»So wurde das migrantische Leben in Deutschland nie abgebildet« – Ein Gespräch mit dem Regisseur Cem Kaya über seinen neuen Film »Aşk Mark ve Ölüm«
1. Ein neuer Blick auf die Geschichte der BRD und türkeistämmige Popkultur
Ceyda (C): Deinen Dokumentarfilm haben wir hier in Frankfurt beim Lichter-Filmfest gesehen. Und, der Film hat uns, und mich persönlich sehr bewegt. Ich kann mich erinnern, dass beim Ansehen sowohl gelacht als auch geweint habe. Viele der schillernden Bilder des Films und ganz besonders die Kritiken der deutscher Integrationspolitik sind mir in Erinnerung geblieben. Ein hartes Thema, das normalerweise in Deutschland nicht im medialen Fokus steht. Daraus ergab sich auch unsere Motivation über Deinen Film für das neue diskus-Heft zu schreiben. Die Beiträge darin beschäftigen sich mit dem Thema „Archiv“ und wir wollten deinem Film darin Sichtbarkeit verleihen.
Louis (L): Uns geht es in der Ausgabe auch darum, darzustellen, was nicht in der Mainstream Geschichtsschreibung oder den Mainstream-Archiven zu finden ist. Deswegen war für uns klar, dass wir unbedingt eine migrantischen Perspektive auf Themen wie Archivierung und Erinnerungen aufnehmen wollen. In einem Berlinale-Fernsehbeitrag über „Aşk Mark ve Ölüm“, wurde berichtet, dass Du selbst viele private und öffentliche Archive nach Material für den Film durchforstet hast. Als ich den Film dann sah, war ich begeistert von der Zusammenstellung, dem rasanten, essayhaften Stil und der Leistung, mehrere Jahrzehnte in einem Film darzustellen, ohne dass es so wirkt, dass das nicht zusammenpassen würde.
Cem Kaya (CK): Danke!
C: Was hat Dich motiviert diesen Film zu drehen? Welches Ziel verfolgte die Zusammenstellung des Archivmaterials und der Dokumentarfilm? Und was schafft dieser Film, was andere Dokumentarfilme über diese Zeit nicht geschafft haben?
CK: Also gleich mehrere Fragen. Bezüglich der ersten Frage, was ist die Motivation? Geld!
C & L: Klar! (lachen).
Uns ging es letztendlich um eine neue oder alternative Geschichtsschreibung, um einen anderen Blickwinkel auf dieses Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.
CK: Uns ging es letztendlich um eine neue oder alternative Geschichtsschreibung, um einen anderen Blickwinkel auf dieses Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn aus dieser Position wurde davon noch nie erzählt. Es gibt natürlich viele migrantische Regisseure und Regisseurinnen. Aber in all den Filmen zu diesen Themen hat meiner Meinung nach immer diese Archivebene gefehlt. Solche Archivfilme kosten viel Geld, das man normalerweise für Archivprojekte nicht erhält. Wir hatten Glück mit dem Zeitfenster „60 Jahre deutsches Gastarbeiteranwerbeabkommen“, dass ich schon etablierter Archivfilmemacher war und dass wir mehrere Produktionsfirmen waren. Also diese Konstellation ist sehr selten. Die wenigsten migrantischen Künstlerinnen und Künstler in Deutschland haben die Möglichkeit, etwas in dieser Größenordnung machen zu können. Das war unser Glück, dass wir zur richtigen Zeit, den richtigen Film bei den richtigen Leuten gepitched haben.
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Cem Kaya, 1976 in Schweinfurt geboren, hat an der Merz-Akademie Stuttgart bei Diedrich Diedrichsen und Christoph Dreher studiert und bereits mehrere Archivfilme veröffentlicht. „Remake, Remix, Rip-Off“ (2014), seine Dokumentation der türkischen Yeşilçam-Filmindustrie, die Hollywood-Blockbuster für den heimischen Kinomarkt neu auflegt, wurde bei den Filmfestspielen von Locarno uraufgeführt. „Arabesk - Gossensound und Massenpop“ (2010), in Co-Regie mit Gökhan Bulut, zeichnet die Alltagskultur rund um die Arabeskmusik nach, die das Leid der aus den Dörfern in die Arbeiter_innensiedlungen der großen türkischen Metropolen migrierten Massen ausdrückte.
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L: Es ging also um einen neuen Blick auf einen Teil der Geschichte, der in der deutschen Gesellschaft verdrängt wurde. Da hat es sich wahrscheinlich thematisch angeboten, vor allem mit Archivmaterial zu arbeiten?
Mein neuer Film ist der dritte Film einer Art Trilogie, die sich mit türkischer Popkultur auseinandersetzt, und das Thema Migration schwingt da natürlich immer mit.
CK: Ja, es hat sich zum Einen in Bezug auf das Thema angeboten und zum Anderen bin ich gewissermaßen auf die filmische Arbeit mit Archiven spezialisiert. Ich arbeite als Filmemacher schon seit ich denken kann mit Found Footage, und habe großen Spaß daran. Bereits mein Abschlussfilm „Do Not Listen!“ an der Merz-Akademie in Stuttgart, wo ich studiert habe, bestand nur aus Archivmaterial. Die letzten beiden Filme „Remake-Remix-Ripoff“ und „Arabesk“ sind auch verspielte Archivfilme. Mein neuer Film ist der dritte Film einer Art Trilogie, die sich mit türkischer Popkultur auseinandersetzt, und das Thema Migration schwingt da natürlich immer mit.
Arabesk vom Gossensound zum Massenpop ist eine 60-minütige Dokumentation über das Phänomen der Arabesk-Musik in der Türkei. Die Arabesk-Musik – Ceyda, die kennst Du sicher – ist eigentlich auch die Musik der Binnenmigration von den Dörfern in die Großstädte innerhalb der Türkei. In den Großstädten bildeten diese Leute gewissermaßen einen Bodensatz der Arbeiterklasse. Sie lebten in diesen Shanty Towns, den GecekondularGecekondu ist die türkische Bezeichnung für eine informelle Siedlung, also ein ungeplantes Viertel mit sehr einfachen Unterkünften am Rande einer Großstadt. Übersetzt bedeutet es so viel wie „über Nacht hingestellt“ (türkisch gece: Nacht). Meist wurden hierfür Hütten in Nacht und Nebel Aktionen auf privatem oder öffentlichem Boden in Nacht- und Nebelaktionen erbaut., und fanden einen Ausdruck in der Arabesk-Musik, Popmusik, die in den Studios Istanbuls produziert wurde.
In „Remake, Remix, Rip-Off“ habe ich das türkische Kino zwischen den 60er- und 90er-Jahren und dessen Kopierkultur untersucht. Ich habe mich gefragt, woher hat man die Stoffe bekommen und wie hat man sie dann auf Türkisch umgesetzt und für das einheimische Publikum angepasst. Dort trifft man etwa auf türkische Supermänner oder türkische Verfilmungen von William Friedkins „The Exorcist“ oder von Billy Wilders „Some like it hot“ und allen möglichen amerikanischen, italienischen oder indischen Filmen.
L: Du meintest bei den zwei vorherigen Filmen, steht auch ein wenig das Thema Migration im Hintergrund. Was hat die in „Remake, Remix, Rip-Off“ gezeigte Filmkultur mit Migration zu tun?
CK: Auf den ersten Blick hat diese Kinolandschaft damit gar nicht viel zu tun. Aber wir hier in der Fremde in Deutschland haben diese Filme Jahre später auf Videokassetten bekommen. Und der Videokassettenkonsum war ein ganz wichtiger Teil unseres migrantischen Lebens hier in Deutschland. In den 80er Jahren gab es noch keine Satellitenschüsseln und somit konnte ich als Kind türkische Filme entweder in den Ballungszentren in türkischen Kinos sehen oder man hat sich Videokassetten ausgeliehen. Damit sind wir großgeworden. Denn im deutschen Fernsehen gab es keinen türkischen Content. Diese Sozialisierung hat mich letztendlich dazu gebracht, mich mit türkischer Popkultur auseinanderzusetzen.
C: Wann hast Du begonnen, an „Aşk Mark ve Ölüm“ zu arbeiten?
CK: Um die Jahre 2016 und 2017 habe ich mich für das Thema türkeistämmiger Musik in Deutschland interessiert, aber darauf kam ich nicht selbst, das war der Zeitgeist damals. Zeitungen wie die taz hatten bereits große Artikel darüber geschrieben, da unsere Freunde İmran Ayata und der Bülent Kullukcu im Jahr 2014 die Compilation „Songs of Gastarbeiter“ herausgebracht haben.
C: Die ist toll! Was hat diese Musiksammlung bei Euch ausgelöst?
[…] alle zehn Jahre kommen die Deutschen und gießen einem die Blumen (lacht) und auf einmal gibt es Budgets und auf einmal wollen alle Sender diese Themen haben.
CK: Diese Songs-of-Gastarbeiter-Compilation hat uns allen hier so ein bisschen die Augen geöffnet. Denn nach türkeistämmiger Kultur haben wir zuvor immer in der Türkei gesucht und auf einmal merkten wir ‚Ah, Moment Mal, stimmt ja, wir haben ja in Deutschland eine für sich stehende eigenständige Kultur, die sich ganz anders entwickelt hat als in der Türkei‘. Es kamen zu dieser Zeit viele Menschen auf mich zu und haben gefragt, ‚hättest du nicht Lust, zu diesem Thema was zu machen?‘. Das war kurz vor dem 60 Jahre Gastarbeiter Jubiläum und da ist ja dann immer so, alle zehn Jahre kommen die Deutschen und gießen einem die Blumen (lacht), und auf einmal gibt es Budgets und auf einmal wollen alle Sender diese Themen haben usw. Den Anfang nahm das Projekt aber erst später als ich sehr gute Mitstreiter fand, die zur gleichen Zeit die gleiche Idee hatten. Das sind der Producer und Regisseur Mehmet Akif Büyükatalay, der die Produktionsfirma Filmfaust in Köln besitzt und Ufuk Cam, der Co-Autor und Archivchef des Teams war. Wir haben dann mit der Produktionsfirma Film Five aus Berlin dieses Projekt zusammengestellt.
C: An welchem Punkt in der Geschichte der Migration aus der Türkei nach Deutschland setzte Eure Arbeit an?
CK: Wir wollten die lange Vorgeschichte der türkeistämmigen Musik in Deutschland aufarbeiten. Wir haben uns dann angeschaut, seit wie vielen Jahren sind diese Menschen schon hier und wie lange bewegt sich musikalisch hier in Deutschland schon autark etwas, also etwas Eigenes, das nicht aus der Türkei importiert wurde, sondern hier entstanden ist. Schnell haben wir dabei gemerkt, dass mit dem Label Türküola in Köln und mit Volkssängern wie Aşık Metin Türköz ganz früh in den 60er-Jahren, in den allersten Jahren der Gastarbeiter, hier eine musikalische Szene mit eigenen Stilen wie dem der Gurbet TürküleriDie sog. Türküs bezeichnen Volkslieder, die durch mündliche Überlieferungen weitergegeben wurden und teilweise schon mehrere Jahrhunderte alt sind. Sie sind oftmals auch als Klagelieder zu verstehen, in denen es z.B. um Liebe, Liebeskummer oder um Ungerechtigkeiten auf der Welt geht. Die Übersetzung »Fremde« drückt den Bedeutungsreichtum des Wortes Gurbet nur unzureichend aus. Die Menschen, die das Familienhaus verlassen und in ein anderes Land ziehen, um zu arbeiten oder zu studieren, werden als Gurbetçi bezeichnet. Gurbet heißt nicht nur »die Fremde« oder »das Leben in der Fremde«, sondern das Wort vermittelt auch Sehnsucht, Vermissung und Zerrissenheit außerhalb des ›Heimat‹orts. - den türkischen Liedern aus der Fremde – entstanden ist. Denn Amateurmusiker sind als Arbeiter nach Deutschland gekommen und haben in den Wohnheimen diese Musik gespielt. Und zum Glück gibt es den WDR, der schlau genug war just in dieser Zeit das alles aufzunehmen. Denn sonst hätten wir das visuelle Material nicht.
C: Im Film sieht man immer wieder Ausschnitte aus TV-Sendungen. In was für Formaten tauchte Musik von türkeistämmigen Migrantinnen und Migranten beim WDR auf?
CK: Es gab beim WDR ab dem Jahr 1965 eine Sendung namens „Ihre Heimat, unsere Heimat“ – auf Türkisch: „Sizin vatanınız - bizim vatanımız“. Die haben für die unterschiedlichen Gastarbeitergruppen Sendungen zusammengestellt und die Redaktionen arbeiteten in Landessprache, d.h. es gab für die Italienern und Italienerinnen entsprechend eine Redaktion bestehend aus Italienern und Italienerinnen, und entsprechend eine Redaktion für Jugoslaw_innen, Spanier_innen, Griech_innen, Portugies_innen und dann eben auch Migrant_innen aus der Türkei. Alle zwei Wochen, kam eine Sendung, die die türkische Redaktion vorbereitet hatte. Am Anfang waren das eigentlich Reels, in denen man zum Beispiel einfach Sportveranstaltungen wie Ringen, Fußball oder eine Sängerin oder einen Sänger gezeigt hat. Und irgendwann gab es Nachrichten in Landessprache und neben einem gesellschaftlichen Teil, einen zu Kunst. Dabei wurde pro Sendung eine Musikerin, ein Musiker, meistens aus dem Raum Köln, da hier der WDR saß, portraitiert bzw. sie oder er hat dann etwas gesungen. Diese Sendung lief über einen Zeitraum von dreißig, vierzig Jahren und hieß später Babylon und dann Cosmo TV. Dabei ist ein riesiges Konvolut an Archivaufnahmen entstanden, woraus man einen eigenen Film machen könnte.
L: Welche Bedeutung kommt dem visuellen Archivmaterial zu?
Wenn es Bilder von damals gab, dann diese Schwarz-Weiß-Bilder, wie Migranten am Bahnhof ankommen und dann im Stahlwerk malochen usw.
CK: Das Video- und Bildmaterial aus den Archiven hat uns eine neue Geschichte gegeben, weil das migrantische Leben hier in Deutschland so nie abgebildet wurde. Wenn es Bilder von damals gab, dann diese Schwarz-Weiß-Bilder, wie Migranten am Bahnhof ankommen und dann im Stahlwerk malochen usw. Selbstständige Frauen, die alleine nach Deutschland gekommen sind, um zu arbeiten, wurden nie abgebildet. Dabei war ein Drittel aller Gastarbeiter Gastarbeiterinnen. Das Bildmaterial im Film ist zugebenermaßen trotzdem männerdominiert, aber wir versuchen Frauen dieser Zeit abzubilden.
C: Was wäre ein Beispiel für ein Ereignis, das im Film auftaucht, aber in gängigen Erzählung über diese Zeit nicht vorkommt?
CK: Die Geschichtsschreibung erzählt zum Beispiel den Fordstreik 1973. Aber der von Gastarbeiterinnen organisierte Pierburg-Streik in Neuss, der auch viel effektiver war, findet in den historischen Darstellungen gar nicht statt. Es ist ganz wichtig, dass man diese Bilder hochholt. Und das versuchen wir im Film. Es gab den Ford-Streik und wir erzählen natürlich dessen Geschichte. Aber es gab auch den Pierburg-Streik und der hat letztendlich mehr ausgelöst. Der Pierburg-Streik hat dazu geführt, dass die Leichtlohngruppe, die Lohngruppe 2– also diese Frauengruppe für in Anführungszeichen leichte Arbeit – abgeschafft wurde, aber bundesweit! Der Ford-Streik hatte ja keinen Impact. Die haben den ja nach vier, fünf Tagen niedergeprügelt. Bei Pierburg haben sich jugoslawische, türkische, griechische und deutsche Arbeiterinnen miteinander solidarisiert und einfach diesen Betrieb lahmgelegt. Und die deutsche Wirtschaft konnte nicht anders als ihnen nachzugeben, weil Pierburg damals 80 Prozent aller Autovergaser in Deutschland produziert hat. Das heißt, hätte Pierburg stillgestanden, hätte die restliche Autoindustrie stillgestanden. Es gibt auch einen Dokumentarfilm darüber: „Pierburg. Ihr Kampf ist unser Kampf“ von Edith Schmidt und David Wittenberg. Checkt den mal aus, der ist großartig.
L: Wir sind ja eine Frankfurter Zeitschrift und interessieren uns daher auch besonders für das migrantische Leben in Frankfurt. Welche Szenen im Film zeigen denn das Leben in Frankfurt?
CK: Im Film gibt es eine Stelle, da sitzen sie in den Wartehallen der Bahnhöfe, und dann gibt es einen Kommentar, der nennt das die Wartehallen des Heimwehs. Diese ganze Strecke ist aus dem tollen Film des SWR "Die Mülltürken von Frankfurt". Dort wird insbesondere das Nachtleben türkeistämmiger Gastarbeiter_innen dokumentiert. In unserem Film taucht auch eine Szene auf, in der ein Gastarbeiter schildert, dass sein Kumpel in einer Kneipe von einem Deutschen zusammengeschlagen wurde. Also Frankfurt war damals schon eine härtere Gegend. Vor allem die Glückspielszene war stark ausgeprägt. Also viele Musiker erzählen mir, dass sie irgendwo gespielt haben und dann auf dem Rückweg in Frankfurt in die Spielhölle gegangen sind, um da das ganze verdiente Geld wieder zu verlieren.
C: Was waren Besonderheiten der Frankfurter Musikszene?
CK: Frankfurt war vor allem deswegen besonders wichtig, weil es dort den Flughafen gab. Alle Import-Export Geschäfte wurden über den Frankfurter Flughafen abgewickelt. Die Musikkassetten sind in Frankfurt angekommen und wurden von dort in die Türkei verschickt. Es gab die drei großen Labels, Türküola in Köln, Uzelli in Frankfurt und Minareci in München. Uzelli war ganz wichtig, für den Vertrieb von Audio- und Videokassetten. Die Firma gibt es weiterhin und Metin Uzelli hat ein großartig sortiertes Archiv in Istanbul, das ich besucht habe.
2. Kollektive Erfahrungen und Erinnerungen
C: Inwiefern sind die persönlichen Erinnerungen der Menschen, mit denen ihr für den Film gesprochen habt, Teil eines oralen Archivs?
Mündliche Erzählungen sind ganz wichtig, denn man erfährt darin Details, die man in der Geschichtsschreibung erstmal nicht findet.
CK: Mit vielen Gesprächspartnern bin ich erstmal durch Bilderwelten gegangen, die in Form von Videokassetten oder Fotoalben vorlagen. Mündliche Erzählungen sind ganz wichtig, denn man erfährt dadurch Details, die man in der Geschichtsschreibung erstmal nicht findet. Andererseits wird dabei auch vieles weggelassen und dann muss man geschickt nachbohren und erfährt mit Glück die lustigeren Dinge oder kuriose Details. Aber du hast natürlich das Problem, dass viele Zeitzeugen und Zeitzeuginnen die Vergangenheit, die teils über vierzig Jahre zurückliegt, verklären oder sehr subjektiv davon erzählen. Um herauszufinden, was diese Zeit ausgemacht hat, habe ich daher mit möglichst vielen Menschen gesprochen. Es geht insgesamt nicht um einzelne Ereignisse, sondern um kollektive Erfahrungen, die wir auf eine gewisse Weise alle gemeinsam gemacht haben.
C: Als ich im Film die Szenen zur Hochzeitskultur und dem Türkischen Bazar in Berlin gesehen habe, habe ich gemerkt, dass ich das überhaupt nicht kannte. Meine Großeltern haben auf dem Dorf gewohnt und in einer Stahlfabrik gearbeitet. Diese urbanen Erzählungen kannte ich und meine ganze Familie gar nicht, weil wir in der Pfalz waren. Deswegen habe ich mich gefragt, ob der Film sich nicht auf die Erzählungen aus den Metropolen wie Köln, Berlin, München, Frankfurt konzentriert und wie das zum Anspruch passt, von kollektiven Erfahrungen zu erzählen. Wenn wir davon ausgehen, dass Musik eine Art Zeitgeist ausdrückt, denkst Du, dass sie das kollektive Gedächtnis der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter zum Ausdruck bringen kann? Ich würde persönlich behaupten, dass dieser erste Teil im Film, „Liebe“, wo die Menschen zum Beispiel erzählen, ‚ich bin mit meinem Koffer und meiner Saz gekommen‘ eher von vielen von damals Zustimmung erfährt als der zweite Teil im Film, „D-Mark“, in dem Zeitzeugen und -zeuginnen über die Feierkultur sagen, „da war super viel D-Mark im Umlauf“. Ich glaub mein Opa findet nicht, dass super viel D-Mark im Umlauf war (lacht).
Wir sind ja nicht eine homogene migrantische Masse.
CK: Das verstehe ich. Aber vielleicht sind das verschiedene Aspekte. Wir sind ja nicht eine homogene migrantische Masse. Untereinander unterscheiden wir uns stark. Manche leben auf dem Land, manche leben in Ballungszentren, man kommt aus unterschiedlichen ethnisch-religiösen Kontexten usw. Wenn man sich das vor Augen hält, ist klar, dass nicht jeder abgebildet wird. Du kommst aus der Pfalz, ich komme aus Franken. In der Kleinstadt, aus der ich komme, gab es viel Stahlindustrie und dort waren sehr viele Migrantinnen und Migranten aus der Türkei, aber kulturell gab’s da letztendlich nicht so viel. Wir mussten zum Beispiel auch mit dem Auto nach Duisburg oder Nürnberg fahren, um zur nächsten Hochzeit zu kommen. Und bei uns gab es diese GazinoEin Gazino ist ein großes Restaurant (oder eine Bar) mit Musikprogramm.-Kultur in der Form auch nicht. Es findet also erstens mehr in den Metropolen statt. Zweitens willst Du dein Publikum auch nicht langweilen. Du willst ja lustige Geschichten erzählen. Und schließlich will man ja auch den Migrantinnen und Migranten auf dem Land erzählen, wie es in der Stadt war.
C: Aber wie war das denn für dich von diesen Gazinos zu erfahren? Als ich den Film gesehen hab, dachte ich mir, ich wünschte ich hätte damals gelebt (lacht).
[…] wenn wir in die Keupstraße in Köln gekommen sind oder nach Berlin-Kreuzberg, dachten wir, Oh mein Gott, es gibt hier ja ein ganz anderes migrantisches Leben als bei uns in der Kleinstadt.
CK: Ich kannte die Gazino-Kultur, weil meine Großonkeln in Köln und Rüsselsheim gelebt haben, wegen der Opel und Ford-Werke. Und darüber hinaus sind wir unglaublich viel rumgefahren, weil wir viele Verwandte in ganz Deutschland hatten. Den Türkischen Bazar in Berlin kannte ich nicht, da war ich nie. Aber es war für uns tatsächlich so, wenn wir beispielsweise in die Keupstraße in Köln gekommen sind oder nach Berlin-Kreuzberg, dachten wir: Oh mein Gott, es gibt hier ja ein ganz anderes migrantisches Leben als bei uns in der Kleinstadt. Da hat man nicht die Stadt Berlin oder Köln abgefeiert, sondern das migrantische Leben dort, weil man gesagt hat, ey hier sind wir auf einmal so viele, in der Provinz sind wir drei Familien. Und dementsprechend war das ziemlich toll. Und die Hochzeiten waren die Hochzeiten. Ich weiß nicht, wie gut Du dich erinnerst, Ceyda? Das war die Mehrzweckhalle, dann der Hähnchenwagen usw. Die großen Konzerte, von denen im Film erzählt wird, haben ja nicht nur in den Ballungszentren stattgefunden. Eine Hochzeit konnte auch in der Pfalz stattfinden und dafür sorgen, dass Musiker dort aufgetreten sind. Also in unsere Gegend in Franken gab es viele türkische Hochzeiten und dadurch, dass die Band Derdyioklar aus Nürnberg waren, hat man die dort auch öfter erlebt.
L: Was mir auch noch in Erinnerung geblieben ist, dass Du geschrieben hast, dass diese türkeistämmige Musik für dich keine Subkultur und auch kein Underground oder so ist. Du schreibst, das ist Popmusik.
Es ist keine Subkultur, sondern eine Parakultur […] Eine Kultur, die nebenbei stattfindet.
CK: Es ist keine Subkultur, das ist eine Parakultur, wie es Thomas Groh von der taz letztens geschrieben hat. Eine Kultur, die nebenbei stattfindet. Und para heißt ja auch Geld auf Türkisch. Es ist eine wahrhafte para-Kultur (lacht).
L: Ah, verstehe (lacht). Im Sinne der Parakultur erzählt ja auch das Paar Yüksel und Ihsan Ergin im Film vom Ansturm auf ihren Kassettenladen in Berlin. Die Leute seien bei ihnen Schlange gestanden und die Deutschen hätten davon nichts mitbekommen.
CK: Also nochmal dazu, warum das keine Subkultur ist. Man kann in Deutschland jedes Wochenende Autokorsos auf den Straßen sehen und hören, wenn man nicht gerade in der Pfalz wohnt. Das wird hier immer wieder thematisiert und auch gleich problematisiert, oh da steht die Autobahn wieder still und die Türken machen wieder ihren Korso. Aber dass daran kulturelle Rituale und Musik dranhängen, wird übergangen. Wenn die Braut mit Davul ZurnaDavul & Zurna ist Türkisch für Pauke & Schalmei (eine Art Flöte). Traditionell wurde bei türkischen Hochzeiten ein Pferdewagen festlich geschmückt, um sich gemeinsam musizierend und tanzend auf den Weg zum Haus der Braut zu machen. Heutzutage wird meist in einer Autokolonne zum Haus der Braut gefahren, wo bereits die Davul-Zurna-Musikanten warten. abgeholt wird, dann halten sich die Deutschen die Ohren zu. Und dann heißt es aber, wir haben nichts davon mitbekommen. Davul Zurna ist wirklich laut, man kann es eigentlich kaum ignorieren. Aber die Deutschen sind wirklich gut im Ignorieren, die machen das wirklich mit Inbrunst (lacht). Aber ich will die auch nicht bashen, du musst ja erstmal zu einer Hochzeit eingeladen werden. Und wir können uns genauso fragen, was wissen wir über die syrische Kultur? Seit fünfzehn Jahren wohnen hier Syrer und auf wie vielen syrischen Hochzeiten waren wir? Und auf syrischen Konzerten? Welche syrischen bzw. arabischen Musikgenres kennen wir wirklich? Da muss ich mir genauso die Frage stellen, warum bin ich so ignorant?
C: Ich habe noch eine Frage aus einem eher persönlichen Anliegen heraus. Am Anfang des Films sagt ein Mann, der in den Zug einsteigt: "Ich hab meine Saz und meinen Koffer gepackt". Ich habe den Eindruck, dass die Saz ganz oft als Symbol Anatoliens und alevitischen Lebens verstanden wird. Siehst Du das auch so? Und weißt Du, wie sich das Instrument hier verbreitet hat?
CK: Also wir sagen ja nicht Saz, sondern Bağlama. Saz heißt Instrument im Allgemeinen. Wenn man Sazlar sagt, meint man die Instrumente oder die Instrumentierung. Die Bağlama heißt im Alevitischen, der Koran mit den Saiten, weil die Religion meist über Musik vermittelt wird. Musik ist ein ganz großer Teil des Alevitischen und dementsprechend hat sie einen ganz großen Stellenwert in dieser Gemeinde. Die großen alevitischen Aşıks, wie zum Beispiel Pir Sultan Abdal, sind ja nicht nur Sänger, sondern fast schon Heilige. Die alevitische Kultur in Deutschland hat sich, ähnlich wie die kurdische, hier ja nochmal ganz anders entwickelt. Es gibt in fast jeder Stadt ein Cemevi, also ein Cem-Haus, wo das Alevitische praktiziert wird. Die türkischen Pogrome an Aleviten und Kurden in den 80er- und 90er Jahren haben dazu geführt, dass viele nach Deutschland ausgewandert sind, wo sie ihre Religion und Kultur frei ausüben konnten. Das hat zu einer eigenständigen musikalischen Entwicklung hier in Deutschland geführt. In den deutschen Ballungszentren hat sich die Musik zum Beispiel über Bağlama-Kurse verbreitet und wurde dadurch an die folgenden Generationen weitergegeben.
C: Im Film sieht man ja İsmet Topçu auf einer umgebauten Bağlama spielen.
CK: Die Bağlama hat in Deutschland ganz andere Stile hervorgebracht. İsmet Topçu zum Beispiel, ein Künstler aus Bielefeld, hat eine Bağlama mit vier statt drei Doppelsaiten entwickelt, die er wie eine Gitarre spielen kann. Es ist eher eine Bouzouki als eine Bağlama. Er hat eine Basssaite oben und auf einmal entsteht in Bielefeld ein neuer Bağlama-Stil. Und das finde ich interessant, dass dann Deutschland zu einer musikalischen Region der Türkei wird. Also wir sind so etwas wie die Region Antalya, aber wir sind halt Almanya. Und das passiert überall in Deutschland. Es entstehen neue Schulen und Stile. Es gab 1999 oder 2000 eine von Arif Sağ und Betin Güneş geleitete Veranstaltung in Köln „1000 Jahre Bağlama“, wo 1000 Menschen Bağlama gespielt haben. Kannst du dich daran erinnern, Ceyda?
C: Nein ich war da erst zwei Jahre alt. Aber ich glaube, es gab eine ähnliche Veranstaltung in Köln vor zwei Jahren in der Lanxess-Arena. Dort wurde 30 Jahre alevitisches Leben in Deutschland gefeiert und eine Musikschule aus Offenbach war auch dort.
Wir kennen unsere Geschichte in Deutschland nicht.
CK: Also jetzt kommt die Erinnerung wieder. Du beantwortest gerade deine Frage selber (lacht). Ich denke, es hat viel damit zu tun, wie sehr man sich mit dieser Geschichte beschäftigt. Und jetzt komme ich wieder auf diese Bilder zurück. Wir kennen unsere Geschichte in Deutschland nicht. Das ist das Problem. Wir jungen Leute kennen sie nicht. Meine Generation kennt sie nicht, eure Generation kennt sie nicht. Die ganz Alten kennen sie so ein bisschen. Über das geschickte Benutzen von Archivmaterial im Film können wir auf der Nostalgie- und Wissensebene auf einmal in eine Welt hineinschauen, die unsere ist und war, aber von der wir keine Bilder mehr im Kopf hatten, außer solch schwacher erloschener Erinnerungen.
L: Wie fielen denn bisher die Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer aus? Was hat der Film bei ihnen ausgelöst?
Irgendwie fühlt man sich ermächtigt, irgendwie hat man das alles wiedererlebt. Und da kommt auch ganz viel Liebe zurück.
CK: Wir machen ja gerade eine Kinotour und ich bin ja bei fast jedem Screening dabei, ob in Deutschland oder der Türkei. Und das Feedback ist unglaublich. Das ist ja das Interessante, dass wirklich alle drei Generationen oder vier Generationen kommen und sich bedanken und sagen, endlich werden wir gesehen im Sinne von repräsentiert und dann haben wir auch noch so viel Spaß dabei und Du führst uns durch diese ganzen Emotionen und wir sind mal traurig, mal lachen wir. All das kommt in diesem Film zusammen. Das ist ja eine Art Achterbahnfahrt der Gefühle. Irgendwie fühlt man sich ermächtigt, irgendwie hat man das alles wiedererlebt. Und da kommt auch ganz viel Liebe zurück.
L: Und das schafft ja die Kunst, oder? In einem Artikel des Tagesspiegels über deinen Film wirst du mit den Worten zitiert: „Man schaut mit der Lupe auf das Phänomen Gastarbeiter und will es verstehen. Das wollen wir Deutschen ja immer: verstehen. Nur manchmal gibt es nichts zu verstehen, sondern nur zu fühlen.“
CK: Klar, keiner schaut sich den Film an und ist emotionslos.
C: Am Ende gibt es eine Szene, wo die Stimme von Derya Yıldırım komplett versagt, und eine Träne nach der anderen fließt. Das war auch richtig schön!
CK: Ja, stell dir mal mich vor, ich habe das drei Jahre lang geschnitten (lacht). Das prallt ja auch an mir nicht ab. Jedes Mal bei dem Derya Yıldırım Part floß es links und rechts runter bei mir. Das funktioniert auch, wenn man den Part hundertmal gesehen hat. Aber das ist auch die einzige Stelle, an der wir keine Untertitel benutzen und den Song nicht übersetzen. Damit das nicht-türkischsprachige Publikum mitfühlt und nicht versucht, das Lied inhaltlich zu begreifen.
3. Was archiviert Musik?
L: Wenn man den Film sieht, begegnet einem am Anfang Musik, die vor allem den Schmerz der Trennung von der Heimat und den Geliebten beklagt. Texte und Sounds drücken eine starke Melancholie aus. Dann gibt es ab den 70er-Jahren eine Phase mit Künstlern wie Cem Karaca, in der eine viel größere Wut spürbar wird, wo ein anderes Selbstbewusstsein zu sehen ist, in der in viel deutlicher Kritik an der deutschen Gesellschaft geübt wird. Ein wenig abstrakter in Bezug auf das Heftthema gefragt: Was archiviert Musik? Was macht Musik als Medium mit Sound, Rhythmus und Lyrics in dieser Hinsicht besonders? Und was können wir anhand der Musik über die Zeit der sogenannten Gastarbeit und über die türkeistämmige Community lernen?
Es zieht sich über die Jahrzehnte hinweg immer ein Thema durch die Musik […] hindurch, und das ist der Rassismus
CK: Ich weiß gar nicht, ob ich das beantworten kann. Was İmran Ayata im Film sagt, ist, dass sich eigentlich über die Jahrzehnte hinweg immer ein Thema durch die Musik oder die Texte hindurch zieht, und das ist der Rassismus. Es geht sehr viel um strukturellen oder systemischen Rassismus, gar nicht so sehr um den Rassismus, der auf der Straße stattfindet. Wenn Metin Türköz nach Deutschland kommt und dann erstmal sagt, hey momentmal wir dürfen nur in der Fabrik duschen, dann ist das erstmal ein Protest. Und das kommt aus der Aşık -Kultur (arab. Achik). Der Aşık ist ein Volkssänger, der Melodien improvisiert und dann Zeitgeschehen kommentiert, die großen religiösen oder mystischen Sagen besingt oder Gossip von einem Dorf zum nächsten transportiert. Diese Tradition kommt aus dem Vorderen Orient und ist an sich nichts Türkisches. Der Aşık liebt in einem weiteren Sinne alle Menschen - das Wort stammt von Aşk, also der Liebe.
L: Welche Rolle spielt diese Aşık-Kultur denn für die ersten Gastarbeiter_innen in Deutschland?
CK: Die ersten Amateur-Aşıks, die nach Deutschland kommen, sind eigentlich die Chronisten der Migration. Die kommentieren das Mal lustig sarkastisch, mal traurig mit Herzschmerz. Die erzählen ja nicht nur von beschwerlichen Dingen, sondern auch von den heiteren Seiten des Lebens. Sie machen ja zum Beispiel auch Lieder über die deutschen Mädchen, wie Adnan Türköz mit seinem Song „Monika“, oder über alles Mögliche, was sie in Deutschland kurios finden. Andererseits geht es natürlich auch um wichtige Ereignisse. Aşık Metin Türköz hat zum Beispiel unmittelbar nach dem Ford-Streik einen Song darüber rausgebracht.
L: Welche Stimmungen transportiert Musik nach der Anfangszeit der Gastarbeit und inwiefern zeigen sich in der Musik Brüche in Bezug auf die verschiedenen Generationen türkeistämmiger Menschen?
Wir brauchten neue Musik. Uns kam Popmusik aus der Türkei, wie der der Sängerin Sezen Aksu, und in Deutschland produzierter HipHop zu Hilfe, um unseren eigenen Ausdruck zu finden.
CK: Später merkt man, vor allem in der Musik, die nicht hier produziert wurde und keine Unterhaltungsmusik war, dass dabei viele Stimmungen, Meinungen und auch viel Unwohlsein transportiert wird. Das mündet dann später in den politischen HipHop in den 90er Jahren als die Anfeindungen viel größer werden, Anschläge passieren, und Menschen sterben. Und da hat sich einiges angesammelt und diese Wut ist ja Ausdruck und dieser Ausdruck der muss raus. Und HipHop ist Ausdruck für viele, weil zu dieser Zeit 700 Tausend Jugendliche der zweiten Generation in Deutschland leben, denen die Zukunft verbaut wurde. Die haben keine Perspektive. Die sind arbeitslos, viele sind spielsüchtig oder drogensüchtig, werden kriminell etc. Die haben einfach ein Problem, dass sie nirgendwo dazugehören und finden den Ausdruck dafür dann in dieser Musik. Sie können den Ausdruck dafür aber nicht in der Musik der damaligen Elterngeneration finden. Das ist das Problem. Die Arabesk-Musik eines İbrahim Tatlıses oder Ferdi Tayfur mit ihrem klagenden und von Herzschmerz erfüllten Charakter war die Musik der damaligen Elterngeneration. Unseren Eltern half sie mit der Binnenmigration und der Entwurzelung umzugehen. Wir brauchten neue Musik. Uns kam Popmusik aus der Türkei, wie der der Sängerin Sezen Aksu und in Deutschland produzierter HipHop zu Hilfe, um unseren eigenen Ausdruck zu finden.
L: Und auch sprachlich passiert ja einiges in der Musik. Es tauchen ja auch mehr deutsche Texte und Songtitel auf.
CK: Genau und irgendwann kommt Muhabbet und macht das ganz auf Deutsch zum Beispiel. Und auf einmal haben wir wieder einen Ausdruck für uns gefunden und haben gesagt alles klar, türkische Kehle, deutsche Texte, weil das genau das ist, was wir hier ja auch praktizieren und leben in unserem Alltag. Das ist die Bedeutung von Musik.
L: Du hattest schon erwähnt, dass die Archivbilder eine neue Geschichte erzählen sollen. Deine Archivcollage ist ja essayhaft aufgebaut. Nachrichtenbilder, Privataufnahmen von Hochzeiten, Neugefilmtes, Interviewmaterial von heute, Musikvideos und mehr werden teils rasant zusammengeschnitten. Und im Film wird das ganze ohne Audiokommentar gezeigt, also es gibt höchstens mal textliche Überleitungen, etwa zwischen den drei Hauptteilen. Warum hast du dich für diesen Stil entschieden, welche Vorzüge hat das?
CK: Um ehrlich zu sein, mach ich das immer so und kenn's nicht anders. Voice over benutze ich nie. Früher habe ich das ganz abgelehnt. Mittlerweile denke ich, dass man Filme mit voice over machen kann und dass die auch sehr gut werden. Aber ich selber versuche das zu vermeiden. Außerdem gibt ja in diesem Film voice over aus dem Archivmaterial selbst, weil es sehr viel öffentlich-rechtliches Material ist. Und das hat mir die Arbeit erleichtert. Weil wenn ich normalerweise versuche, das Material nur über den Schnitt zusammenzubauen, dann ist das viel schwieriger etwas Sinnvolles aneinanderzukleben.
L: Gab es irgendeine Szene im Film, bei der Du im Nachhinein sagen würdest, das hätte ich gerne kommentiert oder an der Stelle wäre ein Kommentar besser gewesen?
CK: Hmm bevor ich ganz nein sage, muss ich kurz überlegen.
L: Ich bin an einer Stelle stutzig geworden als ich den Film gesehen habe. Im Nachhinein dachte ich dann, es war grundsätzlich gut, dieses Material im Film auch zu zeigen, aber ich bin skeptisch, ob man es so darstellen sollte. Im Filmabschnitt über den HipHop der 90er Jahre wurde die Gruppe Karakan gezeigt, die rappt sinngemäß, mit uns könnt ihr das in Deutschland nicht machen, wir sind nicht wie die JudenAnmerkung der Redaktion: Die angesprochene Filmszene zeigt ein Archivvideo eines Auftritts der Gruppe Karakan, wobei der Track „Defol Dazlak“, übersetzt „Verpiss dich Glatze“, performt wird. Der Track wurde 1993 einen Tag nach dem rechtsradikalen Brandschlag von Solingen veröffentlicht und rief zu Härte gegenüber Neonazis auf. Karakan rappen in ihrem Song u.a. folgende Zeile: »Kel kafa bizi Yahudi zannetme, Biz Türk’üz ya özgürüz ya ölürüz« (»Glatzkopf, verwechsle uns nicht mit den Juden. Wir sind Türken, wir sind entweder frei oder tot«). Die Darstellung von Juden als willige Opfer ist eine recht gängige antisemitische Schablone.. Da kann man sich ja jetzt fragen, muss ich das kommentieren, dass so ein Satz nicht okay ist, oder lasse ich das Material für sich sprechen, ist ja beides möglich.
Die türkische Rechte hat versucht, sowohl diese Ereignisse als auch die Musik zu besetzen […] Das sind aber Themen, die können wir in so einem Film nicht unterbringen, weil wir einen Abriss in 90 Minuten machen.
CK: Ich glaube, das kann man in einem Film, der als FSK 12 eingestuft wurde, schon zeigen. Das ist ja Protestmusik, die kommt hart daher und verschont auch niemanden. Man kann darüber diskutieren, ob ein Satz wie „Wir sind nicht wie die Juden“ antisemitisch gemeint ist oder im Sinne von „wir sind keine Opfer“. Er konfrontiert die Deutschen mit ihrer Nazi-Vergangenheit, das ist im Entstehungskontext dieses Songs erstmal nicht verwerflich, und deswegen kann man das meines Erachtens unkommentiert stehen lassen. Es öffnet ja auch den Diskurs darüber, inwieweit manche Gruppen als Reflex gegen die faschistischen Anfeindungen das eigene Nationalgefühl erhöhen. Darüber kann man ja nachdenken, statt es wegzuzensieren.
L: Ich meinte ja, dass es vielleicht besser ist, es am Material zu zeigen.
CK: Das kann dieser Film nicht leisten. Wenn wir alle unterschiedlichen Fraktionen kommentieren müssten, würde das total ausufern. Wir sind nicht eine Migrationsmasse, wir denken nicht alle gleich, das muss klar sein. Wenn eine Band etwas gegen den rechten Terror macht und dabei über's Ziel hinausschießt und dann selber nationalistisch wird und sich mit einer Türkeiflagge ablichten lässt, dann ist das selbstverständlich ein Problem. Einigen dieser Bands wurde der Vorwurf gemacht, dass sie auf türkischer Seite die Rechten bedienen, die Grauen Wölfe zum Beispiel. Und in Solingen haben sich ja auch Graue Wölfe unter die Protestierenden gemischt. Die türkische Rechte hat versucht, sowohl die Pogrome als auch die Musik zu besetzen, und es hat auch sehr viele Diskussionen hervorgebracht und viele haben sich davon distanziert. Das sind aber Themen, die können wir in so einem Film nicht unterbringen, weil wir in 90 Minuten einen Abriss der vergangenen 60 Jahre machen. Das ist dann Teil acht einer Serie mit zwölf Folgen.
4. Die Arbeit in Archiven und die Bewahrung migrantischer Kultur
C: Du hast bereits deine Arbeit in Archiven angesprochen. In welchen Archiven hast Du Material für Deine Filme gefunden?
CK: In der Türkei ist man leider stark auf private Sammler angewiesen, weil die öffentlichen Archive nicht gut strukturiert sind, oder es wenige Gelder dafür oder es kein Interesse daran gibt. Das habe ich bei meinen zwei vorherigen Filmen über Arabesk-Musik und das türkische Kino gemerkt. Die dortigen Archive sind wirklich in einem ganz schlechten Zustand. In Deutschland ist das natürlich ein bisschen besser, aber ehrlich gesagt auch nicht so gut, v.a. was die migrantischen Archive angeht. Es gibt das DOMiD, das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland, in Köln. Wir haben dort für „Ask, Mark ve Ölüm“ geforscht und unglaublich viel Neues erfahren. Sie sind sehr gut und auch unglaublich engagiert. Aber sie sitzen nach wie vor in einem kleinen Verwaltungsgebäude in Köln Ehrenfeld und haben eigentlich weder die Fläche noch die Technologie, um ein echtes Archiv sein zu können. Aktuell bauen sie ein neues Museum. Und ich hoffe, dass dieses Museum dann so ein allumfassendes oder größeres Archiv wird, in dem man noch besser forschen kann. Man muss diese Archive finanziell fördern und mit Personal ausstatten.
C: Woher stammte denn das meiste Bildmaterial für Aşk Mark ve Ölüm?
Das Desinteresse der Dominanzgesellschaft an migrantischen Themen hat ja viel damit zu tun, dass der deutsche Staat es bis in die jüngste Vergangenheit abgelehnt hat, sich als Migrationsland zu definieren.
CK: Das meiste visuelle Material war aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Wir haben den Film gemeinsam mit dem WDR produziert und deswegen durften wir in den Archive aller öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten recherchieren. Dort haben war nicht nur nach türkischer, türkeistämmiger oder kurdische Musik gesucht, sondern auch nach allem, was mit Migration und dem migrantischen Leben zu tun hat, also auch nach Gesellschaftlichem, Politischem usw. Dadurch, dass das so eine große allumfassende Recherche war, haben wir sehr viel gefunden und mussten das für uns selber katalogisieren usw.
L: Man könnte ja jetzt auch überlegen, ob so eine Arbeit noch nötig wäre, wenn schon früher ein größeres Interesse seitens des deutschen Staates oder der Öffentlichkeit bestanden hätte.
CK: Das Desinteresse der Dominanzgesellschaft an migrantischen Themen hat ja viel damit zu tun, dass der deutsche Staat es bis in die jüngste Vergangenheit abgelehnt hat, sich als Migrationsland zu definieren. Dementsprechend war auch die eigene Medienpolitik ausgerichtet. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten wie der WDR gaben sich dennoch viel Mühe, migrantische Themen unterzubringen, deswegen darf man sie nicht immer nur bashen. Wir haben zwar so ein bisschen deren Archiv aufgeräumt und zum Beispiel die korrekte Katalogisierung türkischer Künstler und Künstlerinnen vorangetrieben – denn viele Namen waren falsch geschrieben – aber, dass man 1972 als deutscher Redakteur Cem Karaca falsch schreibt, ist für mich erstmal wenig überraschend. Archivarbeit hängt stark vom Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab, und da wurde uns beim WDR hervorragend zugearbeitet.
L: Dass ihr in öffentlichen Archiven am meisten Material gefunden habt, ist für uns ein wenig überraschend, denn wir hatten erwartet, dass ihr stark auf Privatarchive angewiesen wart und dass man in staatlichen bzw. öffentlichen Archiven gar nicht so viel zu migrantischer Kultur findet.
Der Zugang zu Privatarchiven ist eine Vertrauensfrage. Dieses Vertrauen muss man sich erarbeiten, das kriegt man nicht einfach so.
CK: Das ist umgekehrt. Bei den privaten Sammlern hat man oft Schwierigkeiten, Zugang zu erhalten. Es gibt z.B. Instagram oder Facebookseiten wie Diaspora Türk. Mit den Betreibern haben wir auch gesprochen. Diaspora Türk ist dafür bekannt, dass man ihnen seine eigenen Fotos und seine Geschichte schicken kann und sie posten das dann. Und das machen sie schon seit Jahren und die Leute sind froh ihre Geschichte mal losgeworden zu sein: Schau mal das ist mein Opa. Der kam damals nach Hannover, hat das und das gearbeitet und dieses Schicksal gehabt, hier sind die Fotos dazu. Das ist das Konzept von Diaspora Türk und es ist großartig. Aber um so eine Community aufzubauen, brauchst du viele Jahre. Wir haben sie gefragt, wie wäre es, wenn wir einen Aufruf starten würden? So: Leute schickt uns doch mal alles, was bei Euch immer Keller liegt. Aber sie haben gesagt, das funktioniere nicht. Sie kennen dich nicht, sie vertrauen dir nicht, sie wissen nicht, was du mit dem Material machst, also schicken sie dir nicht einfach ihr Zeug. Und genauso war's auch. Wir haben es versucht über Facebook usw. Da kam nie was zurück. Das ging immer nur über persönliche Kontakte.
C: Im Film sieht man ja, wie Du den Kassettensammler mit dem Spitznamen Ömer Almanya’dan besuchst und er seine Kassetten aus dem Hohlraum unter dem Schlafsofa hervorholt. Das ist ja so eine Art persönliches Archiv.
CK: Warum mir Ömer Almanya’dan, der eigentlich Ömer Boral heißt, so vertraut ist, liegt ganz einfach daran, dass ich ihn schon seit 12 Jahren kenne. Ich kaufe bei ihm Kassetten und habe ihn bereits für meinen Film Arabesk im Jahr 2010 portraitiert. Also dieses Vertrauen ist da. Ein weiteres Beispiel wäre das Material über das Folk-Duo Derdiyoklar. Das stammt aus dem Privatarchiv eines Hochzeitskameramanns, zu dem wir über Freunde Kontakt herstellten. Der Zugang zu Privatarchiven ist eine Vertrauensfrage. Dieses Vertrauen muss man sich erarbeiten, das kriegt man nicht einfach so.
L: Klingt nach einer Menge Arbeit.
CK: Jaja, man muss die Leute überzeugen.
L: Könnte man nicht jenseits der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten sagen, der deutsche Staat müsste diese türkeistämmige Musikkultur, die in Deutschland entstand, bewahren?
CK: Wir könnten sagen, das ist türkeistämmige Musik, aber in deutschen Studios aufgenommen. Vieles wurde hier produziert, von Türküola zum Beispiel, mit eigenen Vertriebswegen in Deutschland und durch Künstlerinnen und Künstlern, die in Deutschland leben, und es wurde ja auch von Menschen, die hier leben konsumiert. Dann stellt sich die Frage, ist das deutsches Kulturgut oder nicht? Und wenn wir sagen, das ist deutsches Kulturgut, weil es hier stattgefunden hat, dann müsste doch der deutsche Staat eigentlich Gelder dafür aufbringen, um dieses Kulturgut dann für die nächsten Generationen zu bewahren. Und das ist die Frage: Passiert das oder passiert das nicht? Sucht irgendeine deutsche Institution aktiv nach Sammlungen wie der Ömer Borals? Sagen die, wir kaufen jetzt Tausende von Kassetten, um die dann zu archivieren. Das weiß ich nicht. Und ich weiß auch nicht, ob immer eine davon ins Bundesarchiv muss. Ich weiß nicht, ob das für Musik auch gesetzlich vorgeschrieben ist. Aber falls ja, wurde das je abgefragt, hat Türküola einen Brief vom Ministerium X bekommen, schaut Mal, die eine Aşık Mahsuni Kassette brauchen wir aber, denn wir finden sie ganz wichtig. Das ist ja die Frage. Ist das passiert? Und wenn das nicht passiert ist, wird das passieren? Und ist unser Film jetzt auch ein Katalysator dafür? Die Reaktion könnte ja sein: Ey fuck, wir haben das alles nicht gewusst, oder es ist an uns vorbeigegangen – können wir das aufarbeiten?
L: Wer bewahrt diese Musikkultur denn in der gegenwärtigen Situation?
CK: Gerade ist das Problem, dass wir abhängig von Sammlern sind. Es gibt eine große Sammlerbörse, wo Kassetten und Platten teilweise recht teuer verkauft werden. Das ist das eine, diese kommerzialisierte Archivszene. Aber dann gibt es noch Privatarchive, die etwa Hochzeitsvideos aufbewahren, die ja auch die Zeit widerspiegeln und Künstlerinnen und Künstler abbilden. Die werden oft nicht professionell verwahrt, vieles verrottet in feuchten Kellern. Da stellt sich wiederum die Frage, welche Institution soll das alles finden und archivieren?
C: Wir haben uns die Frage gestellt, wer diese Archive und Sammlungen in Takt hält. Die Interviews im Film zeigen ja einige dieser Menschen. Also zum Beispiel die Ergins, die einen Kassettenladen besitzen. Könnte man die Archivierung und auch die Texte der Musik als Teil migrantischer Selbstorganisation sehen? Also eine andere Form, als wir sie heute kennen mit Kanackattack oder Migrantifa, sondern diese Herzensangelegenheit mit Zeit und Energie zuzuschütten. Diese Selbsterhaltung als Minderheit innerhalb einer dominanten Gesellschaft, passiert ja auch in der Musik auf inhaltlicher Ebene. Dabei wird die eigene Gefühlslage in der Fremde, also die der Gurbetciler, geschildert. Im ersten Akt deines Films geht es beispielsweise viel um Sehnsucht. Durch das Archivieren will man etwas in Takt zu halten, womit man zeigen möchte, dass da eine (andere) Geschichte gegeben hat.
Der deutsche Staat muss verstehen, dass das ein Teil der eigenen Kultur ist.
CK: Ja, des ist ja genau die Aufgabe, die Institutionen wie das DOMiD haben. Die meisten Leute, die da arbeiten, haben ja einen migrantischen Background. Und da geht es nicht nur um Türken und Türkinnen übrigens, alle Leute, die hierhergekommen sind, werden da gleich behandelt. Also migrantische Selbstorganisation, wer fühlt sich denn da ermächtigt das zu machen. Ich kann's nicht, das ist mir zu viel Arbeit als Einzelperson. Dann ist die Frage ja wirklich auch, ist denn wirklich alle Musik so wichtig. Vieles, was hier vertrieben wurde, ist ja auch irgendwie normale Popmusik. Das hat ja dann mit dem, was man hier erlitten hat, inhaltlich gar nichts zu tun und ist auch nicht immer politisch. Das sind populäre Lieder, die braucht's ja auch. Und dann kann man sich fragen, wie wichtig, ist die Erhaltung dessen? Also stell dir vor, die Deutschen, die in den Süden Brasiliens ausgewandert sind, hätten da alle möglichen Dinge mit hinimportiert und dann würde man sagen, ah, diese eine Howard Carpendale Kassette muss unbedingt erhalten werden und für die folgenden Generationen auch. Also nix gegen Howard Carpendale (lacht).
C: Du würdest also sagen, die Archivierung ist nicht die Aufgabe von Einzelpersonen?
Ja, das müssen Institutionen machen. Das können Privatpersonen nicht. Was passiert denn zum Beispiel mit den Archiven, wenn diese Menschen sterben? Oder wenn Du von Selbstorganisation redest, dann sowas wie Kanackattack damals, die sich dann irgendwie ermächtigt fühlen sowas zu machen. Dafür braucht es aber Gelder und auch Orte, die man dafür anmieten muss. Und da ist wiederum der Staat gefragt. Der deutsche Staat muss verstehen, dass das Teil der eigenen Kultur ist. Also wir haben zum Beispiel den Goethe-Preis bekommen auf dem Dokfest in München. Geplant ist, dass das Goethe-Institut den Film als deutsches Kulturgut in die ganze Welt hinausträgt – das wäre toll. Die Bundeszentrale für politische Bildung zeigt unseren Film. Es ist gut, dass in den Institutionen jetzt so ein Switch stattfindet und dass die Leute für diese Kultur und diese Musik, die sie gerade entdeckt haben, weil sie sie vorher nicht kannten, jetzt überhaupt die Sensibilität haben oder überhaupt die Frage aufkommt, wem gehört diese Musik und wie sollte sie archiviert werden?
L: Zum Schluss noch eine Frage zum Titel des Films „Ask, Mark ve Ölüm“. Er geht auf das gleichnamige Gedicht des Autors Aras Ören zurück, das auch 1982 von der Band IDEAL vertont wurde. Warum hast Du Dich für diesen Titel entschieden?
CK: Ich mochte den einfach. Wir hatten lange nach einem Titel gesucht und schließlich gemerkt, es gibt doch diesen tollen Song, es gibt dieses großartige Gedicht. Und das Gedicht selbst drückt ja thematisch genau das aus, was wir zeigen wollen. Die Dreiteilung des Gedichts in die Teile Liebe, D-Mark, und Tod haben wir im Film übernommen.
L: Der IDEAL-Song kommt aber nicht im Film vor. Warum eigentlich nicht?
Auch David Bowie hat einen Song über Gastarbeiter komponiert: Yassassin.
CK: Das Lied hat nicht gepasst, weil es nicht Teil unserer Musikkultur war. Es war ein Experiment in phonetischem Türkisch, und ist für die Geschichte der migrantischen Musik irrelevant. Es gibt zudem andere ähnliche Tracks. „Türkenblues“ von Abwärts, „Militürk“ von Fehlfarben oder „Ali Kümmeltürke“ von den Bots. Außerdem gab es den weitaus bekannteren Song „Kebabträume“ der Gruppe DAF, deren Sänger, Gabriel Delgado-López, Sohn spanischer Gastarbeiter war. Auch David Bowie hat einen Song über Gastarbeiter komponiert: „Yassassin“. Er hat in seiner Zeit in Berlin die türkischen Graffitis an den Wänden gesehen, zum Beispiel „Yaşasın 1 Mayıs“, also „Es lebe der erste Mai“, und hat daraufhin diesen Song geschrieben. Diese Auseinandersetzung fand ja immer statt, aber hat nicht in den Film gepasst, da es eher eine Nebenerzählung ist. Das kann man besser in eine Serie packen. Eine Folge darüber, wie die Deutschen ihre Gastarbeiter besungen haben. Da gibt's ja noch mehr: „Drei kleine Italiener“ von Conny Froboess oder „Istanbul ist weit“ von Freddy Quinn.
C: Es gibt also noch einiges über diese Aspekte der Musikgeschichte zu erzählen. Vielen Dank, dass Du Dir so viel Zeit genommen hast, um Deine Erfahrungen mit uns zu teilen und uns Einsichten in Deine Arbeit zu geben.