Hinter der Maske liegt das Grauen
1. Der einen Freiheit ist der anderen Alptraum
Verstörend, dystopisch, gefährlich. Während tausende Menschen ihr Geschrei nach „Frieden, Freiheit, Liebe, keine Diktatur“ in die Straßen tragen, graut es die Beobachter*innen. Der deutsche Stammtisch brüllt, so scheint es, seine Parolen in die Städte, trampelt über Denkmäler für Ermordete der Shoah, blockiert wöchentlich Stadtteile mit Autokorsos, stürmt den Reichstag und bedroht und attackiert Kritiker*innen und Journalist*innen. Nichts davon ist überraschend und trotzdem, vor allem in der unmittelbaren Begegnung, zutiefst verstörend. Verstörend sind nicht nur Shoah-Vergleiche und die Akzeptanz von rechten Gruppen und Ideologien, sondern auch die Horden von ausgelassen Polonaise-tanzenden Menschen inmitten einer Pandemie mit bisher über 90.000 Toten allein in Deutschland. Verstörend ist die dem Ganzen inhärente Gewalt, das Grauen. Auf Telegram wird dazu aufgerufen, die eigenen Kinder als Schutzschilde und für „unschöne“ Bilder auf den Demos einzusetzen. Corona wird als harmlose Grippe dargestellt, „sterben muss man sowieso“ proklamiert und Deutschland als Diktatur bezeichnet. Auf Social Media wird sich gegenseitig aggressiv mit Nachrichten und Posts überflutet, eine permanente Erregung aufrechterhalten. Der Umgang ist auch hier oft sehr rau. Wer kritisiert, wird beschimpft und beleidigt. Man bezeichnet sich als „die neuen Juden“, die ausgegrenzt werden und gleichzeitig als Märtyrer*innen, die die Demokratie retten müssten. Die Spannbreite innerhalb dieser Logik ist groß und reicht von tatsächlicher Angst vor Diktatur bis zum offenen Antisemitismus. Eins haben alle gemein: Sie leugnen, relativieren oder akzeptieren die Zehntausenden, bzw. Millionen Toten weltweit. Dabei tolerieren oder vertreten sie rechte Ideologien und deren Anhänger*innen oder erkennen diese nicht und relativieren die Shoah. Warum die heftigen Attacken bei Kritik? Warum stört sich niemand am Grauen? Warum lieber all das statt Solidarität zu zeigen? Es lohnt ein Blick in erinnerungskulturelle Diskurse der letzten Jahrzehnte. Anhand des deutschen Opfer-Diskurses zeige ich die Kontinuität von Opfer-Identifikation auf und verdeutliche, inwiefern hier Kritik tabuisiert wird. Die Studien zu Täter*innen-Familien zeigen die Folgen für Nachkommen, das vielfältige Grauen und die Schwierigkeiten bei der Auseinandersetzung mit Täter*innenschaft in der Familie.1
2. „Gefühlte Opfer“[1] fragt man nicht
Die Opfer-Inszenierung und Identifikation der Nachkommen der vor allem im Nationalsozialismus (NS) nicht-verfolgten Deutschen bringt eine Unangreifbarkeit mit sich und wird so zum Mittel der Macht. Dieses wirksame Mittel der Schuld- und Erinnerungsabwehr begleitet die öffentliche und private Auseinandersetzung mit NS und Shoah von Beginn an. Wenn sich vor allem Nachkommen der Täter*innen oder Mitläufer*innen-Seite nun als „die neuen Juden“ bezeichnen, scheint der deutsche Opfer-Diskurs in der vollkommenen Täter-Opfer-Umkehr angekommen. Dieser „Befreiungsdiskurs“, der Versuch der Umdeutung der Geschichte mit dem Ziel einer „normalisierten Nation“, diene seit seinen Anfängen dazu, dass von den Deutschen als unschuldige Opfer[2] von Krieg und Flucht gesprochen wird, so Salzborn.[3] Mit der Erinnerungsfigur des „Gefühlten Opfers“, wie Frölich es beschreibt, entstehe die Möglichkeit, sich eines Teils der Geschichte zu entledigen und zur Gruppe der Guten zu gehören.[4] Obwohl es schon unmittelbar nach Ende des Krieges erste Veröffentlichungen gab, in deren Mittelpunkt die Leiden der nicht-verfolgten Deutschen standen, wurde immer wieder von einem Tabu gesprochen, dies thematisieren zu können.[5] Dem vermeintlichen Tabu, über die Leiden der nicht-verfolgten Deutschen zu sprechen, wurde im „Kriegskinder“-Diskurs der letzten Jahre das Trauma der Kriegskinder entgegengesetzt und damit im Gegenteil das Kritisieren des Diskurses tabuisiert. Dieses von den Mitscherlichs beschriebene „Berührungstabu“[6] macht das Nachfragen nach der NS-Vergangenheit unmöglich und führte zu einer Entkontextualisierung des Zweiten Weltkriegs. Auch die Frage nach Verantwortung und Schuld, die in bisherigen Trauma-Diskursen immer eine besondere Bedeutung hatte[7], wird nicht mehr gestellt. Wo das Trauma in sonstigen Opfer-Diskursen explizit zum Politikum wurde, verschwimmt es im Kriegskinder-Diskurs im Diffusen. „Schuld“ ist hier der Krieg als Abstraktum, als eine Art Naturkatastrophe, die plötzlich und ohne Verursacher über die Menschen hereinbrach: keine Täter*innen, nur noch Opfer.
3. Unsichtbare Täter*innen – das Grauen im Nebel
In der deutschen Bevölkerung hat sich das Bild gehalten, wonach die meisten Verbrechen im NS nicht im sozialen Umfeld stattgefunden haben.[8] Fragen nach personaler Schuld und nach den Entstehungsbedingungen dieser Verbrechen wird so weder im öffentlichen noch im privaten Kontext adäquat nachgegangen. Gerade in Familien, in denen die Geschichte unbekannt ist, zeige sich, so Bar-On, eine tiefe Störung des Dialogs, eine „doppelte Mauer des Schweigens“[9]. Auch Nachkommen, die nicht direkt mit den NS-Verbrechen konfrontiert wurden, sind Schulz-Hageleit zufolge aber nur durch eine „hauchdünne Membran“[10] davon getrennt und übernähmen „mentale Spuren des NS“[11] bzw. „Gefühlserbschaften“[12] nach Lohl. Die Berührung mit dem Leiden der Opfer und der Brutalität der Täter*innen führe zu einer Erschütterung des Grundvertrauens gegenüber anderen, so Brendler.[13] Nachkommen beschrieben das Gefühl, „vergiftetet“ zu sein, das Gefühl, etwas Bedrohliches in sich zu tragen“[14]. „Da tun sich Höllenschlunde auf, wenn man da genauer hinschaut.“[15] Man spüre etwas von dem, „was Auschwitz und all die Unmenschlichkeit möglich und wirklich gemacht hat", so Vogt-Heyder.[16] Das Grauen fand im Umgang mit den Nachkommen durch eine äußerst autoritäre mit NS-Ideologie angereicherte Erziehung seine Entsprechung, wurde so in den Körper eingeschrieben und normalisiert. Es fand eine starke Tabuisierung von Themen um Verletzlichkeit, Krankheit, Sterben und Tod statt. Auch wurden Narrative geschaffen, um Widersprüche zu kaschieren. Einerseits ging es darum, die Illusion der eigenen Unsterblichkeit vor der Realität zu bewahren, andererseits den eigenen Tod als eine Art Schutzschild im Krieg bereitwillig in Kauf zu nehmen. Krankheit war selbstverschuldete Schwäche und Sterben eine Niederlage, die man nur narzisstisch, aber nicht trauernd verarbeiten konnte. Daraus folgten eine ethische Desorientierung sowie fehlendes Vertrauen in sich selbst und in Mitmenschlichkeit. Müller-Hohagen beobachtete häufig eine seelische Grundorganisation, bei welcher nicht die konkreten Menschen mit ihren Bedürfnissen gesehen werden, sondern die 'höheren Zwecke', denen sich alles unterzuordnen habe. In diesem „psychologische[n] Zentrum menschenfeindlicher 'Normalität'“ könne Normalität nur durch Abwertung Anderer erhalten werden.[17]
4. Narzissmus, Begeisterung und Reflexion
Der Wunsch nach einem Schlussstrich war in Deutschland nie nur durch die vielfach thematisierte Schuld- und Erinnerungsabwehr motiviert, sondern immer auch durch den Wunsch nach einer von Ambivalenz befreiten deutschen Identität. Die „Unfähigkeit zu trauern“ zeigte sich im Aufgeben der eigenen Teilhabe an einer größenwahnsinnigen Idee, die Integration in die national-sozialistische Volksgemeinschaft und eine Verleugnung der dazugehörigen emotionalen Bindungen[18]. Adorno verdeutlichte,
„dass der beschädigte kollektive Narzissmus darauf lauert, repariert zu werden, und nach allem greift, was zunächst im Bewusstsein die Vergangenheit in Übereinstimmung mit den narzisstischen Wünschen bringt.“[19]
Vor allem für die jüngere Generation, die im NS sozialisiert wurde (die heute 80 bis 90-jährigen), hatte dies eine große Bedeutung. Die Begeisterung für die Ideale des Nationalsozialismus wurden zwar intellektuell-historisch wahrgenommen, aber gleichzeitig von den persönlichen Affekten gelöst und damit nicht als Teil der eigenen Biographie erlebt[20]. Eine Anerkennung dessen führt selbst bei sehr reflektierten Personen zu einem Erschrecken vor sich selbst: „Ich wäre ein richtiger Nazi geworden!“ Faszination, Stolz und Erschrecken überlagern sich in einem Satz.[21] Müller-Hohagen spricht von einer „dritten Schuld“, die darin bestehe, dass die Nachkommen in einer „transgenerationellen Komplizenschaft“ die „Vernebelungsstrategien“ des Verschweigens, Verdrängens und Verleugnens fortführen.[22] Für eine Auseinandersetzung mit der Verstrickung und einen realistischen Blick müssten Schuldzuweisungen ausgesetzt werden, ohne das Bewusstsein für die Leiden der Opfer aus dem Blick zu verlieren. Um trotzdem nicht die Klarheit über Schuld und Verantwortung zu verlieren, müsse man ein Gefühl für „die Grenze, an der Gut und Böse sich in wirklich dämonischer Weise zu verdrehen beginnen“, entwickeln[23].
„Was wir in diesen Prozessen fordern, ist, daß Menschen auch dann noch Recht von Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts anderes mehr zurückgreifen können als auf das eigene Urteil.“ - Hannah Arendt, 1963[24]
5. Die Befreiung vom Maulkorb der Moral
Die Darstellung von Masken als Maulkörbe auf Demonstrationen, die Verbindung von Einschränkungen durch Infektionsschutz und die empfundene Unterdrückung der freien Meinungsäußerung, verweisen auf den Wunsch nach einer oben beschriebenen „normalisierten“ bzw. „befreiten“ Nation. Dass es diese aber so gar nicht mehr geben kann, beschreibt Max Czollek:
„Das plurale Deutschland der Gegenwart ist eine post-nationalsozialistische und post-koloniale Gesellschaft. In einer solchen Gegenwart ist Normalität nicht verfügbar.“[25]
Es scheint, als möchte man sich in einem Aufwasch von dieser Gegenwart befreien: von Maske und Moral, von Solidarität und Verantwortung, von Ambivalenzen und Ohnmacht, von Angst und Grauen, von irgendwelchen (historischen) Realitäten und jahrzehntelanger „Schuld-Diktatur“. Verschwörungsmythen liefern einen scheinbaren Ausweg aus alldem, sie bieten ein Gefühl von Macht und Kontrolle.[26] Simmel beschrieb schon 1946, inwiefern Antisemitismus die Möglichkeit biete, sich vom Grundkonflikt, Ambivalenzen aushalten zu müssen, befreien und Emotionen unkontrolliert freien Lauf lassen zu können.[27] Die Rohheit und die Grenzüberschreitung im Umgang mit den Toten, im Umgang mit den eigenen Kindern und im Umgang untereinander ist wie die beobachtbare Lust im oder sogar am Grauen verstörend. Es gibt weder einen Zugang zur eigenen Verletzlichkeit und Bedürftigkeit noch zu der von Anderen. Sie haben genau vor dem Angst, was sie selbst erzeugen. Das Grauen entsteht gerade dort, wo die Logik des Grauens wirkt und das Wissen um einen Ausweg fehlt. Vor dem inneren Grauen und der Angst wird mithilfe des aktiv herbeigeführten Grauens geflüchtet und darüber triumphiert. Es verbinden sich das Wissen über die Shoah, die mentalen Spuren des NS und der DDR, die (unbewusste) Angst vor Corona und den Folgen sowie die Angst vor zu viel staatlicher Kontrolle. Dabei zeigt sich eine Unfähigkeit oder ein Unwille, mit Angst und Ohnmacht umzugehen, sowie sich gegen rechte Ideologien abzugrenzen und sich solidarisch zu zeigen. Eine aktuelle Studie zeigt, dass Personen, die an Verschwörungsmythen glauben, fehlende historische Kenntnisse und einen revisionistischen Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus aufweisen. Auch sind sie eher dazu bereit, die Leiden der NS-Opfer mit jenen der Täter*innen gleichzusetzen und an der Verfolgung der Jüdinnen und Juden zu zweifeln. Zudem konnte fast die Hälfte aller Befragten der Studie nicht auf die Frage antworten, ob es seit 1945 Vorfälle oder Ereignisse gegeben hat, die mit der NS- Geschichte in Zusammenhang stehen.[28] Offensichtlich hatten sie bisher das „Glück“ bzw. Privileg, sich mit damit nicht tiefergehend beschäftigen zu müssen. Shoah-Relativierungen können gerade deshalb toleriert bzw. für richtig befunden werden, weil es keinen Zugang zur tatsächlichen (eigenen) Geschichte gibt und einem sich daraus im besten Falle ergebenden Denken und Handeln, dass so eingerichtet ist, "daß Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe".[29] Vorhanden sind nur noch emotional hoch aufgeladene, mit Tabus belegte historische Schablonen, die nach Bedarf inhaltlich, der Logik der Gefühlserbschaften folgend, ausgefüllt werden können. Dadurch wird Antisemitismus offen gezeigt und ausgelebt. Dies sind die bitteren Früchte einer performativen Erinnerungskultur, eines „Gedächtnistheater[s]“, wie Czollek im Anschluss an Bodeman schreibt[30], in einem nie wirklich entnazifizierten Deutschland.
Lit.
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1Bar-On 1993; Bergmann et al. 1995; Müller-Hohagen 1994; Rosenthal 1997
[1]Jureit in Fröhlich 2012: 31
[2]vgl. Salzborn 2020
[3]Klundt/Salzborn 2003:19
[4]Frölich et al. 2012: 30
[5] Brumlik 2005: 549
[6] Mitscherlich/Mitscherlich 1967: 33
[7]Vgl. Brunner 2014
[8]Welzer 2002: 168f
[9] Vgl. Bar-On, D., Gilad 1992
[10] Schulz-Hageleit 2005: 2
[11] Schulz-Hageleit 2012: 5
[12] Vgl. Lohl 2010
[13]Brendler a.a.O.: 54
[14] Kühner 2007: 151
[15] Erne /Schneider 2009: Film „Herrenkinder“
[16] Vogt-Heyder 1986: 893 f.
[17] Müller-Hohagen 2005: 198f
[18] Mitscherlich/Mitscherlich 1967: 20
[19] Adorno 1963: 125
[20] Schulz-Hageleit 2012: 7
[21] Einert 2020: 390
[22] Müller-Hohagen 2005: 197
[23] Vgl. von Westernhagen 1987
[24] Arendt 1963, zitiert nach Fischer/Lorenz 2007: 126
[25] Vgl. Czollek 2021
[26] Vgl. Nocun/Lamberty 2020
[27] Vgl. Simmel 1946
[28] Vgl. Memo-Studie 2021
[29] Adorno 1966: 358
[30] Vgl. Bodeman in Czollek 2018