Bei mir ist es ja so, dass der Alkohol im Allgemeinen und der Rotwein im Speziellen Schleusen öffnet, nicht jedesmal, aber wenn dann mal die Tränen kullern, ja dann war meist auch Alkohol und häufig Wein im Spiel. Ich glaube selbstverständlich deswegen nicht, dass die Tränen besoffene Fehltritte sind, sondern – klar – Ausdruck von Dingen, denen sonst selten Platz gelassen wird, oder besser: denen ich sonst selten Platz gebe. Diese Tränen sind dann Ausdruck von Traurigkeit, von Hilflosigkeit und von Einsamkeit mit einem Gefühl, in einer Situation, wo Worte an ihre Grenzen stoßen. Vor allem sind sie wohl ein letzter, aber häufig gleichzeitig auch der erste Versuch, das nach außen zu tragen. Huch, und kaum hab ich die letzten von der Sorte in den Augen, ereilt mich auch schon ein Diskus-Gesuch zum Thema Unsichtbarkeit... Какая связь?

Wenn diese Tränen keine Konsequenzen hätten, würde ich sie nicht weinen. Ganz die zufällige Linguistin könnte ich darauf verweisen, dass jede sprachliche Handlung eine Wirkung hat (und Weinen selbstverständlich eine sprachliche Handlung ist) – wenn auch meist nicht die, die intendiert war. Heute war wohl der einzige Effekt, dass ein Sohn seinem Vater vorwerfen wird, eine zukunftsträchtige Kooperation mit deutschen Wissenschaftler_innen versaut zu haben.

Ein Zauberknopf für physische Unsichtbarkeit wäre also die bequeme Ergänzung zur politischen Unsichtbarkeit gewesen, auf die ich gerade festgelegt zu sein scheine. So kann ich aber auch darauf vertrauen, dass die Tränen als genauso harmlos eingeschätzt werden, wie sie es letztendlich waren. Und in allerletzter Instanz greifen einmal mehr die Herkunfts-Privilegien: mir, der umgarnten Deutschen wird man es schon nicht übel nehmen, ich habe Narr_innenfreiheit...

Der Tränenausbruch erfolgte nach diversen Gläsern Rotwein, hausgemachten Salzgurken, Fetakäse und anderen ortsüblichen Köstlichkeiten im Schatten eines Kirschbaums bei strahlendem Sonnenschein, zu Gast beim Vater eines Kollegen oder so – Linguist an der Militärakademie des »neutralen« Miniaturstaates, der bis vor 21 Jahren eine Sowjetrepublik war. Der Sohn hatte durch seine Anwesenheit und Hilfe Dinge möglich gemacht, von denen ich gar nicht so genau weiß, ob ich sie gewollt hätte, wenn ich die Möglichkeit in Erwägung gezogen hätte, mich zu verweigern – was ich ganz entschieden nicht habe.  »Verweigern« passt in diesem Kontext besonders gut, denn die eröffneten Möglichkeiten bestanden in Interviews mit einem Haufen ungesprächiger Rekruten und einer weiteren Handvoll etwas gesprächigerer Berufssoldat_innen an verschiedenen Orten der angedeuteten Republik. Nachdem ich all dies hinter mich gebracht hatte, lud der besagte »Türöffner« zu sich nach Hause ein, bzw. zum Vater, der ja auch Linguist sei. Der riss dann auch gleich das Gesprächszepter an sich, schon beim ersten Glas Wein – nachdem er bereits die »Deutschen« in einem fort ungefragt gelobt hatte und die Zuneigung zu ihnen beteuert worden war, die quasi Familientradition sei, kam er auf mein zweites Lieblingsthema zu sprechen: den  Unwillen »der Russen« die offizielle Staatssprache zu lernen. Mein zweifelsohne überheblicher Tonfall lässt erkennen, dass das nicht das erste Erlebnis dieser Art war. Warum also die Tränen so plötzlich hier, nach vier Monaten, just in diesem Kreis, warum nicht wie sonst auch ein unverbindliches Lächeln und eine imaginäre Notiz im Forschungstagebuch?

Ja, der Wein, der verfluchte, die Anspannung und der Frust des ewigen freundlichen Nickens in einer Interviewsituation, wo die Befragten zunächst einmal immer recht haben, weil sie tatsächlich die Expert_innen ihres Lebens sind und weil das Ziel dieser Art von Forschung ist, den Shit zu verstehen, nicht Thekenstreits zu gewinnen.

Dieses Modell ließ sich dann auch scheinbar erfolgreich ins Privatleben übertragen, wo ich mich zunächst in aller gebotenen Zurückhaltung als Beobachterin und Jasagerin inszenierte, und so viele gesellige Abende nicht nur durchstand, sondern häufig auch genoss. Und ab wann bist du nicht mehr nur die temporär Zugereiste, mit all ihren Privilegien und Borniertheiten, sondern jemand mit eigenen Erfahrungen in dieser Gesellschaft, auf denen du bestehen kannst? Wann fängst du an, wieder politische Prinzipien zu vertreten? Und was ist überhaupt diese Forschung, wenn jede Positionierung sie potentiell versaut? Wenn die Kritik immer nur auf die Analyse verschoben wird?

Wozu nun die Tränen? Ein schreiender Skandal nicht möglich, weil brüskierend. Und kein Publikum weit und breit für ein Argument, geschweige denn eine Verbündete. Contenance versaut, Widersprüche können für einen Augenblick nicht mehr nur ausgehalten werden, sondern wollen gezeigt werden, sichtbar werden auch für andere – die Unfähigkeit zu glauben, dass kein Argument ankommen kann, stirbt zu vorletzt. Tränen verlangen von vornherein nach Mitleid statt nach Gegenrede (wenn auch häufig zu Unrecht). Der verursachte Schreck verschafft auch der/dem Weinenden Raum zu sprechen, den sie sonst nicht hätte. Aber dieser Raum müsste dann mit etwas anderem gefüllt werden. 

Wenn Tränen immer eine Intention haben, weiß ich nicht, was in diesem Fall intendiert war –   irgendwie wohl sichtbar zu werden mit Protest und Unbehagen, was in Worte gefasst nicht gehört wird. Zumindest irgendwie raus musste ein: Stopp! Aber wem dieses Signal? Dem, der danach beteuerte, er hätte mich nicht verärgern wollen, aber sie hätten hier nunmal ihre Erfahrungen, mit »denen«? Oder dem gleichen, der sein Heil und die Versöhnung mit mir darin suchte, zu beteuern, mit »den Deutschen« hätte ja schon sein Vater sich so gut verstanden und seinem Opa hätte es im Krieg leidgetan auf »die Deutschen« schießen zu müssen?

Aber was tun, wenn unzählige schöne Begegnungen, die ich habe, genau deswegen stattfinden, weil ich als »Deutsche« wahrgenommen werde, Deutsche bin? Wo Leute (wohlgemerkt ohne die oben geschilderten steilen Positionen!) genau deswegen an mir Interesse haben, auf mich zugehen, weil ich eben aus der unendlich verherrlichten BRD bin? Und nicht nur das: all das sind und bleiben Privilegien. Ausufernde Beileids- und Solidaritätsbekundungen wegen des verpassten EM-Siegs einer Gruppe von Fußballern mit der gleichen Staatsbürger_innenschaft wie ich sind offensichtlich ein Luxusproblem im Vergleich mit verbalen, mimischen und physischen Übergriffen, denen sich etwa Menschen mit dunkler Hautfarbe (selbstverständlich völlig ungeachtet ihrer Kompetenzen in der Staatssprache) permanent, in jeder Sekunde in der Öffentlichkeit ausgesetzt sehen. In diesen Situationen wäre die Unsichtbarkeit glatt die Rettung und nicht nur der bequemere Modus, sich aus einer Zwickmühle zu begeben.

Und hier stehe ich mit meinen Maßstäben in puncto Antinationalismus, Antirassismus, Antisexismus, Antihomophobie und kann sie weniger denn je an mein soziales Umfeld (und mich selbst!) anlegen, weil ich die Nischen nicht finde, wo ich sie auch nur diskutieren könnte, geschweige denn, wo sie geteilt würden. Sie verschwinden am Horizont, werden mehr denn je Utopien und für den Alltag müssen pragmatischere Ansätze her, die darüber entscheiden, mit wem ich welches Bier trinke.

Die Maßstäbe funktionieren nicht, aber sie müssen irgendwie gehalten werden. Oder umgekehrt.

Wahrscheinlich ist die keineswegs neue Antwort: Forsch nur da, wo du politische Verbündete hast.  Oder: mach was ganz anderes. Aber: ja, es tut auch den Maßstäben gut, mit veränderter Perspektive betrachtet zu werden. Schlimmer ist wohl das gänzliche Fehlen eines Feedbacks zu meinem Handeln, Verbündete als Kritiker_innen – nicht der ewigen Anderen, sondern meiner selbst. Menschen, die es auf sich nehmen, mein Tun zu spiegeln, in einem wie auch immer zutreffenden Bild sichtbar zu machen und zu hinterfragen, Verzweiflungstränen trocknen zu helfen – und Selbstgerechtigkeit zu bremsen.

Всё.

 

Anişoara