Am 12. Mai 2021 wäre Joseph Beuys 100 Jahre alt geworden. Nicht nur in Deutschland wurde dieses Datum zum Anlass genommen, 2021 als das Beuys-Jahr auszurufen. Mit Ausstellungen, Symposien und Publikationen feierten sämtliche Akteur_innen der Kunstszene, aber auch Politiker_innen jeglicher Parteien den deutschen Künstler und sein Erbe. Nachdem sich im Jahr zuvor die Debatten in der Kulturbranche vor allem um so unbequeme Themen, wie die Bedeutung von Kultur in Zeiten von Corona, die Frage des Genderns und um die Restitutionen von kolonialer Raubkunst gedreht hatten, konnte man sich des Eindrucks nicht verwehren, dass so manche_r erleichtert war, nun über einen Künstler reden zu können, der mit seiner Erweiterung des Kunstbegriffs, seinem Einsatz für die Umwelt, seinen Heilungsangeboten usw. nicht nur vielfältig anschlussfähig ist, sondern auch positive Zukunftsvisionen entwarf. Wer die Rezeption von Beuys kennt, war vermutlich nicht überrascht, dass die Lobgesänge im Beuys-Jahr überwogen und die Stimmen, die differenziertere und ambivalentere Einschätzungen einforderten oder vornahmen, in der Minderheit blieben.

Wenig verwunderlich ist auch, dass bei aller Ehrung immer wieder betont wurde, dass es natürlich nicht darum ginge, den Geniestatus von Beuys weiter zu manifestieren und dass sein messianischer Duktus sowie seine Selbstinszenierungen irritierend waren. Häufig folgte dann die Erläuterung, dass Beuys Aussagen und seine Kunst enorm impulsgebend gewesen wären, dass sie weitergedacht werden müssten und sich als immer noch aktuell erwiesen. Das Bild eines richtungsweisenden und autonomen Künstlers ist also weiter attraktiv, differenziertere Sichtweisen werden vom Diskurs verschluckt. Selten wird gefragt, warum ausgerechnet er als der bedeutendste Künstler des 20. Jahrhunderts gilt und warum man solch eine Kategorie überhaupt noch braucht. Ich kann es mir nicht verkneifen, auch die Frage zu stellen, ob eine Künstlerin wohl jemals eine solche Aufmerksamkeit und Verehrung erfahren wird. Ganz unabhängig davon, ob diese Form der Fokussierung auf ein einzelnes Subjekt überhaupt erstrebenswert wäre, lässt die Frage doch die kunsthistorische Aufmerksamkeit im Jahr 2021 überdenken.

Die schiere Menge an Zuschreibungen und Themen, mit denen Beuys und seine Interessen in den letzten Monaten beschrieben wurden, entspricht durchaus dem Mythos, den Beuys zu Lebzeiten von sich selbst beständig erschaffen hat und der bis heute von weiten Teilen seiner Rezeption mitbefördert wird. Aussagen von Beuys, die seinen eigenen Absolutheitsanspruch relativieren könnten, wurden dabei ebenso nivelliert wie kritische Analysen seiner männlichen Selbstrepräsentation. Dabei müssten doch eigentlich Zweifel aufkommen, ob ein Einzelner diesem immensen Spektrum an Wissen, Einsichten und Versprechen überhaupt gerecht werden könnte, ohne dass ihm ein besonderer, übermenschlicher Status zugesprochen wird. So tradiert sich der Mythos von Beuys als auserwähltem, prophetischem Künstler weiter. Seine spirituelle Kunsttheorie und seine essentialistischen Bedeutungszuschreibungen an das von ihm verwendete Material spalteten zu Lebzeiten und auch einige Jahre nach seinem Tod die Rezeption. Mittlerweile scheint diese programmatische Positionierung keine große Rolle mehr zu spielen. Und ich frage mich, was konkret den weit verbreiteten Reiz des Mythos Beuys heute ausmacht? Immer wieder wird der Satz ‚jeder Mensch ist ein Künstler‘ rezitiert. Die Erkenntnis, dass dieser Ausspruch sich leicht neoliberal vereinnahmen lässt, ist dabei anscheinend schon wieder überholt oder vergessen, verwiesen wird darauf, dass er damit meinte, dass jedem Menschen Kreativität innewohnen würde, von der aus sämtliches möglich sei. Reden muss man dann erstmal nicht mehr darüber, wer die Möglichkeit hat solche Fähigkeiten zu entfalten und wem gesellschaftliche Strukturen und politische Umstände eine solche Entwicklung verwehren.

Versuche, Beuys und seine Kunst zu historisieren und zu kontextualisieren,[1] bleiben in diesem Diskurs schwierig zu vermitteln und drohen immer wieder nur erneut die Narration von seiner breiten Vorbildfunktion zu bestätigen. Dabei könnten sie dazu beitragen, die Superlative, mit denen sein künstlerisches und gesellschaftspolitisches Engagement so oft kommentiert wird und die den Blick darauf im Grunde verdecken, zu relativieren und im Vergleich mit anderen künstlerischen Projekten die kunsthistorische Aufmerksamkeit und Kanonbildung kritisch zu überdenken. Differenzierte Analysen, die durchaus zahlreich vorhanden sind, lassen erschließen, welche Aspekte seiner künstlerischen Position wirklich innovativ waren und welche ‚nur‘ provokant, dem Zeitgeist entsprechend oder sogar regressiv.[2] Es liegt vermutlich auch an dem allgemeingültigen und universellen Anspruch von Beuys‘ Artikulationen oder an seinen selten wirklich konkreten und kaum verständlichen Einsprüchen, die es schwer machen, seine Theorien und seine künstlerische Praxis in ihrem zeithistorischen Kontext zu verorten.

Immer wieder führt Beuys Verhältnis zum Nationalsozialismus zu Diskussionen. In jüngster Zeit wurde dazu wiederholt betont, dass die Kontroverse sich an der Frage entzünde, ob Beuys nationalistischen und völkischen Ideen weiter anhing, ob er also wirklich ‚der ewige Hitlerjunge‘ gewesen sei, wie es Beat Wyss in provokanter Manier in der Zeitschrift Monopol (2008) geschrieben hatte. Oder ob er nicht sogar einer der ersten Künstler war, der sich der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands sowie seiner Beteiligung daran gestellt und mit dieser befasst habe. Verwehrt wird sich dabei häufig gegen Ansätze, die ‚nur‘ nach den Fakten seiner NS-Vergangenheit suchen würden oder sich immer wieder auf seine Biographie beriefen. Als Künstler – so manche Argumentationen – wäre es für Beuys legitim, mit Metaphern und Legenden zu operieren.

Da Beuys erklärtermaßen Kunst und Leben gleichsetzte und unter anderem über eigene Kommentierungen seiner Arbeiten und über zwei poetisch verfasste und verschiedentlich reproduzierte Lebensläufe (1961 und 1964)[3] sein eigenes Leben zum Kunstwerk und seine künstlerische Praxis und Theorie wiederum aus seinem Leben heraus erklärte, ist eine Nichtbeachtung seiner persönlichen Erinnerungen in jeglicher Auseinandersetzung mit ihm im Grunde unmöglich. Richtig ist, dass er seine eigene Geschichte als Hitlerjunge und Soldat verschiedentlich thematisierte und darüber hinaus Arbeiten zum Holocaust schuf.[4] Dass Beuys als Künstler dabei nicht die Erforschung der historischen Wahrheit dieser Geschichte anstrebte, sondern eine ästhetische Deutung des Geschehens, ist legitim, trotzdem muss sie sich aber doch an den objektiven Gegebenheiten messen lassen. Und dann ist es wichtig auf die Stellen hinzuweisen, an denen Beuys den Nationalsozialismus verharmloste oder relativierte. So zum Beispiel, wenn er über seine Jugend in den 1930er Jahren sagte (und mehrfach zitiert wurde):

„Man muß ja zugeben, daß – etwa im Gegensatz zu heute – damals die Situation für die Jugendlichen in gewisser Weise ideal war, um sich auszuleben. Es kann keine Rede davon sein, dass wir manipuliert worden sind“

oder wenn er seine Erfahrungen im Krieg als ‚Bildungserlebnis‘ titulierte.[5] Weitere Beispiele ließen sich anführen. Dass Beuys in der Auseinandersetzung mit der eigenen, wie mit der deutschen Geschichte Metaphern, Legenden und Fiktionen verwendete, ist dabei nicht zu verurteilen. Jede Erinnerung ist immer eine Rekonstruktion und auf Repräsentationen angewiesen. Zu diskutieren bleibt allerdings, was für Bilder und Erzählungen dabei verwendet oder aufgerufen werden und wie sich diese zu den historischen Realitäten verhalten. So ist seine Zeit als Wehrmachtssoldat in den schon genannten Lebensläufen vorwiegend über Orte, „die im Krieg berührt wurden“, und über Freundschaften beschrieben.[6] In dem als „Notizzettel“ betitelten frühen Lebenslauf von 1961 werden bereits die Tataren erwähnt, die ihn angeblich in ihre Familie aufnehmen wollten. Ab 1970 erzählt er die Legende von seinem Absturz als Stukaflieger auf der Krim und der wundersamen Rettung durch das vermeintlich ursprünglich lebende Volk. Heute erscheinen diejenigen, die diese Geschichte weiter als ‚wahr‘ kolportieren, naiv und die, die auf ihre Fiktion verweisen als pedantisch. Wesentlicher als ihre Enttarnung ist jedoch die Frage, welche Möglichkeiten der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg diese Bilder, auch als offensichtliche Fiktion, für Beuys und sein Publikum anboten: Anstelle von Bildern zerstörter Städte und Dörfer, gewaltvoller Kämpfe und von Leichen, rufen Beuys Erzählungen solche von abenteuerlichen Reisen und Kameradschaft auf. Die Tatarenlegende ebenso wie seine späteren Performances als Schamane und vor allem deren Kommentierungen ergänzen diese Imaginationen mit den Bildern eines mythischen Osten, von weiten Steppen sowie einer nomadischen Kultur, die einfach und unschuldig lebt und den deutschen Künstler adoptieren will. Beuys und auch sein Publikum konnten sich darüber von der deutschen Nation und einer Kriegsbeteiligung imaginär distanzieren und eine Beteiligung am Kriegsgeschehen verdrängen.[7]

Das Motiv der Heilung spielt in der Legende eine wichtige Rolle und wird in den Performances als Schamane weiter ausgestaltet. In diesen erscheint der Künstler nicht mehr nur als Geheilter, sondern ist nun bereit, auch andere zu heilen. Corinna Tomberger hat anhand der von Beuys und seiner Rezeption verschiedentlich verwendeten Metapher der Wunde und Heilung dargelegt, wie damit nicht nur die eigene Beteiligung an Kriegshandlungen ausgeblendet, sondern auch ein Heilsversprechen für die besiegte deutsche Nation transportiert wird.[8] Zwar wiederholte Beuys, dass „die Wunde gezeigt werden müsse“, was man durchaus auch als ein Offenlegen der Ereignisse und in Folge dessen auch der Verantwortlichkeiten verstehen könnte (das bleibt jedoch eine sehr freie Assoziation), Beuys bietet aber weiterhin das beruhigende und schulderlösende Bild einer Heilung an, die er der Gesellschaft verspricht.[9] Beschönigende Legenden und Bilder sind in der privaten Erinnerung an die Zeit des NS in der postnationalsozialistischen deutschen Gesellschaft nicht ungewöhnlich. In vielen Familien werden bis heute eher Geschichten von Reisen, Kameradschaften und kleinen oder größeren Heldentaten vom letzten Krieg erzählt. Die von Beuys aufgerufenen Bilder versprechen dieser Gesellschaft zusätzliche Heilung. Dass er nach seinen Kriegserfahrungen eine solche suchte, ist sicherlich verständlich, dass er diese zu vermitteln versprach, anmaßend. Für wirklich problematisch halte ich aber den damit vermittelten Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Diese mit den Metaphern der Wunde und der Heilung zu verhandeln, droht nicht nur die gewaltvolle Geschichte zu verharmlosen, sondern verspricht metaphorisch auch die Möglichkeit sich von der Verantwortung – auch von der Verantwortung zu erinnern – geheilt bzw. erlöst werden zu können. Wenn Beuys weiterhin für seine Form der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte gelobt wird, ist das symptomatisch dafür, dass der Wunsch nach Heilung von einer historischen Verantwortung auch noch für die Nachfolgegenerationen gilt.

 

[1] Für eine solche Perspektive hatte bereits Benjamin Buchloh plädiert: The Twilight of the Idol. Preliminary Notes for a Critique. Artforum, New York 1980, 35 – 43.

[2] Stellvertretend sei hier genannt: Barbara Lange:Kunst und Leben. In: Christopher F. Laferl/Anja Tippner (Hg.): Leben als Kunstwerk. Künstlerbiographien im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2011, S. 111–128..

[3] Der als „Notizzettel“ überschriebene Lebenslauf ist veröffentlicht im Ausst.-Kat. Joseph Beuys. Zeichnungen, Aquarelle, Ölbilder, plastische Bilder aus der Sammlung van der Grinten. Städt. Museum Haus Koekkoek. Kleve 1961, o.P. Den „Lebenslauf/Werklauf“ verteilte er auf dem Festival für Neue Kunst, Aachen, 1964 und veröffentlichte ihn danach unter anderem in: Ausst.-Kat. Joseph Beuys. Werke aus der Sammlung Sröher. Hg. von Dieter Koepplin. Kunstmuseum Basel. Basel 1969: 4f.

[4] Für eine differenzierte Analyse von Beuys Arbeiten zum Holocaust s.: Kathrin Hoffmann-Curtius: Bilder zum Judenmord. Marburg: Jonas 2014.

[5] Die Historiker Frank Gieseke und Albert Markert haben analysiert, wie sich Beuys Selbsterzählungen zu den Erkenntnissen historischer Forschung verhielten und inwiefern sich völkische Ideen in seiner künstlerischen Praxis finden: Flieger, Filz und Vaterland. Eine erweiterte Beuys Biographie. Berlin 1996. Der Autor HP Riegel verfolgt in seiner Beuys Biographie (2013) ein ähnliches Anliegen und überprüft den Wahrheitsgehalt sämtlicher Selbsterzählungen von Beuys.

[6] S. Anm. 3.

[7] Diese Schlussfolgerung hat auch schon Buchloh vorgenommen (1980) s. Anm. 1.

[8]Tomberger, Corinna: Zeige deine verwundete Männlichkeit: Heilsversprechen im Werk von Joseph Beuys. http://www.ruendal.de/aim/pdfs02/tomberger.pdf. 2002, S. 9.

[9] Mir ist bewusst, dass ich hier sehr allgemein und wenig konkret über Beuys Arbeiten schreibe, ich meine aber, dass ein Großteil der aktuellen Rezeption ähnlich ungenau bleibt. Für meine Einschätzung der Rezeption und für das vorliegende Format, das eher ein Statement ist als eine Analyse, halte ich dies für legitim.