Am 25. Tag der Verhandlung gegen Stephan Ernst und Markus H. sagt Ahmed I. aus. Am 29. Oktober, über vier Jahre nach dem rassistischen Angriff auf ihn, schildert er im Oberlandesgericht Frankfurt die Tatnacht und die Folgen dieses Angriffs auf sein Leben. Die Befragung des Strafsenats und im Besonderen der Verteidigung von Stephan Ernst war unangemessen, unsensibel, einschüchternd und letzten Endes rassistisch.

Wenn keine der Befragungen durch den Strafsenat und die Verteidigung von Stephan Ernst das gebotene Maß an Rücksicht, Empathie, Verständnis zeigen; wenn Ahmed I. im Gericht langwierig nur zu seinem Aufenthaltsstatus und Fluchthintergrund befragt wird; wenn der Richter Sagebiel aufgrund von Übersetzungsschwierigkeiten entnervt seine Fragen abkürzt oder die Antwort Ahmed I.s zu den Folgen des Angriffs mit der Begründung, die Frage sei ja nun schon hinreichend beantwortet abbricht; wenn die Verteidigung von Ernst ohne erkennbaren Tatzusammenhang Ahmed I. zu der Anzahl seiner Smartphones befragt, wenn eine HR-Korrespondentin und ein Moderator nur über „den Iraker“ oder „den jungen Mann“ sprechenhttps://www.hessenschau.de/tv-sendung/zweiter-tatvorwurf-im-luebcke-prozess-,video-135678.html https://www.hessenschau.de/tv-sendung/zweiter-tatvorwurf-im-luebcke-prozess-,video-135678.html https://www.hessenschau.de/tv-sendung/zweiter-tatvorwurf-im-luebcke-prozess-,video-135678.html ; wenn zwei von drei Artikeln über das gute und gepflegte Aussehen von Ahmed I. berichten  - dann ist das Rassismus. 

Ahmed I. wurde im Gerichtssaal nicht die gleiche Anteilnahme an seinem Schicksal zuteil, wie sie während der Befragungen anderer Zeug_innen sichtbar, hörbar, fühlbarwurde. Die Befragungen des Strafsenats und der Verteidigung von Stephan Ernst waren durch Empathielosigkeit geprägt, gepaart mit einer mangelnden Sensibilität gegenüber seinen traumatischen Erfahrungen. Fragetechniken der Verteidiger Ernsts, Rechtsanwalt Mustafa Kaplan und Rechtsanwalt Jörg Hardies, waren zermürbend. Strategisch versuchten sie durch Delegitimierung den Fokus vom rassistischen Mordversuch auf die Fluchtgeschichte und die Fluchtgründe Ahmed I.s zu schieben. Kaplan und Hardies zielten in ihren Fragen wiederholt darauf, die Glaubwürdigkeit von Ahmed I. in Frage zu stellen und zeigten keinerlei Verständnis für den Umstand, dass er sich an die vier Jahre zurückliegenden Aussagen bei der Polizei nicht im Detail erinnern konnte.  

Ahmed I., der zum Tatzeitpunkt am 6. Januar 2016 seit 20 Tagen in Lohfelden, seit 2 Monaten in Deutschland war, hat vom ersten Tag an auf ein rechtes, rassistisches Tatmotiv hingewiesen. Auch in seinem Fall wiederholten sich die gleichen Fehler der Polizei und der ermittelnden Behörden, wie sie auch die Betroffenen des NSU-Komplexes berichtet haben. Seiner Vermutung eines rechten Angreifers und eines rassistischen Tatmotivs wurde kein Glauben geschenkt, stattdessen ermittelten die Polizist_innen in seinem persönlichen Umfeld, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. In der an seine Aussage vor Gericht anschließenden Pressekonferenz schildert Ahmed I. wie die Polizei mit ihm umgegangen ist: „Ich habe mich gefühlt, als wäre ich der Täter und nicht das Opfer.“ Sein Anwalt Alexander Hoffman weist auf die Konsequenzen dieser Ermittlungsfehler hin: „Die unzulänglichen Ermittlungen der Polizei treffen uns doppelt. Zum einen wurde die Möglichkeit verspielt, einen Täter zu ermitteln, bevor er weitere Straftaten begehen konnte, zum anderen wurden zahlreiche Beweise erst nach der Festnahme Ernsts 2019 ermittelt. Die Blutspur an dem bei Ernst gefunden Messer wäre kurz nach der Tat sicher ergiebiger gewesen. Die Beweisführung im Prozess ist durch die schlechten Ermittlungen im Jahr 2016 erschwert.“  

Nur auf Drängen von Ahmed I. und der Beratungsstelle response, die nach der Festnahme Ernsts 2019 Möglichkeiten sah, dass dieser auch der Angreifer Ahmed I.’s gewesen sei, fanden die Ermittler_innen bei einer erneuten Hausdurchsuchung die potentielle Tatwaffe mit DNA-Resten die auf Ahmed I. hindeuten. Dessen eigenes Urteil über die Polizeiermittlungen ist eindeutig: „Ich sage immer wieder, wenn die Polizei richtig und anständig ermittelt hätte, wäre er (Walter Lübcke) heute noch am Leben. Wenn sie damals so gearbeitet hätten wie sie heute für Herrn Lübcke arbeiten, dann wäre das alles vielleicht gar nicht so passiert. Das gibt anderen Tätern den Mut, noch schlimmeres zu tun.“ 

Ahmed I. schilderte vor Gericht umfassend seine Erinnerungen, er beschrieb den Angriff aber auch die bleibenden Schäden eindringlich. Diese sind physisch und psychisch; er ist unfähig zu arbeiten, konnte sich in Deutschland kein neues Leben aufbauen. Er sagt: „Ich wollte gerade mein Leben aufbauen. Ich habe Musik gemacht, hatte ein Hobby. Das ist jetzt alles vorbei. Ich habe viele Jahre meiner Jugend verloren. Ich habe gelebt bis 2016. Nicht länger.“ Ihn begleiten ständige Schmerzen, vor allem im Rücken. Auch deswegen kann er nur an wenigen Tagen der Verhandlung teilnehmen, das lange Sitzen ist für ihn eine Herausforderung. Ahmed I. leidet unter Schlafstörungen und Angstattacken. Nach dem Angriff und während seines Asylverfahrens erhielt er keine Unterstützung, medizinische Untersuchungen und Eingriffe musste er sich erkämpfen, Medikamente teilweise selbst bezahlen. Auf die Frage, welche Institutionen und Organisationen ihn unterstützt hätten, ist sein Urteil eindeutig: Nur response, die Beratungsstelle für Opfer von rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt. Nicht die Polizei, nicht die Arbeitsbehörde, nicht das Ausländeramt.  

Markus H. taxierte und verhöhnte I. während der Verhandlung, sein offensichtliches Grinsen bei Aussagen Ahmeds führten irgendwann zum Einschreiten der Bundesanwaltschaft. Bundesstaatsanwalt Killmer verurteilte seine Reaktionen: "Herr H., Sie sollten Ihr Gesicht nicht verziehen, wenn Menschen über ihre Verletzungen sprechen." Nebenklagevertreter Holger Matt rief ihm in der Prozesspause zu: „Skandalös!“  

Am Ende des Gerichtstages bedankt sich Ahmed I. bei einem weiteren Zeugen. Herr K. hatte ihn auf der Straße liegend gefunden, Hilfe geholt, den Notarzt verständigt. Andere Autos, ein in einem gegenüber stehendem Laster sitzender Mann, hatten weder interveniert noch dem offensichtlich verletzten Ahmed I. geholfen.  

Die Konsequenzen des 24. Verhandlungstages sind eindeutig: Zuhören! Zuhören, wenn Betroffene sprechen und solidarisch bleiben. Rassismus benennen, Betroffenen glauben. Rechte Gewalt und Angriffe nicht vergessen. Aus der Erinnerung Konsequenzen für die Gegenwart ziehen. Kontinuitäten aufzeigen. All das, was im Gerichtssaal ausgeblieben ist.  

Für Ahmed I. gibt es einen Spendenaufruf, der ihn unterstützt mit den Folgen des Angriffes zu leben: https://verband-brg.de/spendenaufruf-fuer-eine-sichere-zukunft-von-ahmed-i/ Außerdem kann man seine eigenen Worten auch unter der online abrufbaren Pressekonferenz hören: https://www.youtube.com/watch?v=jdWaDvbzbkQ&ab_channel=Bildungsst%C3%A4tteAnneFrank 

 

Laura Schilling