Ein Interview mit Ivan Ivanov über die Arbeitsbedingungen von Wanderarbeitern in der Bauwirtschaft – vor und während Corona

Ivan Ivanov ist gebürtiger Bulgare und hat in Bremen Politikwissenschaft und Sozialpolitik studiert. Seit 2015 arbeitet er für das Projekt Faire Mobilität Hessen beim Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen und berät muttersprachlich osteuropäische Arbeiter in der Bauwirtschaft.

diskus: In der Fleischindustrie erkranken bei Firmen wie Westfleisch hunderte Arbeiter:innen aufgrund desolater hygienischer Bedingungen an Corona, bei Spargel Ritter in Bornheim protestieren aktuell Erntehelfer:innen aufgrund der furchtbaren Arbeitsbedingungen und ausbleibender Lohnzahlungen. Zahlreiche Branchen in Deutschland setzen auf günstige Arbeitskräfte aus Osteuropa, die über Subunternehmen angestellt werden - und die Corona-Pandemie macht ihre Verletzlichkeit besonders deutlich. Das Projekt Faire Mobilität Hessen berät Wanderarbeiter:innen, die vor allem aus Zentral-/Osteuropa kommen, muttersprachlich zu arbeits- und sozialrechtlichen Themen. Was ist Euer Tagesgeschäft?

Die Arbeitnehmer:innen arbeiten häufig in atypischen Beschäftigungsverhältnissen im Niedriglohnbereich – das heißt, keine Vollzeitstelle, keine geregelten Arbeitszeiten, keine Anstellung direkt beim Betrieb sondern über Subunternehmer als Werkvertragsbeschäftigte. Häufig ist es so, dass die Wanderarbeiter:innen sich mit den Regelungen in Deutschland nicht gut auskennen. Sie haben viel Informations- und Beratungsbedarf und bekommen bei uns dann muttersprachliche Hilfestellungen. Mit Wanderarbeiter meinen wir vor allem Arbeitskräfte aus Zentral-/Osteuropa, die eine kurz- bis mittelfristige Bleibeperspektive in Deutschland haben. Das heißt, sie kommen zum Arbeiten her, aber mit der Intention irgendwann zurückzugehen.

diskus: Du arbeitest viel mit Wanderarbeitern in der Bauwirtschaft. Warum ist gerade die Bauwirtschaft so stark von migrantischer Arbeit bzw. Wanderarbeit geprägt?

Die Tätigkeit aus Baustellen ist schwerste körperliche Tätigkeit. Der jeweilige Mindestlohn in der Bauwirtschaft liegt zwar auch etwas höher als der gesetzliche Mindestlohn. Trotzdem sind es vor allem migrantische Arbeitskräfte, die bereit sind, diese schwere Arbeit für die entsprechende Entlohnung zu machen.

diskus: Kannst Du uns genauer erklären, wie wir uns diese »atypischen Beschäftigungsformen« auf den Baustellen vorstellen können?

Wir haben häufig auf Baustellen folgende Situation: Es gibt Generalunternehmer, meist namhafte deutsche Unternehmer, die für die Baustelle verantwortlich sind. Aber die eigentlichen Beschäftigten, die am Ende das Projekt bauen, sind meistens nicht bei diesen großen Unternehmen beschäftigt, sondern sie lagern diese Tätigkeiten an Subunternehmer aus.

diskus: Und wie kommen die Wanderarbeiter aus ihren Herkunftsländern nach Deutschland auf die Baustelle?

Oft ist es so, dass die Beschäftigten direkt im Herkunftsland von den Subunternehmern rekrutiert werden. Häufig finden wir in den sozialen Netzwerken, zum Beispiel in Bulgarien, Anzeigen die geschaltet werden mit »Hey, wir suchen noch Bauarbeiter in Deutschland«. Es gibt aber auch informelle Vermittler, so will ich es mal nennen, auf die Unternehmen zurückgreifen – Personen, von denen sie wissen, die haben gute Netzwerke in den jeweiligen Communities. Länder wie Bulgarien und Rumänien entwickeln sich zwar wirtschaftlich, trotzdem leben dort viele Menschen in sehr prekären wirtschaftlichen Verhältnissen. Die Perspektive auf deutschen Baustellen zu arbeiten, klingt da sehr vielversprechend.

diskus: Wie viel Geld können die Arbeiter:innen dann in Deutschland verdienen? Wird auch wirklich der Mindestlohn bezahlt?

Wir haben in der Bauwirtschaft eigentlich zwei Mindestlöhne. Einen Mindestlohn für Helfertätigkeiten – der liegt ungefähr bei 12 Euro – und einen für die anderen Tätigkeiten, der bei ca. 15 Euro liegt. Die Arbeitskräfte, die nach Deutschland kommen, übernehmen eigentlich wichtige Aufgaben. Trotzdem werden sie meistens als Helfer eingestuft und vergütet –wenn überhaupt. Wir haben natürlich auch Fälle und Personen, die teilweise weniger bekommen als diese 12 Euro.

diskus: Wie sieht der Arbeitsalltag der Arbeiter:innen in Deutschland dann aus?

Normalerweise sind sie acht bis zehn Stunden am Tag auf der Arbeit, dann kommen sie in die Unterkunft und halten sich vor allem dort auf. Gerade bei Bauarbeitern ist es so, dass vor allem die Männer hierherkommen und die Familie bleibt häufig im Herkunftsland. Der Mann hat die Aufgabe, hier so viel wie möglich zu arbeiten, um mehr Geld mit nach Hause zu bringen. Und ich sag mal so: Die sozialen Kontakte sind hier außerhalb der Arbeit sowie den Mitbewohnern in der Unterkunft sehr eingeschränkt.

diskus: Wie sehen diese Unterkünfte so aus, in denen die Bauarbeiter ihre freie Zeit verbringen?

In der Regel sehen die Unterkünfte schlecht aus. Wir haben auch hier in Frankfurt eine sehr große Unterkunft, die wir hin und wieder besuchen, um mit den Beschäftigten zu reden. Sowohl hygienisch und von der Privatsphäre her gesehen, sind das Verhältnisse, die man nicht gut heißen kann. Das sind Zimmer von geschätzt 25 m² Größe. Dort schlafen dann vier bis sechs Personen, teilweise sogar acht. Pro Etage sind gibt es vier solcher Zimmer und die teilen sich eine Dusche und Toilette sowie Gemeinschaftsräume – also teilweise 32 Personen für eine Dusche. Die Küche ist nicht besonders gut ausgestattet und die Sanitäranlagen sind in einem schlechten hygienischen Zustand. Und es ist nicht so, dass die Mieten sich dem hygienischen Zustand der Wohnung anpassen – die Zimmer bzw. das Bett sind vielmehr richtig teuer.

diskus: Wer bietet diese Unterkünfte an? Werden sie vom Arbeitgeber gestellt?

In der Regel ist es so, dass die Wanderarbeiter hauptsächlich ihre Unterkünfte über ihre Arbeitgeber beziehen. Das hängt auch damit zusammen, dass sie, gerade in Ballungsgebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt, nur schwer am herkömmlichen Wohnungsmarkt eine Wohnung findet. Viele Arbeitskräfte nehmen daher lieber Beschäftigungsverhältnisse an, bei denen der Arbeitgeber auch eine Wohnung stellt. Das hat natürlich einen großen Nachteil: Sie machen sich umso abhängiger von ihm. Viele Betreiber der großen Arbeiterunterkünfte vermieten aber auch privat und verlangen nicht die üblichen Nachweise. Einige Wanderarbeitskräfte greifen auch auf diese Zimmer zurück.

diskus: Unterscheidet sich die Situation der Roma aus Osteuropa von der Situation der anderen Beschäftigten in der Bauwirtschaft?

Meine persönliche Meinung ist, dass man durchaus Unterschiede feststellen kann. Es gibt ja auch noch einen Tagelöhnermarkt, gerade in der Bauwirtschaft. Sprich, Arbeitskräfte, die nur für den Tag abgeholt werden. Tagelöhner arbeiten häufiger undokumentiert, häufig unter Missachtung jeglicher Hygiene-, Arbeits- und Gesundheitsschutzvorschriften. Die kommen natürlich auch in unsere Beratungsstelle. Wir fragen dann natürlich nicht nach, welchen ethnischen Hintergrund die Arbeiter haben. Meine Einschätzung wäre aber, dass überdurchschnittlich viele Roma – oder Angehörige anderer Minderheiten – ihre Arbeitskraft auf dem Tagelöhnermarkt anbieten.

diskus: Hättest Du eine These, warum das so ist?

Viele Roma und Angehörige anderer Minderheiten werden in ihren Herkunftsländern ausgegrenzt und diskriminiert. Sie sind in diesen Ländern vom Arbeitsmarkt, dem Wohnungsmarkt und dem Bildungssystem ausgeschlossen. Aus diesem Grund haben sich viele ja auch erst auf den Weg gemacht und sind nach Deutschland gekommen. Aufgrund der strukturellen Defizite, die sie quasi mitnehmen, haben sie dann auch hier umso mehr Schwierigkeiten Anschluss zu finden. Und dann haben sie keine andere Möglichkeit, als auf dem Tagelöhnermarkt ihre Arbeitskraft anzubieten.

diskus: Würdest Du sagen, dass Rassismus gegen Wanderarbeiter in Deutschland grundsätzlich ein Problem ist?

Viele konkrete Probleme außerhalb der Arbeitstätigkeit der Wanderarbeiter, als gesamte Gruppe, resultieren vor allem aus institutioneller Diskriminierung. Bei vielen Sachverhalten wird auf institutioneller Ebene mit ihnen einfach anders umgegangen als mit den sonstigen Beschäftigten. Beispielsweise beim Anspruch auf soziale Absicherung oder Kindergeld sind die Auflagen höher als für deutsche Beschäftigte.

Konkreten Rassismus bekommen wir auch mit, aber das sind eher Einzelerscheinungen. Es gibt keine konkrete Feindseligkeit in der deutschen Bevölkerung, die sich gegen Wanderarbeiter:innen aus Osteuropa richtet. Was es durchaus gibt, sind Konflikte, wenn es einen verstärkten Zuzug von migrantischen Arbeitskräften in gewissen Viertel gibt, zum Beispiel Duisburg-Marxloh, auch in Hessen haben wir einige Kommunen. Bei Bulgaren und bei Rumänen spielt sich normalerweise viel Sozialleben im öffentlichen Raum ab. Man geht sehr gerne nach draußen, trifft sich mit Leuten, man wird gerne auch ein bisschen laut, wenn die Gruppe ein bisschen größer ist –  das stört dann einige alteingesessene Bewohner:innen, die sich grundsätzlich oft beschweren. In diesen Fällen würde ich aber weniger von Rassismus sprechen als von gewissen Ressentiments – teilweise sind das auch Verständigungs- und Kommunikationsprobleme. Wenn man es schafft, die Leute in persona zusammenzubringen, kann man eigentlich viele dieser Probleme und Bedenken ausräumen.

diskus: Du hast uns jetzt etwas den Lebens- und Arbeitsalltag der Wanderarbeiter in der Bauwirtschaft skizziert. Was sind die häufigsten Konfliktfälle, mit denen Ihr in der Beratungsstelle zu tun habt?

Am häufigsten geht es wirklich um Lohnfragen. Das ist ein No Go. Die Menschen sind hierhergekommen, um den Lebensunterhalt für ihre Familien zu verdienen. Bei uns melden sie sich vor allem dann, wenn der Lohn teilweise oder komplett nicht geflossen ist. Ansonsten sind sie bereit, viele Sachen hinzunehmen.

diskus: Was meinst Du damit, die Menschen seien bereit, ziemlich viel hinzunehmen?

Wir haben ja bereits über die Unterkünfte gesprochen. Das sind hygienische Verhältnisse, ich würde das nicht hinnehmen. Die Wanderarbeiter sind aber bereit, das zu akzeptieren. Auch die Höhe der Kosten die für diese Unterkünfte vom Lohn abgezogen werden – das ist, ich sag mal so, überteuert. Bei einzelnen Fällen kann man sogar vom Straftatbestand des Mietwuchers sprechen. Auch das sind die Arbeitskräfte bereit hinzunehmen. Hauptsache, sie haben die Arbeit, sie haben die Unterkunft und sie können irgendwie Geld verdienen. Viele machen sich auch über Arbeits- und Gesundheitsschutz wenig Gedanken. Bei ihnen steht wirklich im Vordergrund: »Ich brauch den Job, ich brauch das Geld und ich muss unbedingt Geld nach Hause schicken.« Da sind sie dann auch wirklich bereit, Arbeitsbedingungen hinzunehmen, ohne sich zu beschweren, die deutsche Arbeitnehmer so nicht akzeptieren würde.

diskus: Hast Du den Eindruck, dass die Bauwirtschaft absichtlich auf Wanderarbeiter setzt, um rechtliche Bestimmungen zu umgehen und Lohnkosten zu drücken? Sind die von Dir beschriebenen Konflikte und Probleme symptomatisch für die ganze Branche?

In Bezug auf die Bauwirtschaft, können wir schon über ein System sprechen. Wir haben immer wieder die gleichen Akteure, die im Hintergrund agieren. Und die vor allem mit Beschäftigten aus Mittel- und Osteuropa zusammenarbeiten. Das bestätigen uns auch die Beschäftigten. Man sieht zwar häufig verschiedene Unternehmen, die als formale Vertragspartner agieren, aber wenn man die Beschäftigten direkt fragt, dann sagen sie: »Das ist der Mann«. Der ist der eigentliche Chef, der die Anweisungen gibt und den kennt man schon von früheren Fällen. Natürlich, die Aktenlage sagt eine andere Realität aus, aber so ist das System aufgebaut: Die Subunternehmen bleiben nicht lange bestehen. Die gehen auf den Markt, gehen Arbeitsverhältnisse ein, es wird irgendwie Geld generiert und wenn es zu Schwierigkeiten kommt, verschwinden diese Unternehmen einfach wieder. Sie melden Insolvenz an und der Geschäftsführer ist weg. Und dann wird wieder ein neues Unternehmen aufgemacht, wieder mit einem Strohmann oder einer Strohfrau an der Spitze als Geschäftsführer:in. Wir haben vor allem in der Bauwirtschaft auch einen sehr hohen Anteil an undokumentierter Beschäftigung. Und dieses Schwarzgeld, mit dem die undokumentierten Beschäftigten bezahlt werden, muss ja irgendwo herkommen. Also haben die verantwortlichen Personen Netzwerke gegründet mit Firmen, die Scheinrechnungen für nicht erbrachte Leistungen erstellen.

diskus: Und wenn jetzt wirklich einzelne Arbeitnehmer:innen zu Euch in die Beratungsstelle kommen und Hilfe brauchen. Welche Möglichkeiten habt Ihr da?

Wie gesagt, die Wanderarbeiter sind meistens bei Subunternehmen beschäftigt und diese Subunternehmen bedienen sich häufig einiger Tricks, um sich der Verantwortung zu entziehen: Der Geschäftsführer ist weg und nicht mehr auffindbar, das Unternehmen ist insolvent. Und damit entledigen sie sich jeglichen finanziellen Verpflichtungen gegenüber den Beschäftigten. Durch eine Regelung im Arbeitnehmerentsendegesetz haben die Wanderarbeiter aber die Möglichkeit nicht nur ihren direkten Arbeitgeber dafür verantwortlich zu machen, sondern auch den Generalunternehmer. Das ist die sogenannte Auftraggeber- oder Generalunternehmerhaftung. Dieses starke Instrument nutzen wir sehr häufig und nicht nur in den Fällen, wo der Subunternehmer einfach nicht mehr auffindbar ist. So können wir nicht nur den Generalunternehmer in die Verantwortung nehmen, sondern auch den Druck auf die Subunternehmen erhöhen, damit das Geld endlich fließt. Wir sind damit oft erfolgreich – wenn auch nur unter der Voraussetzung, dass die Arbeitszeitdokumentation richtig geführt wurde und die entsprechenden Papiere vorliegen. Tagelöhner könnten das zum Beispiel auch machen, die arbeiten aber häufig gegen ihren Willen undokumentiert und haben daher umso mehr Schwierigkeiten, ihre berechtigten Ansprüche durchzusetzen.

diskus: Fällt Dir ein beispielhafter Konfliktfall aus der Vor-Corona-Zeit ein?

Ich nehme mal einen größeren Fall, der es auch in die Medien geschafft hatte. Wir hatten 18 Rumänen, die sich bei uns gemeldet hatten, weil ihr Lohn ausstand. Die IG BAU hat uns unterstützt und die rumänischen Kollegen als Mitglieder aufgenommen, sodass die Gewerkschaft sie vertreten konnte. Wir haben uns in dem Konflikt auf das besagte Arbeitnehmerentsendegesetz berufen und die Ansprüche der Menschen bei dem Generalunternehmer geltend gemacht. Der Generalunternehmer hat auf unsere Forderungen zwar reagiert, die Zahlung aber verzögert. Die Kollegen haben jedoch über einen längeren Zeitraum keinen Lohn bekommen, so zwei bis drei Monate, und hatten finanzielle Schwierigkeiten. Damit der Prozess ein bisschen rascher geht, haben wir dann die Medien eingeschaltet. Der Druck bei dem Generalunternehmer aber auch der Druck über die Öffentlichkeit haben dazu geführt, dass die Verhandlungen rasch aufgenommen wurden. Da der Subunternehmer nicht mehr auffindbar war, haben wir beziehungsweise die IG Bau direkt mit dem Generalunternehmer verhandelt. Das hat letztlich dazu geführt, dass wir nach zwei Wochen einen Vergleich erzielen konnten. Hauptstreitpunkt war die Anzahl der gearbeiteten Stunden. Die Menschen sagten, sie haben zwölf Stunden am Tag gearbeitet, der Generalunternehmer hatte in seinen Unterlagen aber nur sechs oder acht Stunden vermerkt. Am Ende wurden um die 30.000 oder 40.000 Euro an die Kollegen ausbezahlt. Solche kleineren Beispiele, wo das gut funktioniert, haben wir viele. Leider aber auch viele Fälle, wo es nicht geklappt hat.

diskus: Wenn es nicht klappt, woran liegt das?

Das größte Problem ist eigentlich, dass die Beweislast bei den Arbeitnehmer:innen liegt. Daran scheitert es meistens. Viele Unternehmer:innen machen es sich bequem und sagen: »Wir streiten das ab, beweis das erstmal«. Und wir haben auch das Problem, dass viele Wanderarbeiter nicht die Gewohnheit haben, ihre Arbeitszeiten und -orte ausführlich zu dokumentieren. Das sind häufig auch die Fälle, wo wir sagen müssen: »Tut uns leid, aber wir haben nichts in der Hand.« Gerade auch wenn die Menschen nicht nur auf einer, sondern auf mehreren Baustellen gearbeitet und das nicht ordentlich dokumentiert haben, sieht es natürlich schwierig aus, da was zu reißen.

diskus: Würdest Du behaupten, dass sich die Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter in der Bauwirtschaft durch Corona verschärft haben?

Wir machen uns gerade vor allem Sorgen um die Gesundheit der migrantischen Arbeitskräfte. In den letzten Jahren haben wir immer wieder Baustellenbegehungen gemacht und uns die Verhältnisse vor Ort angeschaut. Das fällt aktuell natürlich weg. Theoretisch müssten daher jetzt die Unternehmen, also die Arbeitgeber, Gefährdungsbeurteilungen durchführen, um zu schauen, ob Corona die Verhältnisse so verändert, dass Anpassungen im Bereich Arbeits- und Gesundheitsschutz, beispielsweise Schutzausrüstung, nötig sind. Soweit wir das von den Bauarbeitern mitbekommen haben, ist das nicht geschehen. Es gab vorher schon Probleme im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, weil die Subunternehmer Gefährdungsbeurteilungen und dergleichen gar nicht durchgeführt haben und Corona erschwert jetzt noch die Situation.

diskus: Welche rechtlichen Vorgaben im Bereich Arbeits- und Gesundheitsschutz wurden zur Corona-Bekämpfung in der Bauwirtschaft eingeführt?

Es gibt auf jeden Fall Arbeitsschutzstandards vom Bundesarbeitsministerium (BMAS), also Vorschriften zum Abstandhalten, es muss genügend Möglichkeiten zum Händewaschen geben und Mundschutz muss bereitgestellt werden. Diese Standards sind eigentlich verpflichtend. Es gibt zudem seitens der Unfallversicherung Vorschriften für die Bauwirtschaft, die die zuvor genannten Standards konkretisieren. Ich würde aber stark davon ausgehen, dass die Realität anders aussieht und die Vorgaben insgesamt nicht eingehalten werden.

diskus:Wie schätzt Du die hygienische Situation in den Unterkünften hinsichtlich der Corona-Prävention ein?

Unsere Kollegen von der IG BAU waren vor drei Wochen in einer großen Frankfurter Unterkunft und haben Wanderarbeitskräfte gefragt: »Wie sieht es aus? Wurden bestimmte Vorkehrungen getroffen?« Die Antwort war: »Eindeutig Nein!« Das macht uns eigentlich am meisten Sorgen. Auf Baustellen wäre es vielleicht noch möglich, einen Arbeitsprozess so zu gestalten, das zumindest die Mindestabstände eingehalten werden. Aber wenn sich in den Unterkünften einer mit Corona infiziert, wird das rasch dazu führen, dass alle Wanderarbeitskräfte, die dort wohnen, infiziert werden. Und es geht ja nicht nur um den gesundheitlichen Aspekt, auch auf die finanzielle Situation der Arbeitnehmer hätte eine Erkrankung gravierende Auswirkungen. Wenn in einer Unterkunft ein Coronafall auftritt, wird wahrscheinlich die ganze Unterkunft in Quarantäne gestellt und alle Personen werden 14 Tage in Quarantäne bleiben müssen. Das heißt, 14 Tage, in denen sie nicht arbeiten dürfen – und das bedeutet für die Wanderarbeiter in den meisten Fällen auch 14 Tage ohne Lohn.

diskus: Dazu eine Nachfrage: Im Fall einer angeordneten Quarantäne übernimmt ja planmäßig das zuständige Gesundheitsamt die Kosten bzw. den Verdienstausfall. Weißt Du, ob das auch im Fall der Wanderarbeiter passiert?

Unabhängig von der geltenden Regelung ist natürlich entscheidend, wie es in der Praxis funktioniert. Deshalb haben wir hier große Bedenken. Denn das sind, wie gesagt, häufig atypische Beschäftigungsverhältnisse. Und beschäftigt sind die Wanderarbeiter bei Unternehmen, die sich nicht immer an die Gesetze halten – politisch vorsichtig ausgedrückt. Diese Unternehmen versuchen immer, jedwedes wirtschaftliches Risiko auf die Arbeitnehmer abzuwälzen. Wenn in der Theorie Entschädigungsansprüche da wären, glaube ich trotzdem, dass die migrantischen Arbeitskräfte finanzielle Probleme bekommen würden.

diskus: Habt Ihr schon Erfahrungen gemacht, wie sich die einzelnen Arbeitgeber verhalten?

Meine Kollegin hatte vor einigen Wochen einen exemplarischen Fall in Nordhessen – betroffen waren LKW-Fahrer aus Rumänien, Bulgarien und Moldau. In Zusammenhang mit den Auftragseinbrüchen des Unternehmens wegen Corona haben sie die Leute einfach entlassen, von heute auf morgen. Zuerst haben sie versucht, den LKW-Fahrern Aufhebungsverträge unterzuschieben: Sie haben den Fahrern gesagt, sie wollen Kurzarbeit anmelden. Eine kurze Erklärung: Wenn es keine Betriebsvereinbarung gibt, wie bei diesem Unternehmen, müssen mit jedem Beschäftigten zusätzliche Vereinbarungen geschlossen werden. Solche Vereinbarungen haben sie den Leuten auf Deutsch vorgelegt – aber zusätzlich auch die letzte Seite eines Aufhebungsvertrages, ohne dies mitzuteilen. Das Unternehmen wollte sich schnell der Leute entledigen. Da hat meine Kollegin zum Glück interveniert. Das hat immerhin dazu geführt, dass das Unternehmen von dieser Praxis abgesehen und den Menschen ordentlich gekündigt hat, was zumindest die sozialen Absicherungsansprüche der Menschen sichert.

Ich will jetzt nicht alle Unternehmen schlechtreden, aber wir erleben aktuell viele Beispiele, in denen die Unternehmen versuchen, sich der Arbeitnehmer:innen schnell zu entledigen, wenn sie merken: »Okay, durch Corona geraten wir in Schwierigkeiten«. Dann versuchen sie einfach, den Druck und das Risiko auf die Arbeitnehmer:innen abzuwälzen.

diskus: Du hast uns darüber berichtet, was für Probleme es bei Corona für die Wanderarbeiter auf den Baustellen gibt. Wo würdest Du kurzfristig den größten Handlungsbedarf sehen und bei wem?

Auf jeden Fall besteht großer Handlungsbedarf in der Beschäftigungssicherung. Natürlich wäre es optimal, wenn Unternehmen versuchen, den Job zu erhalten; es gibt ja auch unterschiedliche Instrumente im Rahmen des deutschen Sozialstaates. Wenn die Arbeitsplätze wegen Corona nicht zu retten sind, dann ist das auch noch verständlich. Aber auf jeden Fall müssen die Arbeitnehmer ordentlich gekündigt werden. Es darf nicht sein, dass man den Leuten einfach einen Aufhebungsvertrag gibt und das anders verkauft. Wenn die Beschäftigten solche Aufhebungsverträge unterschreiben, müssen sie mit Sperren beim Arbeitslosengeld I rechnen oder gar mit dem Verlust von Ansprüchen, wenn sie jetzt auf ALG II angewiesen sind. Letztendlich hängen Existenzen an diesen Arbeitsverhältnissen. Da sind auf jeden Fall die Unternehmen gefragt.

Und ich würde genauso großen Handlungsbedarf im Bereich Arbeits- und Gesundheitsschutz sehen. Das ist eh ein Thema, was vernachlässigt wird und wo wir auch mehr Sensibilität bei den Wanderarbeitskräften schaffen sollten. Ich weiß, dass bei den Wanderarbeiter:innen natürlich der Lebensunterhalt, das Verdienen von Geld, eine sehr hohe Priorität hat. Aber man sollte auch, gerade in Zeiten von Corona, auf die Gesundheit achten. Da sind wiederum die Unternehmer gefragt, die bestehenden Vorschriften anzuwenden und die entsprechenden Unterweisungen der Arbeiter zu machen, die Arbeitsmittel und die Schutzausrüstungen zur Verfügung zu stellen. Handlungsbedarf gibt es auch staatlicherseits. Wir werden mit Appellen nicht dafür sorgen können, dass alle Unternehmen sich an die Gesetze halten. Deswegen brauchen wir auch mehr Kontrollen. Bisher sind die Verwaltungen jedoch personell so schlecht aufgestellt, dass da effektiv kaum Kontrollen stattfinden.

 

Das Interview führten Hannah und Christian.