japanische übersetzt. Ab 1956 war Schmidt Lehrbeauftragter am Philosophischen Seminar bei Theodor W. Adorno und 1972 übernahm er den Lehrstuhl von Horkheimer an der Goethe-Universität, den zunächst Habermas innehatte.

Die Frage nach der den Menschen stets vorausgehenden Natur blieb zeitlebens, wenn auch mit veränderten Schwerpunktsetzungen, eines der verbindenden Momente im philosophischen Denken Schmidts. Seine unorthodoxe Orthodoxie zielte vornehmlich auf die Vermittlung der zweiten mit der ersten Natur und umgekehrt. Dass Naturbeherrschung die Herrschaft über Menschen bislang einschließt, war für ihn eines der zentralen Motive Kritischer Theorie. Die blinde Naturgeschichte ihrer repressiven Herrschaft zu überführen bildete für ihn nicht nur ein erkenntnistheoretisches Interesse am Materialismus. In seiner intensiven Beschäftigung mit Marx und Engels ging es ihm auch um die Befreiung von proklamatorischer Standpunktphilosophie und um die Bewahrung des Gedankens an Versöhnung. In der Kritik weltanschaulich-bekenntnishafter Versicherungen, in der Zurückweisung sozialromantisierender Konzeptionen und im Einbezug sensualistisch-leibhafter Momente verortete Schmidt einen kritisch-diagnostischen Materialismus.

An dieser Stelle verdeutlichen sich die Verbindungslinien zu seinem zweiten richtungweisenden Lehrer. Schmidt knüpfte an Horkheimers Beschäftigung mit dem Werk Schopenhauers an und rückte damit die Endlichkeit des Menschen in das Zentrum seines philosophischen Interesses. In der stets schmerzlichen Erinnerung an die Leibgebundenheit der Menschen verortete er die Quellen der Religion und der Metaphysik. Durch den Einbezug der Natur im Subjekt, der Schmidts spätere Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse Freuds begründete, wurde der kritisch-aufgeklärte Materialismus erheblich erweitert. Obwohl 1999 emeritiert, hielt er weiterhin zahlreiche Vorlesungen und Kolloquien, die Beiträge zu einem aufgeklärten Materialismus bündelten und weiterführten. Seine noch bis vor kurzem abgehaltene Vorlesungsreihe über die »Geschichte des Materialismus« war geprägt von dem Bestreben, die Spuren materialistischer Motive in der Philosophiegeschichte seit der Antike zusammenzutragen. In dieser feingliederigen Arbeit zeigte Schmidt materialistische Kategorien und Motive bei ihren erklärten Gegnern und Verächtern auf und überführte zugleich materialistische Bestrebungen ihrer idealistisch-metaphysischen Voraussetzungen. Die Perspektive Schmidts blieb dabei bis zuletzt, eine mögliche und doch verstellte humanere Geschichte offenzulegen.

Die von Alfred Schmidt vorgenommenen Übersetzungen beeindrucken durch philosophischen Sachverstand ebenso wie durch philologische Akribie. Als Übersetzer umfangreicher Schriften von Herbert Marcuse dürfte Schmidt stillschweigend erheblich zu dessen Popularität in den späten 1960er Jahren beigetragen haben. Ein besonderes Augenmerk verdient die Übersetzung von Horkheimers »Eclipse of Reason«, das als »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft« zudem eine Differenzierung erfuhr. Die von Schmidt (mit-) herausgegebenen Schriften Horkheimers zeichnen sich durch ein editorisches Feingefühl aus, das bis heute den Gesammelten Schriften Adornos vorenthalten bleibt. Der philologische und philosophische Gehalt im Wirken und Werk Schmidts lässt sich mit einer ihm eigenen »Zärtlichkeit für die Dinge« beschreiben.

Eine der treffendsten Bezeichnungen für den Anspruch der Kritischen Theorie geht auf Schmidt zurück, der in Adorno einen Philosophen des realen Humanismus sah. Diese Charakterisierung trifft ebenso auf Schmidts eigenes Werk zu. Ab Anfang der 1980er Jahre äußerte sich sein realer Humanismus im Engagement für die Frankfurter Loge zur Einigkeit, in der er eine der Möglichkeiten für eine bessere Einrichtung der Welt verortete.

1989 wurde ihm die Goetheplakette der Stadt Frankfurt verliehen und 1998 das Bundesverdienstkreuz am Bande. Die Stadt Frankfurt versäumte es bis zuletzt, ihn mit dem naheliegenden Adorno-Preis zu ehren.

Alfred Schmidt starb am 28. August 2012 in Frankfurt am Main.

 

ju, sm