Zur Netflix-Doku »The Social Dilemma«
Zur Netflix-Doku „The Social Dilemma“
Wer dieser Tage – warum auch immer – auf die Idee kommen sollte, sich ausgerechnet bei Netflix über die sogenannten »Sozialen Medien« informieren zu wollen, dem sei geraten sich anzuschnallen. You‘re in for a ride, in nichts weniger als die bedrohlichen Tiefen eines algorithmischen Schattenreiches – seht selbst – eine abstrakte Zwischenwelt, die uns, beheimatet von einer, dem Menschen längst weit überlegenen Artificial Intelligence (A.I.), jederzeit totalitär umspannen würde; die uns stets beobachten, vergläsern, verkaufen und letztlich zum Spielstein fremder Mächte verwandle – uns längst wie Marionetten kontrolliere – und dabei, fast wie nebenbei, die Gesellschaft spalte, politische Gewalttäter heranzüchte, Wahlen entscheide, die Wahrheit zerstöre, die Suizidraten junger Mädchen in die Höhe schießen lässt, und ja, es bedrohlich vibrierend offenbar auch darauf abgesehen hat, noch das letzte kleinbürgerlich-idyllische Familiendinner zu sprengen.
Obwohl »The Social Dilemma« wenig anderes macht, als diese Tropenklaviatur zu bespielen – die einzelnen Mythen in voller Blockbustermontur (mit dröhnendem Inception-Soundtrack und allem was dazugehört) zum Teil emphatisch bestätigt und damit die Angst im Publikum geradezu herausfordert – scheint in ihrem, von Widersprüchen reichlich durchsetzen Narrativ, stets auch ein Funke Wahrheit auf. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Doku mithin deshalb, weil sie die Unstimmigkeiten, um die sie kreist, nicht nur unfreiwillig offen ans Tageslicht bringt, sondern sie letztlich auch auf lehrreiche Weise, ja fast hilflos ideologisch wieder zu verkitten versucht. Während sie an jeglichem Anspruch scheitert, den man an eine Dokumentation im aufklärerischen Geiste haben sollte, ist sie darin doch auch instruktiv, geradezu sehenswert, insofern sie genau in dieser Unstimmigkeit ein hervorragendes Schaufenster in die tatsächlich bestehenden Widersprüche eines immer noch weitverbreiteten, naiv-konsumkritischen Verhältnisses zur Social-Media-Industrie eröffnet.
Plattform und Inhalt
Als altbewährtes Mittel, um den geläufigen Fetischismen aus dem Weg zu gehen bzw. sie als solche überhaupt zu erkennen, bietet sich zunächst mal ein gehöriger Schuss Materialismus an. Um den Social Media Konzernen in ihrer Selbstinszenierung nicht auf den Leim zu gehen (was die Doku zum Größten Teil tut, interviewt sie doch hauptsächlich deren vermeintlich moralisch geläuterte Aussteigerfiguren), hieße dies, sie als solche erst einmal zu durchschauen, also festzuhalten, dass sie als Konzerne grundsätzlich wenig anderes im Schilde führen als jeder x-beliebiger andere Konzern: zum Zwecke der Profitgenerierung ein Produkt bereitzustellen, für das sie Kunden brauchen. Die Chefetagen von Facebook und Co. treibt demnach, ganz unschattenreichmäßig, zunächst nichts anderes an, als dass ihr Produkt für möglichst viele Menschen attraktiv wird.
Zu beachten ist hierbei allerdings, dass jenes Produkt ein durchaus besonderes ist. Und zwar insofern es als Plattform notwendig auf den Input der Konsument_innen angewiesen ist. Das heißt, der Form nach (Interface/Funktionen/etc.) kann sie so attraktiv gestaltet sein, wie sie will, zuletzt hängt der Erfolg eine Plattform davon ab, dass die User auch wirklich ihre Zeit in sie investieren, sie tatsächlich mit Inhalt füllen. Wollen sie nicht wie Google+ enden, ergibt sich für die Konzerne in dieser Hinsicht ein zentraler Imperativ: Es gilt Screentime zu generieren – die Kund_innen am Band zu halten.
Wie die entsprechenden Einbindungsbemühen aussehen, kann die Doku mit ihrer Entourage von Aussteigern durchaus eingängig beleuchten. Etwa, als von einem bestimmten Grenzwert gesprochen wird, der erreicht werden muss, damit der Ball der Kundenbindung überhaupt ins Rollen kommt. User bräuchten demnach eine bestimmte Anzahl von Freund_innen in ihren Listen, damit mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass sie dabeibleiben. Aber auch in dieser Hinsicht ist wieder eine Besonderheit festzuhalten. Ihr Produkt geben sie schließlich nicht einfach zum Konsum ab, woraufhin sie dann nachträglich und mühsam nach Kund_innenmeinungen, Marktlagen und Marketingpotenzialen forschen müssten, um besser und mehr davon verkaufen zu können. Da das Produkt qua Form stets und direkt an die Kundschaft angebunden bleibt, fungiert es hingegen immer zugleich schon als ein hochgradig präzises Instrument der eigenen Marktforschung. Das Endgerät erfüllt mithin die Funktion eines Fragebogens, mit dem die User per Klick, stetig und in Echtzeit zurückmelden, was ihre Screentime verlängert und was nicht.
Die Wiederkehr des Behaviorismus
Was dieser Fragebogen leisten kann, ist allerdings nicht viel mehr als eine akkumulative Aufzeichnung des individuellen Antwortverhaltens gegenüber bestimmten, von der Plattform bereitgestellten, Reizen. Der Dokumentation scheint diese Feststellung jedoch viel zu trocken. Wir bekommen deshalb ein Team von Schauspielern vorgesetzt, die im Inneren des Endgeräts wie Bondbösewichte in ihrem Miniaturhauptquartier hocken, um den Benutzer abzuhören, Hebel zu ziehen, Werbung zu schalten etc. (über die Regieentscheidung, dem Publikum die Thematik mit einer fiktionalen Familiengeschichte näher zu bringen, die sich eingewoben zwischen die Interviewsequenzen entfaltet, lässt sich hier gerne und gut schweigen). Methodologisch ausgedrückt ist das Prinzip, dem die Plattform unterworfen ist, dabei ein behavioristisches. Das heißt, ihre Marktforschung operiert allein auf der dünnen Basis empirisch beobachtbaren und d.h.: positiven Verhaltens. Das Endgerät bringt mithin für den Konzern nichts darüber in Erfahrung, wie es im Innenleben des Benutzers aussieht. Das kann es schlicht nicht leisten. Es versteht schließlich nicht die Bedürfnisse des Kunden, so wie es der anthropomorphisierte Algorithmus der Dokumentation suggeriert. Die A.I. sammelt kein Wissen über Intentionen, Gedanken oder Gefühle der User, da sich all das notwendig – und konträr zum Gerede vom gläsernen Menschen – hinter den epistemischen Zugriffsmöglichkeiten einer automatisierten Registriermaschine abspielt. Sie trifft ihre autonomen Entscheidungen letztlich unter Ausschluss alles Menschlichen. Was die Maschine kann, ist lediglich in einem konstanten Trial/Error-Verfahren festzuhalten, welche Output-Reaktionen eines bestimmten Benutzers, im Durchschnitt auf welche Input-Reize erwartbar sind: Wo und wann es, empirisch nachweisbar, klickt. Nicht mehr und nicht weniger. Dem Konzern reicht es hier aber auch schon vollkommen aus, den Speichelfluss nach dem Klingelgeräusch notieren zu können, um die Plattform für die einzelnen Nutzer so optimieren zu können, dass sich erwartbar der Output an Screentime steigert. Als Benutzer, so heißt es diesbezüglich treffend in der Doku, ist das Individuum hier lediglich als »Laborratte« von Interesse.
Dass der Apparat dabei im Bannkreis behavioristischer Prinzipien verbleiben muss, macht es umso erstaunlicher, wie präzise und erfolgreich er letztlich zu funktionieren scheint. Nur sollte uns das eigentlich auch nicht wundern, liegt darin doch das primäre, letztlich einzige Ziel des Konzerns. So banal die verschiedenen Tricks, die uns die Dokumentation in diesem Zusammenhang vorführt, dann auch erscheinen mögen, spätestens wenn wir uns die dahinterstehenden Stockwerke voller Elite-Uni-Alumni vor Augen führen, die Tag für Tag an nichts anderem herumlaborieren, als an der marketingpsychologischen Frage, wie und wo sie den Ottonormaluser möglichst effektiv dort abholen können wo er steht – spätestens dann, mag das Dröhnen des Soundtracks beinahe schon angebracht erscheinen.
Was viele mitunter für absolute Selbstverständlichkeiten der Form halten, entschleiert die Dokumentation dann auch als einfaches Manipulationsverfahren. Nehmen wir das Konzept Notifications. Im Rückblick auf die Kinderschuhe Facebooks stellen sich hier so einfache wie einschlägige Fragen, wie die, warum der User, wenn er oder sie in einem Foto markiert wurde, per Mail zunächst nur einen Hinweis darauf bekommt – einen Link zum Bild. Die Frage ist natürlich: Warum nicht direkt das Bild? Die fast schon zu naheliegende Antwort ist natürlich: Screentime. Wer würde hier nicht den Link anklicken? Ein anderes vermeintliches Formgesetz, auf das eingegangen wird, ist das »Infinite Scrolling«. So einfach der Trick ist: Wenn die Timeline nicht endet, scrollt man weiter. Wird es langweilig, oder ist die App durchgespielt und alles gesehen, zieht man unwillkürlich am oberen Bildschirmrand – wie an einem einarmigen Banditen – und die Synapsen feuern wieder. Fast überrascht findet man sich dann auch angesichts der eigentlich überhaupt nicht überraschenden Feststellung, dass auf die Millisekunde genau festgehalten wird, wie sich unsere Augen gegenüber der Plattform verhalten. Worauf konzentriert sich unsere Aufmerksamkeit? Was schauen wir unwillkürlich zuerst an? Wie lange? Auch wenn hier keiner der Sensoren uns wirklich hinter die Stirn schauen kann, wäre es schon bemerkenswert, angesichts der Einsicht in den ständigen analytischen Blick, mit dem uns die Maschine konfrontiert, nicht einer Art Sartre’schen Scham zu verfallen: Sich unangenehm ertappt und objektiviert zu fühlen, darüber, in den Augen des Konzern, wirklich nicht mehr als eine Laborratte zu sein.
Die Timeline als Fließband
Social-Media-Plattformen erweisen sich mithin nicht nur als besondere Produkttypen, sie wären in Anlehnung an Niklas Luhmann zugleich als autopoietische Systeme zu beschreiben. Das heißt zunächst, ihre konstitutive Logik, der sie folgen müssen um erfolgreich zu bleiben, zu wachsen und sich zu erhalten, lässt sich auf einen einfachen, binären Code herunterbrechen: Was muss der systemperipheren Umwelt kommuniziert werden, welche Input-Reize müssen an das Publikum vermittelt werden, um als Rückmeldung Screentime zu verlängern? Was verringert sie? In diesem Schematismus, der darin besteht, automatisiert entweder eins oder null zu ermitteln und dementsprechend zu kommunizieren, liegt das eigentlich recht banale Wesen des sagenumwobenen Schattenreichs. Insofern das Endgerät hierbei allerdings eine direkte Rückkopplung des Publikumsverhaltens in den Schaltkreis des Systems leistet, ist diesem automatisierten Anpassungsprozess nicht nur eine schlicht unüberschaubare Menge an empirischen Rückhalt gegeben, die die Social-Media-Systeme unvergleichlich resilient und stabil macht. Insofern die Plattformen hierbei, gewissermaßen aus sich selbst heraus, Unmengen an quasi-marktwissenschaftlichen Materials über ihre Kundschaft ansammeltn sind sie den serverbesitzenden Konzernen zudem wahre Gelddruckmaschinen – zumindest sobald sie ins Rollen kommen. Denn der algorithmisch-autonom gesteuerte Prozess ihrer Selbsterhaltung generiert zugleich immer auch ein verwertbares, ja man könnte sagen, Abfallprodukt – und das ohne große Beteiligung einer konzerneigenen Belegschaft.
Die Dokumentation selbst bemüht hier zuweilen die Bauernschläue, dass der User, der nicht merkt, womit er bei seinem vermeintlichen Gratiserlebnis auf der Plattform bezahlt, eigentlich das wahre Produkt sei: Dass der User selbst als Ware verkauft werde. Das ist allerdings in mehrer Hinsicht nicht ganz richtig. Denn dabei wird unterstellt, hier werde schlicht etwas weiterverkauft, das bereits mit dem Anlegen eines Accounts unmittelbar gegeben wäre. Da aber das kontinuierliche Reagieren und Interagieren der User erst ihr behavioristisches Profil mit empirischem Material füttert, muss es viel eher als das sekundäre Produkt eines unbewusst an ihrem eigenen Endgerät arbeitenden Individuums verstanden werden (wollen wir diesen Begriff hier so weit dehnen). Deutlich wird zumindest wieder die merkwürdige Doppelrolle des Users: Er ist dem Konzern gegenüber nicht nur Kaufkraft, nicht nur User, sondern gleichzeitig auch dessen entscheidende Produktivkraft – der Dienstleister, der die Plattformen am Laufen hält.
Aber auch das Abfallprodukt, das aus dieser Arbeit am System hervorgeht, ist nicht einfach nur als ein datenförmiges Profil zu beschreiben – denn nie geht es den Konzernen bloß um ein schlichtes Abbild des Users. Dafür allein würde sich schließlich auch kein dritter Käufer interessieren. Von Wert sind hingegen ausschließlich die Schlüsse, die sich aus den Datensätzen verlässlich ziehen lassen. Genauer, und darauf weist die Doku auch hin, ist das abstrakte Produkt, das unfreiwillig von den Usern hergestellt und von den Social-Media-Konzernen abgeschöpft und weiterverwertet wird, nichts anderes als ihr erwartbares zukünftiges Verhalten. Bereits mit dem Blick auf die Aufrechterhaltung von Screentime, also im Sinne der eigenen Selbsterhaltung des Social-Media-Systems, ist das deutlich der Fall. Denn hier übernimmt der User, oder viel eher dessen unwillkürliches Antwortverhalten, bereits die Funktion seiner ihm eigenen, ganz persönlich zugeschnittenen Marketingabteilung. Er erarbeitet gewissermaßen als Sales Executive seiner selbst, was sonst das Unternehmen mühevoll hätten ermitteln müssen: Ein Kundenprofil, an dem sich ablesen lässt, welcher Reizinput die Loyalität zur Marke langfristig sicherstellt.
Wenn man so will, verkaufen die Plattformen deshalb auch keine Sammlungen persönlicher Daten, keine bloßen Abziehbilder von Individuen, sondern viel eher behavioristisch ermittelte Orakelsprüche über diese – oder aus der Perspektive der Käufer: Empirisch belegte Sicherheiten. Diese ökonomisch unermesslich wertvolle Ware, ist im Grunde nichts anderes als ein vermeintlich verlässlicher, positivistisch-konstruierter Wink darüber, dass bestimmte User mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auf bestimmte Reize mit einem bestimmten positiven oder negativen Antwortverhalten reagieren werden. Sei es auch nur der zwei-sekündige Blick auf den gezielt geschalteten Werbeclip: Was hier verkauft wird, ist eigentlich eine Hypothese über die projektive Zukunft des Users. Das heißt aber auch – und das versäumt die Doku insgesamt festzustellen – Samt allen Schwächen denen Prophezeiungen üblicherweise unterliegen.
Doom and Gloom
Die Einsicht, dass die Rolle des Individuums in der Umwelt eines kapitalistischen Konzernsystems ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Verwertbarkeit bestimmt wird – dass wir zunächst und zumeist Kunden oder Humankapital sind, deren Zeit instrumentell betrachtet Wert für Konzerne bedeutet – lässt sich schwerlich als Neuigkeit verkaufen. Bemerkenswert ist dennoch, dass das Individuum nicht wie üblich entweder als Kaufkraft oder als auszubeutende Produktivkraft betrachtet wird, sondern, dass diese Rollen am Rande des Social-Media-Systems immer schon ineinander fallen – und dass der Konzern darauf angewiesen ist, um seinen Profit zu generieren. Ob dieses Geschäftsmodell allerdings so gruselige Konsequenzen nach sich ziehen muss, wie es die Dokumentation suggeriert, ist mindestens fraglich.
Im Diagnose-Teil der Dokumentation bekommen wir diesbezüglich fast durchweg eine ordentliche Dosis Doom und Gloom verabreicht. Von »existential threat«, »chaos« und potentiellem »civil war« ist die Rede. Die Lage »scares me to death«, sagt gar einer der Aussteiger. Ein Matrixvergleich fällt. Facebook und Co. »are destroying civilisation«, usw. Es wäre mühselig wiederzugeben, was den Plattformen implizit und explizit alles zugetraut wird. Es fällt allerdings auf, dass die Angst, die geschürt wird, durchweg von einer bestimmten, unreflektierten Prämisse abzuhängen scheint – und zwar der, dass die Benutzer auch genau jene hilflosen Mängelwesen sein würden, die die Konzerne für ihren reibungslosen Systemerhalt benötigen.
Der Wert, den unsere Beteiligung an den Plattformen für die Social-Media-Konzerne hat (und für alle Dritte, die an unserer Zukunft interessiert sind), stellt sich schließlich allein dadurch her, dass unsere Zukunft in der Tat so einfach berechenbar ist, wie es die behavioristischen Orakelsprüche unterstellen. Screentime oder Aufmerksamkeit wird mithin auch nur dann effektiv generiert werden können, wenn die Input-Reize tatsächlich und verlässlich das im Einzelnen erwünschte Antwortverhalten hervorrufen können. So banal das zunächst klingen mag: Diese als sicher verkaufte Vorhersehbarkeit, die das Geschäftsmodel von Social-Media-Plattformen im Kern ausmacht, setzt stets schon die Annahme eines größtenteils vorhersehbaren Individuums voraus. Nehmen wir beispielsweise das Schreckgespenst der Wahlmanipulation: Stellen wir uns vor, es wird berichtet, dass Massen von US-amerikanischen Wähler_innen, wie im Reflex einen gezielt geschalteten Clip über Kinderbluttrinkende Kabale im Umfeld der Demokratischen Partei angeklickt und blind weiterverbreitet haben, sodass statistisch wahrscheinlich davon ausgegangen werden kann, dass sie letztlich keinen Demokraten wählen. Was wäre dann die Lehre, die wir daraus ziehen sollten? Richtet sich hier der Blick, wie es die Doku vorlegt, alleine auf die Plattformen und ihr Geschäftsmodell, droht eine doch viel entscheidendere Einsicht hier gänzlich übersehen zu werden: Die Tatsache nämlich, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der eine signifikante Menge von Menschen für solche Wahnvorstellungen bereits so offensichtlich ansprechbar und anfällig ist, dass behavioristisch generierte Prophezeiungen als sichere Vorhersagen gelten können.
Allgemeiner formuliert: Damit das Geschäftsmodell der Social-Media-Konzerne wirklich so desaströse Folgen haben kann, wie es die Doku suggeriert, muss bereits akzeptiert worden sein, dass der gewöhnliche User in der Tat, völlig durchschaubar für den Blick eines etwas komplexeren Taschenrechners, ein passiv und berechenbar in Regelmäßigkeiten reagierende Laborratte ist – ein Pawlow’scher User. Freilich ist das nicht unbedingt eine so absurde Annahme, wie es zunächst erscheinen mag. Das Problem der Dokumentation ist hier viel eher, dass sie diesen Zustand, in dem das Individuum für den Konzern optimal verwertbar wäre, geradeheraus als eine selbstverständliche Gegebenheit naturalisiert (und hier nicht einmal zwischen der Mündigkeit von Kindern und Erwachsenen explizit unterscheidet). Dass wir konstant von Vibrationen und bunten Lichtern manipuliert werden können – dass wir uns hilflos jedem noch so absurden skandalösen Narrativ ausgeliefert finden, wird es uns nur günstig in die Timeline gespült – sei demnach schlicht eine menschliche Schwäche, die von den Plattformen schamlos ausgenutzt würde – und nicht etwa das Produkt einer Gesellschaftsform, die uns, zum Zwecke ihrer Reproduktion, in genau diesem unmündigen Zustand bedarf.
Wäre das Individuum, sehen wir mal von dieser Naturalisierung ab, also lediglich im historischen Moment betrachtet – und das heißt: gattungsmäßig selbstverschuldet – wirklich auf den von der Dokumentation unterstellten Status von Lurchen regrediert (wie Adorno und Horkheimer es prominent ausgesprochen haben), dann meinetwegen: Cue the Soundtack. Allerdings dann bitte nicht mehr zu einer Dokumentation, die ihren Unterhaltungswert allein davon bezieht, dass Social-Media-Plattformen als Keimzellen allen Übels dargestellt werden. So ist es auch gerade diese, völlig unreflektierte Überhöhung, in der wohl die gravierendste Schwäche der Dokumentation liegt: Fast gänzlich versäumt sie die einschlägigen Social-Media-Plattformen in einem gesellschaftlich-geschichtlichen Gesamtzusammenhang zu situieren. Ausschließlich geht es hingegen darum, wie sie von oben herab auf die Gesellschaft einwirken würden, so als seien sie kein Teil von ihr; nie hingegen darum, inwiefern sie selbst bloß Katalysatoren des Bestehenden oder eines ihrer Symptome darstellen könnten.
Schmerzlich offensichtlich wird dieses Versäumnis an einer Stelle, an der die Doku einen dramatischen Zusammenhang zwischen Suizidraten unter jungen Mädchen und dem Aufstieg von Social-Media-Plattformen behauptet. Das niemandem im Produktionsteam dabei aufgegangen ist, dass hier nicht allein das Medium, die Form, zu problematisieren wäre, sondern viel eher deren Inhalt, also das, was auf der Plattform vermittelt wird: Und zwar eine ganz und gar vor-digitale, patriarchale Normalität, in der weiblich gelesenen Menschen endlos mit absurden Körperidealen bombardiert werden – das erschreckt dann, ob der Ignoranz die involviert sein musste, schon ein bisschen. Bezüglich des Zusammenhangs von Social Media und Wirtschaftssystem brechen sich hingegen wenigstens ein paar ahnungsvolle Andeutungen Bahn: So ist die Rede von bestimmenden »financial incentives« und von Zwängen »revenue« zu generieren, »profit at all cost« wird sogar, wenn auch nur beiläufig, als Problem benannt. Allerdings fällt auch dieser Bezug spätestens dann in sich zusammen, wenn es letztlich doch wieder heißt: »it’s just the businessmodel«. Irgendwie scheint schon der Kapitalismus involviert zu sein, aber dieses Wort will die Doku offenbar nicht ausgesprochen hören.
Kein höheres Wesen
Insofern offenbar nicht erkannt wird, dass der dramatische Fluchtpunkt des eigenen Narrativs (zerfallende Zivilisation, Bürgerkrieg, etc.) tiefere Wurzeln haben muss, als die Silicon-Valley-Softwarebranche – oder gar das Businessmodel einzelner ihrer Konzerne –, gilt es bereits von vorneherein gegenüber den, von der Dokumentation eingeschagenen, Lösungsperspektiven skeptisch zu sein. Schafft man es bis zu diesem Punkt der Dokumentation, ist es dennoch erstaunlich, wie weit sie sogar trotz dieses Vorbehaltes noch hinter den vorsichtigsten aller Erwartungen zurückbleibt. Man glaubt zuweilen man säße wieder vor einem Fernseher und der Sender hätte unbemerkt gewechselt, so offensichtlich inkohärent erscheinen die vermeintlichen Lösungen, die dem Zuschauer, angesichts der zuvor breit und genüsslich ausgetretenen Horrorszenarien, zuletzt aufgetischt werden.
Besonders offensichtlich wird der Widerspruch in der Engführung auf Strategien und Protagonisten, die sich das Produktionsteam und die Interviewten als letzte Rettung vorzustellen scheinen. Ex negativo bekommen wir so im begleitenden Kurzfilm (jetzt müssen wir leider doch darauf zu sprechen kommen) suggeriert, was akzeptable Vorgehensweisen und was absolute No-Goes wären. So folgen wir darin einem Jugendlichen, der sich süchtig nach Social Media in einer Abwärtsspirale verfängt und sich zuletzt im Internet – Achtung – radikalisiert. Der Kulminationspunkt der Dokumentation, also nichts geringeres als der dramatische Höhepunkt, die finale Klimax, der Punkt an dem das Publikum endgültig die Gefahr von Social Media ins Gehirn gehämmert bekommen soll, ist dann zuletzt, dass der Jugendliche auf eine Demonstration geht, auf der er dann verhaftet wird.
Eine Plotline, die sich fast noch unter »gut gemeint« einsortieren ließe, würde hier wenigstens thematisiert werden, wohin sich Jugendliche denn gegenwärtig allerorts radikalisieren. Denn hier liegt selbstverständlich eine reale Gefahr vor, die sich in den letzten Jahren wieder und wieder in zum Teil live ins Internet gestreamten, rechtsterroristischen Anschlägen manifestiert hat. Diesbezüglich deutet sich sogar an, dass das Problem bewaffneter, im Internet radikalisierter Attentäter bei der Produktion der Dokumentation auf dem Tisch lag – so sehen wir etwa, wie der Jugendliche, von den Bondbösewichten in seinem Smartphone Werbung für Schusswaffen geschaltet bekommt, nachdem er sich stundenlag irre YouTube-Influencer angeschaut hat. Dem Produktionsteam scheint in dieser Sache dann jedoch kollektiv ein ziemlich schwerwiegendes Neutralitätsgebot auf den Schädel gefallen zu sein. Denn es scheint so, als hätten sie versucht, die politische Bewegung, zu der sich der Jugendliche in der fiktionalen Begleitgeschichte hinradikalisiert und auf deren Demo er geht, inhaltlich völlig unbestimmt darzustellen. Wer könnte schließlich gegenwärtig auch schon sagen, im Namen welcher gewaltverherrlichenden Weltanschauung, welchen eliminatorischen Wahns und welcher Bürgerkrieg schürenden Milizstrukturen junge Männer heute im Internet das bewaffnete Märtyrertum für sich entdecken,
Man wünscht sich beinahe die Klappe, die hier offenbar mehrere Fliegen zugleich treffen wollte, hätte auch den Regisseur nicht verschont. Dass, und vor allem wie, die Doku dann aber auch noch an diesem völlig verqueren Versuch von politischer Neutralität und Ausgewogenheit scheitert, muss einen wirklich sprachlos zurücklassen. Denn so unbestimmt die Darstellungen auch scheinbar gedacht waren (damit der gute Bürger nicht mit Parteilichkeit überfordert wird), das einzige erkennbare Logo, das in Verbindung mit den gefährlichen bewaffneten Radikalen auf der Demo mehrfach plakativ ins Bild gestreamt wird (in der Internetwerbung, auf Fahnen, etc), ist eine graphisch nur leicht abgeänderte Black Lives Matter (BLM) Faust. Spätestens wenn dann im selben Bild, direkt nebeneinander, Demos von Neonazis und BLM-Proteste abgespielt werden, um die sogenannte Spaltung unserer Gesellschaft visuell zu kommentieren, sollten sich eigentlich alle weiteren Fragen erübrigen, worin die Doku die wirklich wichtigen Probleme unserer Zeit sieht, wer alles von ihr in diesen Problemtopf hineingeworfen wird und wer letztlich als Lösung übrigbleibt.
Schon rein immanent betrachtet ist es allerdings wahrlich haarsträubend, dass sie es scheinbar mit sich selbst vereinbaren kann, einerseits konstant durch und durch apokalyptische Bilder an die Wand zu malen – in der schließlich nichts weniger als ein Konglomerat von Riesenkonzernen, mit übermenschlicher Rechenkraft bewaffnet einen schier unermesslichen Einfluss auf die Weltbevölkerung erlangt hätte, die sogar ihre eigenen Aussteiger in Todesangst versetze, und die Zivilisation gradewegs auf ihren Zerfall hinzubewege – um dann andererseits abstrakt und scheinbar unbehelligt von jeglichem politischen Differenzierungswillen, Radikalität überhaupt abzulehnen. Wäre hier, wirklich nur dem eigenen Narrativ nach zu urteilen, aber nicht mindestens ein kleiner, recht spezifischer Funke von Radikalität sogar völlig angebracht? Sollten wir wirklich in der Matrix leben, wäre es dann nicht völlig verständlich etwas grundlegend ändern zu wollen und sich dafür politisch einzusetzen? Insofern diesbezüglich jedoch nicht inhaltlich unterschieden wird und proto-faschistische Pseudo-Vigilanten mit aufklärerischen Emanzipationsbewegungen in einen Topf geworfen werden, muss auch noch der kleinste, organsierte, politische Widerspruchsakt auf den Segensspruch der Dokumentation verzichten. Von ihr haben wir schließlich gelernt: Ist das Kind zu viel im Internet, droht es auf einer Demo zu landen. Und wer könnte das schon wollen.
Anstelle einer Auseinandersetzung, die wirklich an die Wurzeln des Problems heranreichen würde – die also den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, in dem Social-Media-Plattformen stehen, nicht ignoriert und damit auch eine gewisse Radikalität erfordern würde – plädiert die Dokumentation lediglich, zuletzt ganz rührselig und handzahm geworden, an das Gewissen und an die Besonnenheit aller Beteiligten. Die Naivität ist beinahe erschlagend. Der Konzern sei ja dann doch auch nur von Menschen geführt, die Algorithmen wurden schließlich von jemandem programmiert. Da wäre es doch möglich, wenn diese ihr Produkt in Zukunft einfach ein bisschen gewissenhafter, ein bisschen menschlicher gestalten würden, oder? Klar, das dauert natürlich vielleicht ein bisschen und so wirklich einbringen in die entscheidenden Chefetagen kann sich der einzelne User hier nicht – aber die Doku zeigt dem Zuschauer ja bereits, dass es auch in der Tech-Branche noch die Guten gibt. Leute die sich wirklich Gedanken machen, um das Wohlergehen und die Harmonie in unserer Gesellschaft: Also Don’t worry, das wird schon! Und sollte jemand dennoch ungeduldig werden angesichts des langen Schattens, den Facebook und Co. der eigenen Panikmache zufolge, auf die Weltgeschichte werfen: Keine Sorge, auch dafür hat die Doku gesorgt. Zum Ende des Films gibt es nämlich ein paar Tipps und Tricks, mit denen die Kundschaft, ganz abseits von politischen Unannehmlichkeiten, ja sogar direkt vom eigenen Sofa aus, ihr gottgegebenes Recht als Königinnen und Könige des Schattenreichs zurückerobern können. Denn jetzt, wo die Dokumentation uns endlich alle aufgerüttelt hat (dazu bitte übrigens an alle Freunde weiterverlinken!), können wir schließlich alle endlich auch wirklich verantwortliche Kundenentscheidungen treffen, wie z.B. die Notifications auszustellen, oder am besten, das eigene Profil komplett zu löschen! Denn – und so scheint auch die einzig mögliche Lösung zu lauten, die »The Social Dilemma« am Ende anbieten kann – wenn keiner mehr auf Social Media wäre, hätten wir schließlich nichts mehr zu befürchten, richtig? Einfach die kleinen Rattenpfoten von der Maschine lassen.
Tobias Wallmeyer