Am 23. Januar 2023 feierte das Institut für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt sein einhundertjähriges Bestehen. Mit einem Cellosolo, das die unauflösbaren Widersprüche der Gesellschaft ausdrücken sollte, eröffnete Katharina Deserno den Festakt. Dissonanzen erzeugten auch die anschließenden Reden der Vertreter_innen der Landes- und Stadtregierung sowie der Universitätsleitung. Widersprüche zwischen dem Anspruch radikaler Gesellschftskritik des IfS und seiner heutigen ökonomischen Lage traten dabei offen zu Tage. Die Politiker_innen betonten vor allem, wie „aktuell“ die Kritische Theorie doch sei, dass „wir“ sie brauchen, dass Staat und Politik sie brauchen [1]. Das Jubiläumsdatum rief etwas anderes in Erinnerung. Der reiche Unternehmersohn Felix Weil stiftete Frankfurt 1923 mit dem IfS eine parteiunabhängige Forschungsstätte des wissenschaftlichen Marxismus. Der Mäzen garantierte dem Institut seine ökonomische Unabhängigkeit. Weder die außergewöhnliche Forschungsfreiheit noch die „durch einen großbürgerlich-jüdischen Lebensstil geprägte Phantasie“[2] seiner Mitarbeiter wären ohne Weils Unterstützung möglich gewesen.

 

Kultur und Verwaltung: Unfreiwillige Komik

Heute sind das Land Hessen, die Stadt und die Universität Frankfurt die wichtigsten Geldgeber des Instituts für Sozialforschung. Anlässlich des Jubiläums priesen ihre Vertreter_innen die Tradition radikaler Gesellschaftskritik im Geiste Max Horkheimers und Theodor W. Adornos. Wissenschaft und Kritik verwiesen sie dabei sogleich auf ihre angeblichen Zwecke, etwa die der Demokratieförderung und Krisenbewältigung des Staates. Der Ruhm der sogenannten Frankfurter Schule, ist eben auch ein Beweis dafür, „daß diese Gesellschaft einfach alles zu integrieren vermag“, wie es Leo Löwenthal formulierte[3]. Unter den Politker_innen rief einzig Ina Hartwig (SPD), Dezernentin für Kultur und Wissenschaft der Stadt Frankfurt, an diesem Nachmittag in Erinnerung, dass Adornos Theorien „nicht handlungsanleitend“ sind.

In den Jubiläumsvorträgen drückte sich aus, was an der Universität und auch am IfS längst Realität ist: Wissenschaft, die auf staatliche Fördertöpfe oder Drittmittel angewiesen ist, muss ihre unmittelbare Relevanz und Verwertbarkeit für die Gegenwart ständig beweisen. Das ist sicher keine neue Erkenntnis und auch Institutsdirektor Lessenich scheint sich diesbezüglich keine Illusionen zu machen[4]. Schon immer waren wissenschaftliche Institutionen vom guten Willen des Staates abhängig oder mussten sich Lücken in seinem Machtapparat zu Nutze machen. Adornos Aphorismus „Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung, ob er will oder nicht“[5] zielte darauf ab, diese Beziehung ins Bewusstsein zu rücken.

Bemerkenswert an der Jubiläumsfeier war das Wechselspiel zwischen den einzelnen Reden. Mit einiger unfreiwilliger Komik machte es auf die widersprüchliche Lage eines staatsfinanzierten Instituts für radikale Gesellschaftskritik aufmerksam. Gleich zu Beginn der Feier verkündete die Landesverwaltung, finanziell habe sie „dieses Institut auf andere Beine“ gestellt und legte dem IfS Forschungsprojekte zur Demokratieförderung nahe. Im Anschluss erinnerte Institutsdirektor Lessenich indirekt daran, dass das IfS 1923 nur dank privatem Vermögen und durch Verschleierung seiner kritischen Absichten gegenüber Staat und Universität gegründet werden konnte. Derweil ließ der Universitätsrat verlauten, dass das Institut auf Empfehlung des Wissenschaftsrates näher an die Universität „heranrückt“. Der Präsident der Goethe-Universität meinte dann gar, die Universität habe heute einen ähnlichen Gestaltungsanspruch wie das IfS – denn, so behauptete er, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit wollen schließlich beide erreichen.

Institutsdirektor Lessenich versuchte sich in seinen Jubiläumsreden teilweise davon abzugrenzen. Nach der Veranstaltungen fielen ihm zudem ein paar Vorteile ein, die daraus entstehen, dass das IfS gerade nicht Teil der Universität ist. So müsse man das ausbeuterische Wissenschafts-Zeit-Vertragsgesetz, wodurch Forschende Kettenkurzverträge erhalten, nicht umsetzen und könne Gäste ans Institut einladen, die im Universitätsbetrieb unerwünscht seien. Trotzdem solle das Kollegium des IfS mehr in die universitäre Lehre eingebunden sein. Auch sprach er eine Einladung an die Studierenden aus, regelmäßig zu Veranstaltungen ans Institut zu kommen und sich dort einzubringen.

 

Kritische Theorie aus Sicht der Verwaltung: Aktuell, demokratiefördernd und verantwortungsbewusst

Jutta Ebeling, Vorsitzende des Stiftungsrates der Goethe-Universität, hielt die erste Rede. Sie formulierte zunächst treffend, die große Frage der Kritischen Theorie sei es gewesen, wie sich die Praxis angesichts der Theorie organisieren ließe. Dann bekannte die Grünen-Politikerin, auch „uns“ beschäftige die Frage, „wie es mit dem Kapitalismus weitergeht“. Zur Vorbereitung habe sie Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung zur Hand genommen und den Satz „Entweder zerfleischt sich die Vernunft selbst oder zerstört Flora und Fauna“ gefunden. Mit ihrer Pointe, „find ich ziemlich aktuell. Könnte der Spruch der Klimaaktivisten sein“, stimmte sie das Loblied auf die Aktualität an, das sich an diesem Nachmittag noch munter fortsetzten sollte.

 

Jutta Ebeling, Stidtungsratsvorsitzende der Goethe Universität hält eine Rede

Die Vorsitzende des Stiftungsrates der Goethe Universität und Grünen-Politikerin, Jutta Ebeling bei ihrer Eröffnungsrede. Bild: diskus.

 

Ihre Parteikollegin, Hessens Wissenschaftsministerin Angela Dorn, betonte, man lebe in krisengebeutelten Zeiten und wolle den großen Umbruch so gestalten, dass man jeden mitnehme. Sie ließ sie ein heiteres Lob der gegenwärtigen Demokratie folgen: „Zum Glück haben wir eine stabile Demokratie. […] Die Demokratie ist die beste aller Lösungen.“ Aber „wir“ bräuchten einen „radikalen Wandel“. Aufgabe des IfS sei es, den Anspruch Marx‘, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern auch zu verändern, „aktuell zu halten“ – etwa durch Beantwortung der Frage: „Wie können sich die repräsentative Demokratie und die Bewegungen von unten verbinden?“. Das Land Hessen habe seine finanzielle Unterstützung des IfS von 620.000 auf 870.600 Euro erhöht. Trotzdem seien die Landesregierung und das Institut, schloss Dorn ihren Vortrag, „Gott sei Dank, nicht immer derselben Meinung“ – denn man brauche „dieses kritische Denken“ und „diese Impulse“. Da hat das IfS ja nochmal Glück gehabt.

Der Präsident der Goethe-Universität, Enrico Schleiff, nannte, sauber gegliedert, drei Punkte, durch die die Kritische Theorie ihrer „gesellschaftlichen Verantwortung nachkommt“. Erstens halte sie „den realen Verhältnissen ihren Spiegel der nicht-realisierten Möglichkeiten“ vor. Zweitens denke sie Wissenschaft und Politik zusammen – in der Corona-Pandemie habe man gesehen, wie wichtig das Expertentum ist, um der Politik „gesicherte Entscheidungsbedingungen“ zu schaffen. Drittens könne man der Stellenbeschreibung der neuen Kooperationsprofessur Lessenichs an der Universität entnehmen: „Aufgabe der Professur ist die Weiterentwicklung einer normativ anspruchsvollen Gesellschaftstheorie“.

 

Projektfinanzierte Forschung: „So ist das“ heute

In ironischer Manier bedankte sich Institutsdirektor Lessenich im Anschluss für Schleiffs Erinnerungen an die eigenen Pflichten: „Danke für die Aufzählung, was wir tun sollen. Das machen wir!“. Ernsthaft bedankte er sich beim „Triumvirat“ aus Land, Stadt und Universität, das die Forschung am IfS ermögliche. Nüchtern konstatierte er: „Ob wir dieser Förderung inhaltlich und auf die Relevanz bezogen gerecht werden, müssen wir unter Beweis stellen. So ist das.“ Seit den 1950er-Jahren ergebe sich ein „strukturelles Dilemma“ für das IfS. Forschen könne man nur in Form von Projekten, deren Finanzierung bewilligt wurde. Den Idealen der Freiheit und gesellschaftlichen Verankerung der Forschung wolle man aber trotzdem gerecht werden. Angedeutet war damit, dass das Institut, als in den 1950er-Jahren dessen Finanzierung durch den Mäzen Weil endete, auch einen Großteil seiner Unabhängigkeit verlor.

 

Die Gründung des IfS durch den Mäzen Felix Weil

Am 23. Januar 1923 genehmigte das Preußische Kultusministerium die Eröffnung eines Institut für Sozialforschung in der Frankfurter Viktoriaallee. Finanziert wurde es durch das Vermögen der jüdischen Familie Weil, das aus Weizenexport und Aktienhandel der argentinischen Firma Hermanos Weil y Cia stammte. Felix Weil[6], Sohn des Unternehmers Hermann Weil, wollte ein parteiunabhängiges[7] Institut zur wissenschaftlichen Untersuchung des Marxismus und der Geschichte der Arbeiterbewegung schaffen. Die Existenz eines solchen Forschungszentrums, das an die Universität angebunden war und dennoch weitgehend unabhängig von ihr schalten und walten konnte, war innerhalb der konservativen Forschungslandschaft Preußens mehr als überraschend.

Stephan Lessenich hatte auf der Jubiläumsfeier zur damaligen Genehmigung des Instituts gesagt, „irgendjemand in der preußischen Verwaltung musste die Augen verschlossen haben“. Auch wenn diese Bemerkung eher scherzhaft zu verstehen war, ist man gewillt dem entgegenzuhalten, dass es einer aktiven Täuschung der Verwaltung bedurfte. 1922 hatte sich Felix Weil mit seinen Freunden Max Horkheimer und Friedrich Pollock über die Institutsgründung ausgetauscht. In offiziellem Schriftverkehr verbarg Weils „äsopische Sprache“ [8] die kritischen Absichten des Instituts. Klartext sprachen Weil und seine Mitstreiter nur mit einem Verbündeten in der Wiesbadener Regierung[9]. Dem Institutsdirektor stiftete man einen Lehrstuhl, womit die Anbindung an die Frankfurter Universität und die Besänftigung ihrer Bürokraten gelang. Unter dem ersten Direktor, dem Ökonomen Grünberg, entstanden ab 1924 dann eher orthodox-marxistische empirische Studien[10]. Grünberg brachte ein großes Archiv über die Geschichte der Arbeiterbewegung mit nach Frankfurt. Es wuchs dank Weils Finanzkraft zur weltweit ersten umfassenden Sammlung marxistischer Literatur an. Wenige Jahre später sollte das Institut wegen angeblicher Verbindungen zur Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) erstmals ins Visier der Polizei geraten.[11]

 

Collage: Felix und Helen Weil, das Ehepaar Horkheimer und Pollock 1945 in einem Nachtclub in Hollywood

Im Bild: Max & Maidon Horkheimer, Felix & Helen Weil und Friedrich Pollock im Nachtclub Ciro’s in Hollywood am 4.8.1945. Collage: Hintergrundbild: „Hollywood!“ Fotographiert von Glen Scarborough CC BY-SA 2.0;  Portrait Bild: Fotograph unbekannt, Archivzentrum Universitätsbibliothek Frankfurt am Main.

 

Geburt der Kritischen Theorie, NS-Verfolgung und staatliche Forschungsfinanzierung in der Nachkriegszeit

Die darauffolgende Geschichte des Instituts wurde oft erzählt. 1930 übernahm der Philosoph Max Horkheimer dessen Leitung. Im Fokus stand zunächst eine sozialpsychologische Erklärung für „das Ausbleiben oder Auftreten revolutionären Klassenbewusstseins“.[12] Horkheimer stieß dann die Entwicklung einer materialistischen Gesellschaftstheorie an, die Sozialphilosophie, Psychoanalyse und empirische Forschung zu vereinen suchte. Im Jahr 1937 nannte Horkheimer diese erstmals „Kritische Theorie“[13]. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das IfS bereits nicht mehr in Deutschland. Im Zuge der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde es staatlich enteignet. Seine Mitarbeiter wurden als Juden und ‚Kommunisten‘[14] verfolgt und mussten fliehen. Einige setzten die Arbeit des Instituts in der Schweiz und später in den USA fort, stets großzügig finanziert durch Mäzen Weil.

Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Friedrich Pollock kehrten in der Nachkriegszeit nach Frankfurt zurück und eröffneten 1951 ein neues Institutsgebäude an der Senckenberganlage.[15] Felix Weil war in den USA geblieben und hatte dem Institut zum Abschied eine letztmalige Zahlung von 100.000 US-Dollar gewährt, was heute einer Summe von rund 1,3 Millionen USD entspricht. Von nun an musste man sich mit der Akquise öffentlicher Gelder und Drittmittel befassen[16]. Den empirischen Studien des IfS aus dieser Zeit attestiert Axel Honneth einen Reformcharakter, der auf die Stabilisierung der noch jungen bundesrepublikanischen Demokratie zielte. Gleichzeitig hätten die philosophischen Schriften Horkheimers und Adornos noch den allgemeinen Verblendungszusammenhang des Kapitalismus ins Zentrum ihrer Analysen gestellt.[17] Durch neue ökonomische und politische Abhängigkeiten verwickelte sich das IfS nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt in Widersprüche. Damals wie heute lautet die entscheidende Frage, wie es als Institution mit diesen Verstrickungen umgeht.

Horkheimer mit Bundeskanzler Adenauer und Bundespräsident Heuss in den 1950er-Jahren.

Links: Bundeskanzler Konrad Adenauer, Frankfurts Oberbürgermeister Walter Kolb mit Universitätspräsident Horkheimer (1952)
Rechts: Horkheimer und Bundespräsident Theodor Heuss (Jahr unbekannt, vermutlich 1953)
Collage: Hintergrundbild: Schlempp (1958), Bundesarchiv (CC BY-SA 3.0); Portraitbilder: Fotographen unbekannt, Archivzentrum Universitätsbibliothek Frankfurt.

Die Zukunft des IfS: „Petite Auberge Aufbruch“

Wie unabhängig das IfS in Zukunft forschen kann, wird sich zeigen. Gegen Ende der Jubiläumsfeier gab Stephan Lessenich einen kurzen Ausblick auf einige Vorhaben des Institutskollegiums. Die Arbeit des IfS soll vom alten Bewusstsein geleitet werden, dass es um das „Ganze der Gesellschaft“ geht und – dabei schwang eine Art ökologische Wende mit – „ja, die Zukunft der Menschheit“. Im Hinblick auf die eigene Geschichte, sagte Lessenich, wolle man u.a. die Arbeit von Frauen am Institut stärker ins Rampenlicht rücken. Gretel Adorno, Monika Plessner und Helge Pross werden in historischen Rückblicken selten erwähnt[18]. Lessenich hob an diesem Nachmittag vor allem zwei Ziele seiner Direktion hervor. Erstens solle die Forschung des Hauses, trotz überschaubarer Mittel, eine globalere Perspektive einnehmen – zu lange habe nur die westliche Welt im Fokus gestanden. Zweitens sollen die Veranstaltungen des Instituts einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich sein und zivilgesellschaftliche Gruppen dort mehr Gehör finden.

Stephan Lessenich, IfS-Direktor hält eine Rede

Stephan Lessenich, seit 2021 Direktor des IfS. Bild: diskus.

Zur künftigen Ausrichtung des IfS hat Lessenich bereits eine Denkschrift verfasst und dabei auch auf den Widerspruch zwischen dem Ziel radikaler Gesellschaftskritik und der finanziellen Abhängigkeit vom Staat verwiesen.[19] Lessenichs Denkschrift erweckte den Eindruck, als wolle man der gewachsenen Abhängigkeit trotzen, indem man sämtliche Quellen radikaler Gesellschaftskritik anzapft. Der Austausch mit Bürger_innen, mit sozialen Bewegungen und Künstler_innen solle stärker werden: „Offen für Studierende und für die Stadtgesellschaft, für Kulturproduzent:innen und Bewegungsakteure, für Gesellschaftskritik ‚von unten‘ und aus allen Winkeln der Welt.“[20] Durch einen Verweis auf den Soziologen Luc Boltanski deutet Lessenich an dieser Stelle auch eine theoretische Begründung des stärkeren Einbezugs von Bürger_innen und ihren Kritikformen an. Boltanski[21] zufolge, entfaltet sich Kritische Theorie in der Spannung zwischen empirisch fundierten Innenansichten der Gesellschaft und theoretisch konstruierten Außenperspektiven.

Allerdings ist Boltanski auch für eine Studie bekannt, die nachzeichnete, wie vermeintlich radikale Formen der Gesellschaftskritik in eine neoliberale Reformpolitik integriert wurden[22]. Hatte Hessens Wissenschaftsministerin doch an diesem Tag in ihrer Rede versprochen, „wir“ wollen „alle mitnehmen“ beim "radikalen" Gesellschaftswandel, auch die „Bewegungen von unten“. Gerne würde man wohl eine wie auch immer geartete gesellschaftliche Spaltung verhindern, bekanntlich eine der gößten Ängste deutscher Politiker_innen. Auch die mit öffentlichen Geldern geförderte Sozialwissenschaft muss da mitunter Abhilfe schaffen. Im Rahmen des Panels „Zusammenhalt in der sozial-ökologischen Transformation“[23] des durch die Bundesregierung finanzierten Forschungsverbunds „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ wird etwa versucht, sozialwissenschaftlich zwischen Klimaktivismus, Regierungspolitik und Parteistiftungen zu vermitteln. In einer Zeit, in der große Teile der deutschen Politik sich wünschen, dass von der Wissenschaft über die sogenannte Zivilgesellschaft bis hin zur Einzelnen alle mitmachen beim von oben bestimmten Umbau der Gesellschaft, könnte man sich an Leo Löwenthals Motto der Kritischen Theorie erinnern. In diesem Jubiläumsjahr ist es prominent auf der Website des IfS platziert: Die Verpflichtung zur Unabhängigkeit bedeutete für die Kritischen Theoretiker in erster Linie „nicht mitmachen“[24].

Lessenich schreibt in seiner Denkschrift außerdem, man müsse den „Kanon der Bezugstheorien um queerfeministische und posthumanistische Ansätze, antirassistische und dekoloniale Perspektiven […] erweitern“ [25]. Vermutlich ist diese Logik der Entgrenzung auch Ausdruck der gegenwärtigen Kriterien für die Verteilung von Fördergeldern. Lessenich schreibt ganz offen, unter seiner Leitung solle das Institut seine Position und „Marke“ in den Arenen des wissenschaftlichen und politischen Feldes generell stärken und stärker einbringen[26]. Als Vorbild dient ihm das engagierte Intellektuellentum Pierre Bourdieus, der das Prestige seiner Forschungsinstitutionen für den Aufbau ausgezeichneter soziologischer Forschungsteams als auch für kritische Eingriffe in den Politik- und Medienbetrieb einzusetzen wusste. So soll „radikales Denken in Alternativen“ auch im Bestehenden gelingen. Auf die heute zum Klischee geronnene Rede Lukács vom Grand Hotel Abgrund [27] anspielend, will Lessenich das IfS in eine Petite Auberge Aufbruch verwandeln. Ob dieses Vorhaben gelingt, und welche Form Kritischer Theorie es entstehen lässt, bleibt abzuwarten.

 

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Auf der Jubiläumsfeier wurden auch einige Veranstaltungen des Instituts für Sozialforschung angekündigt.

Veranstaltungsankündigungen des IfS

 Tagung: Zweite Marxistische Arbeitswoche

Vom 26. bis 29 Mai wird auf dem Campus Bockenheim die Tagung Unhaltbare Zustände. Zweite Marxistische Arbeitswoche stattfinden. Sie ist angelehnt an die durch Felix Weil organisierte erste Marxistische Arbeitswoche 1923, auf der u.a. Karl Korsch und Georg Lukacs Vorträge hielten. Als die Veranstaltung auf der Jubiläumsfeier angekündigt wurde, schien das nicht allen zu gefallen. Einen älteren Herren hörte man beim Verlassen der Jubiläumsfeier murmeln: „Was mir große Sorge bereitet, ist dieser Rückwärtsgang, dass man jetzt wieder marxistische Gruppen ans Institut lässt.“ Mehr Informationen hier

Adorno-Vorlesung 2023: „Spuren des Anderen – Antisemitismus aus psychoanalytischer Perspektive“

Die diesjährige Adorno-Vorlesung (5. bis 7. Juli 2023, Campus Bockenheim) des IfS wird die Psychoanalytikerin Ilka Quindeau unter dem Titel „Spuren des Anderen – Antisemitismus aus psychoanalytischer Perspektive“ halten. Kulturdezernentin Hartwig hatte in ihrer Rede am 23. Januar noch auf die Rolle der Analyse von Kunstwerken in ihrer Spannung zwischen fait social und Autonomie innerhalb der Kritischen Theorie hingewiesen und für eine stärkere Rückbesinnung auf die Psychoanalyse plädiert. Beide Dimensionen werden in den Vorlesungen Eingang finden. Quindeau wird exemplarische Analysen anhand des Gruppenexperiment des IfS aus den 1950er Jahren und der Antisemitismusdebatte um die Kunstausstellung documenta 15 durchführen. Das Thema passt gut zum Jubiläum. Gelang es Felix Weil doch auch deswegen, seinen Vater zur Finanzierung des IfS zu bewegen, da er ihm von Plänen zur wissenschaftlichen Untersuchung des Antisemitismus erzählte. Ein solches Projekt sollte allerdings erst siebzehn Jahre später in den USA begonnen werden[28]. Mehr Informationen hier

 

Konferenz "Futuring Critical Theory"

Auf der internationalen Konferenz Futuring Critical Theory, die vom 13. bis 15. September auf dem Campus Westend stattfindet, wird das IfS sein neues Forschungsprogramm vorstellen. Mehr Informationen hier

 

notes:

[1] Schon vor der Jubiläumsfeier hatte Wissenschaftsministerin Angela Dorn (Grüne) der dpa mitgeteilt: „Das Land hat sich für eine signifikante Erhöhung der Grundfinanzierung des Instituts entschieden, weil es gerade jetzt die kritische Gesellschaftswissenschaft braucht, die das bundesweit einzigartige IfS betreibt“. dpa:230103-99-86031/3

[2] Löwenthal: „Wenn ich alles in Einzelheiten wieder aufzählte, würde ich eine Einheit von intellektueller Begabung, politischem Weitblick und einer durch einen großbürgerlich-jüdischen Lebensstil geprägten Phantasie zeigen, die einzigartig war.“ (Löwenthal, Leo; Dubiel, Helmut (1980): Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches. Gespräch mit Helmut Dubiel. Erstausg. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hier S. 75.

[3] Ebd. S. 76.

[4] „Das Institut für Sozialforschung ist eine kleine, vom Land Hessen und der Stadt Frankfurt grundfinanzierte,im Wesentlichen aber drittmittelabhängige Forschungseinrichtung […]“ (Lessenich 2022: 116). Lessenich, Stephan (2022): Petite Auberge Aufbruch. Zu den Möglichkeitsräumen kritischer Sozialforschung heute. Soziologie, 51. JG. , Heft 2 , S . 115–126. Hier: S.116)

[5] Adorno, Theodor W.: Kultur und Verwaltung. In: Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (1973-): Sociologica. Frankfurt am Main: Basis. S. 48-68.

[6] Eine detaillierte Nachzeichnung der Förderung des IfS durch Felix und Hermann Weil findet sich bei Erazo Heufelder, Jeanette (2017): Der argentinische Krösus. Kleine Wirtschaftsgeschichte der Frankfurter Schule. Berlin: Berenberg.

[7] Vgl. Erazo Heufelder 2017. S. 40.

[8] In offiziellem Schriftverkehr verbarg Weils „äsopische Sprache“ – wie er sie in Anlehnung an den Fabeldichter Äsop bezeichnete, der die Gesellschaftskritik seiner Geschichten versteckte, indem er Tiere als Erzählfiguren einsetzte – die kritischen Absichten des Instituts. (vgl. Erazo Heufelder 2017: 46). Mit Gerlach verfasste Weil 1922 eine Denkschrift, eine Art Exposé für die Institutsgründung. Darin steht schlicht, es gehe um die "Kenntnis und Erkenntnis des sozialen Lebens in seinem ganzen Umfang", um das Geflecht von "Wechselwirkungen zwischen der wirtschaftlichen Grundlage, den politisch-juristischen Faktoren bis zu den letzten Verästelungen des geistigen Lebens in Gemeinschaft und Gesellschaft" zitiert nach Von Friedeburg, Ludwig (2008): Geschichte des Instituts für Sozialforschung.

[9] Einzig dem verbündeten SPD-Regierungspräsidenten Haenisch in Wiesbaden vertraute man die politischen Ziele des Instituts an. Der designierte Institutsdirektor Kurt Albert Gerlach, ein marxistischer Nationalökonom, sollte mittels einer gestifteten Professur an die Universität angebunden werden, um möglichem Widerstand der Universitätsbürokraten vorzubeugen. Diese hegten Misstrauen gegenüber dem Plan eines autonomen Forschungszentrums. Gerlach erlag kurz vor seinem Antritt als Direktor einer Diabeteserkrankung. Vgl. Erazo Heufelder (2017: 46ff.).

[10] Institutsdirektor Carl Grünberg wählte in seiner Einweihungsrede am 22. Juni 1924 offenere Worte: Als „Anhänger des Marxismus“ werde er „selbstverständlich“ das Institut „ausgerüstet mit der marxistischen Forschungsmethode“ leiten. Die geladenen Universitätsvertreter und Staatsbeamten waren schockiert. (Ebd.: 45).

[11] Im Jahr 1925 erfolgten polizeiliche Ermittlungen gegen das Institut für Sozialforschung, da die Polizei die KPD verdächtigte in den Berliner Räumen des IfS ein Geheimarchiv zu unterhalten. Tatsächlich wurde in diesen Räumen Material zur wissenschaftlichen Untersuchung der Geschichte der Arbeiterbewegung gesammelt, wofür das IfS auch eine Sondergenehmigung besaß. Die Falschinformation, dass die Stiftungsvorsitzenden des Instituts, Felix Weil und Friedrich Pollock, in Beziehung zur Kommunistischen Partei standen, fand dabei Eingang in die Polizeiakten und sollte einige Jahre später den pseudo-juristischen Grund für die Enteignung des Instituts durch die Nationalsozialisten bilden (Vgl. Ebd. 50ff.).

[12] Honneth, Axel (2009): Vom schwierigen Geschäft der Traditionswahrung. Zur Zukunft des Instituts für Sozialforschung. S. 289. In: Monika Boll (Hg.): Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland ; Göttingen: Wallstein-Verl.

[13] Horkheimer, Max (1937): Traditionelle und Kritische Theorie. In: Horkheimer, Max (1987): Gesammelte Schiften Band 4: Schriften 1936-1941.  Ungekürzte Ausg. Frankfurt am Main: Fischer.

[14] „Denn schon die Vertreibung traf die Verfolgten doppelt: als linke Intellektuelle und als Juden. So wurde die Gesellschaft für Sozialforschung auf Anordnung der Staatspolizei wegen ‚Verfolgung kommunistischer Ziele‘ verboten und aufgelöst. Horkheimer, Pollock und Adorno hatten jedoch ihre Lehrbefugnis schon zuvor aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, des sogenannten Arierparagraphen, verloren.“ Boll (2011: S. 11f.) In: Boll, Monika und Gross, Raphael (Hg.): Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Wallstein Verlag, Göttingen.

[15] „Frankfurt beteiligt sich ab 1951 mit einem Drittel an den Betriebskosten des Instituts, je ein weiteres Drittel tragen das Land und die Stiftung. Allerdings verfügt das Institut nach 1945 nicht mehr über eigenes Vermögen und bleibt wegen der geringen Zuwendungen von Stadt und Land auf Drittmittelfinanzierung seiner Forschungsprojekte angewiesen.“ Drummer, Heike und Zwilling, Jutta (2009): "Die Krönung unserer eigenen Wiedergutmachungspflicht". Die Stadt Frankfurt am Main und das Institut für Sozialforschung. Hier. S 24. In: Monika Boll (Hg.): Die Frankfurter Schule und Frankfurt.

[16] Vgl. Erazo Heufelder 2017: S. 163.

[17] „Was in den empirischen Studien untersucht wurde, etwa das Gesellschaftsbild der Arbeiter oder der Studentenschaft in den 50er-Jahren, zeugt weitestgehend vom reformistischen Impuls der Stabilisierung eines demokratischen Rechtsstaates, während in den philosophischen Arbeiten Adornos und Horkheimers ungebrochen jene negativistische Geschichtsphilosophie fortlebte, derzufolge sich der liberale Kapitalismus durch Monopolbildung und kulturelle Barbarisierung in einen universalen Verblendungszusammenhang verwandelt hatte“ (Honneth 2009: S. 289).

[18] Vgl. Becker-Schmidt, Regina (2009): Nicht zu vergessen: Frauen am Institut für Sozialforschung. Gretel Adorno, Monika Plessner und Helge Pross. In: Monika Boll (Hg.): Die Frankfurter Schule und Frankfurt.

[19] „So gesehen, bleibt vom »Mythos IfS« wenig übrig: ein Rädchen im wissenschaftlichen Getriebe, das steuerfinanzierte Kürbiskerne ins Getriebe der Gegenaufklärung streut. Und ja, genau so müsste man es sehen – wäre da nicht noch Anderes und würde da zukünftig nicht noch mehr anders werden.“ Lessenich, Stephan: Petite Auberge Aufbruch. Zu den Möglichkeitsräumen kritischer Sozialforschung heute. Soziologie, 51. JG. , Heft 2 , 2022, S . 115–126. Hier: S. 117)

[20] Ebd.: S. 123.

[21] Vgl. Boltanski, Luc (2010): Soziologie und Sozialkritik. 1. Aufl. Berlin: Suhrkamp (Frankfurter Adorno-Vorlesungen, 2008).

[22] Vgl. Boltanski, Luc; Chiapello, Ève (2018): Der neue Geist des Kapitalismus. UVK-Verlag. Köln: Herbert von Halem Verlagsgesellschaft.

[23] Vgl.: FGZ-Veranstaltungsankündigung & www.fgz-risc.de/

[24] „In der Atmosphäre des Instituts, nicht nur verkörpert in Max Horkheimer, hat sich mir eine neue Welt-, Natur- und Lebenssicht weiterentwickelt […], die im wesentlichen charakterisiert waren durch die Verpflichtung zur Unabhängigkeit. Ich könnte dies nicht besser charakterisieren als unsere Losung ‚nicht mitmachen‘“ (Löwenthal & Dubiel 1980: 75). Auf einer Webseite des IfS ist ein Teil des Gesprächs mit Löwenthal nachzulesen. Dessen Titel „Mitmachen wollte ich nie“ erscheint dort als eines der Schlaglichter auf die Institutsgeschichte: Vgl.: www.ifs.uni-frankfurt.de/schlaglichter.html#schlaglicht-3-mitmachen-wollte-ich-nie

[25] Ebd.: S. 122.

[26] „Vieles von dem, was mir in Sachen Methoden der Forschungsorganisation, Formen der Wissensproduktion und Praktiken der Aufmerksamkeitsattraktion für das IfS vorschwebt, ist durch das »Unternehmen Bourdieu« (Schultheis 2019) bereits vorexerziert worden. […] Wollte man diesbezüglich von Bourdieu lernen, dann hieße dies auf Frankfurter Verhältnisse gemünzt, dessen unternehmerische Strategie hinlänglich zu entpersonalisieren und die Wort-Bild-Marke »IfS« zu kapitalisieren: die intellektuelle Potenz der Forscher:innen am IfS ebenso wie die nach wie vor um dieses sich rankenden Vorstellungen eines radikalen Denkens in Alternativen.“  (Lessenich 2022: S. 124).

[27]Georg Lukács kritisierte in seiner Abhandlung Grand Hotel Abgrund (1933, zu Lebzeiten unveröffentlicht), dass die bürgerlichen Intellektuellen in ihren Analysen stets in der Ideologie verhaftet blieben, statt die realen Klassenwidersprüche zu erkennen. Später münzte er die Bezeichnung „Grand Hotel Abgrund“ auf die Kritischen Theoretiker um. „Ein beträchtlicher Teil der führenden deutschen Intelligenz“ schrieb Georg Lukács 1962 im Vorwort zur Neuauflage seiner Theorie des Romans, „darunter auch Adorno, hat das ‚Grand Hotel Abgrund‘ bezogen, ein schönes, mit allem Komfort ausgestattetes modernes Hotel am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen.“ Adorno hielt dem entgegen, der marxistische Dogmatiker Lukács gaukele Gewissheit über die realen Verhältnisse vor, aber strebe selbst eine totalitäre Ordnung an. Vgl. Adorno, Theodor W. Noten zur Literatur II, 252.

[28] Jay, Martin (1987): Dialektische Phantasie. Die Geschichte d. Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung. Frankfurt am Main: Fischer. S: 51.