Ein Interview mit Rafael Puente zur politischen Krise in Bolivien

Rafael Puente wurde 1940 in Pairumani, Cochabamba (Bolivien) geboren. Als Jugendlicher lebte er in Spanien, wurde dort Jesuit und studierte in Spanien Geisteswissenschaften, Theologie und Psychopädagogik sowie Philosophie in Deutschland. Seit Anfang der 1970er lebt Rafael Puente wieder in Bolivien und war in verschiedenen pädagogischen und politischen Projekten tätig. Er gründete unter anderem die Asamblea de Derechos Humanos de Santa Cruz (eine Organisation, die sich für Menschenrechte einsetzt), das Comité de Defensa Ambiental de Cochabamba CODAC (Komitee für den Umweltschutz Cochabamba) oder die Schule Kusikuna. Außerdem war er pädagogischer Berater der Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia CSUTCB, der größten Gewerkschaft für Bäuer_innen/Landarbeiter_innen, die sich zudem für Rechte indigener Bevölkerungsgruppen einsetzt. Von 1989-1993 war er Abgeordneter der Izquierda Unida IU (‚vereinte Linke‘) im bolivianischen Parlament. In der ersten Amtszeit von Evo Morales war er Vizeminister (ab 2006) und koordinierte die Escuela Itinerante de Formación Política del MAS-ISPS (umerziehende Schule politischer Bildung der MAS), die für der Partei nahestehende Jugendliche politische Bildungsseminare anbietet. Heute ist er Teil des Colectivo Urbano por el Cambio CUECA (urbanes Kollektiv für den Wandel) und schreibt regelmäßig Kommentare in der bolivianischen Tageszeitung Página Siete. Von der taz und der jungle.world wird er als einer bedeutendsten linken Kritiker Evo Morales‘ bezeichnet.

 

Lukas Dintenfelder: Im Oktober und November 2019 überschlugen sich in Bolivien die Ereignisse. Im Zusammenhang mit der Wahl zum Präsidenten kam es zu Protesten gegen den Präsidenten Evo Morales, ihm wurde Wahlbetrug vorgeworfen. Im Zuge dessen trat Evo Morales zurück und verließ das Land in Richtung Mexiko, unter massivem Druck nicht nur von Demonstrierenden, sondern auch durch das Militär. Zeitgleich zu den Ereignissen entstand sowohl in Bolivien als auch international eine Debatte darum, wie die Ereignisse zu deuten seien. Einerseits wurde in der Linken sehr schnell von einem Putsch gesprochen, ohne dass Stimmen der bolivianischen, linken Opposition gehör fanden – die Soziologin und Aktivistin Silvia Rivera Cusicanqui sprach beispielsweise davon, dass das Narrativ vom Putsch gleichzeitig falsch und richtig sei. Andererseits verharmlosten andere Stimmen die Gefahr, die von Teilen der Proteste gegen Morales – eine bedeutende Rolle spielten Luis Fernando Camacho, katholischer Fundamentlist und Teil neofaschistischer Netzwerke sowie Übergangspräsidentin Jeanine Áñez, die ebenfalls als katholische Fundamentalistin gilt und wegen rassistischer Äußerungen gegenüber Indigenen in der Kritik steht – ausgingen. So titelte beispielsweise die deutsche Zeitung Die Zeit „[d]ie Demokratie lebt“. Wie würdest Du die Situation im letzten Jahr beschreiben?

Rafael Puente: Es war sehr konfus. Es fing an sich damit zu verkomplizieren, als Evo Morales das Referendum vom 21. Februar 2016 nicht anerkannte – das könnte als Staatsstreich bezeichnet werden – und entschied, wieder zu kandidieren. Es folgte großer Protest, bei dem Luis Fernando Camacho – ein bis dahin unbekannter Agitator aus Santa Cruz mit einer bemerkenswerten Fähigkeit zur Mobilisierung – den Präsidenten und den Vizepräsidenten dazu gebracht hat zurückzutreten. Das bezeichnen viele als „Putsch“, aber noch nie wurde ein Putsch gesehen bei dem man den Rücktritt der Präsidenten fordert und bei dem diejenige Autorität/Macht die Präsidentschaft übernimmt, die von der bolivianischen Verfassung vorgesehen ist – in diesem Fall Jeanine Añez. Deshalb war es kein „Putsch“, sondern eine politische Krise, auf die später ein verfassungsgemäßer Weg der Lösung folgte – zu der wir am 18.10.20 gekommen sind.

 

Luis Fernando Camacho und Jeanine Añez profitierten von den Ereignissen, konnten sich als Gesichter demokratischen Widerstands darstellen. Wie beschrieben, werden beide als Teil der antidemokratischen Rechten angesehen. Auch die Militarisierung wurde beklagt. Wie würdest Du die beiden Politiker*innen und das dahinterstehende politische Projekt skizzieren?

Ich glaube, dass es gar kein politisches Projekt gab, wie sich mit der Übergangsregierung von Jeanine Añez, komplett frei von einem irgendeinem Projekt, zeigt. Und was Camacho zeigt, ist, dass er die Macht will, aber ohne irgendein klar erkennbares Projekt zu verfolgen. Auch weil sein religiöser Fanatismus – der übrigens verfassungswidrig ist – und den er dem politischen Leben auferlegen will, keinen Inhalt hat, der sich politisch nennen könnte. Ich glaube auch nicht, dass man von einer „Militarisierung“ sprechen kann, weil das Militär und die Polizei sich dieses Mal darauf beschränkten, die Störung der öffentlichen Ordnung – die nichts Demokratisches hatte – zu stoppen.

 

Soziale Bewegungen und Gewerkschaften sind in Bolivien traditionell stark. Wie gingen und gehen diese politischen Akteure mit der Situation seit Oktober/November 2019 um?

Leider ist eines der Phänomene, das – als Konsequenz der langen und mächtigen Amtszeit von Evo Morales – auffällt, die Unterordnung vieler sozialer Bewegungen und gewerkschaftlicher Organisationen unter die Staatsgewalten, was ihnen im Grunde die Stärke nimmt. Und ich glaube, dass ein Prozess der Rückgewinnung dieser Unabhängigkeit und Stärke weder schnell noch einfach ginge. 

 

Die Aktivistin María Galindo bezeichnete den Konflikt unter anderem als Problem des Modells des Caudillismo (autoritäre, machtbesessene, machistische, gewaltbereite Führerfigur), verkörpert in Evo Morales und Luis Fernando Camacho. Wie schätzt du die Rolle des Caudillismo in Bolivien ein? Was wären Konsequenzen für andere Politikstile oder -modelle?

Ich bin absolut der Meinung von María Galindo. Im Allgemeinen kann man sagen, dass der caudillismo in einem großen Teil unserer Geschichte vorherrschend war, sei es über den Weg von Putschen oder den Weg demokratischer Wahlen. Mit der Persönlichkeit und den individuellen Begabungen, die Evo Morales gezeigt hat – er vereinte den Indigenen mit dem Kolonisator und dem Führer der Kokabauern, und verkörperte persönliche Eigenschaften eines Anführers – dieser caudillismo übersetzte sich in eine Reihe unbestreitbarer Wahlsiege, gefolgt von der politischen Krise 2019 – die caudillismos geraten auch in eine Krise. Wir dürfen aber nicht das gesunde gesellschaftliche und politische Verhalten der letzten Wahlen vergessen – und in diesen Momenten auch die Schwächung dieses caudillismo.

 

Evo Morales und seine Regierung begannen 2006 einen Weg, den sie proceso del cambio (Prozess des Wandels) nannten. Könntest du die Entwicklung des proceso del cambio seit 2006 nachzeichnen? Wie fällt deine Bilanz aus? Welche – positiven wie negativen – Entwicklungen wurden in dieser Zeit angestoßen?

Die erste Regierung von Evo Morales setzte einen authentischen Prozess des Wandels in Gange. Das Bemerkenswerteste war die Renationalisierung fast aller ehemals staatlicher Unternehmen, die von Sánchez de Lozada privatisiert wurden, eine ernsthafte Sorge um echte soziale Teilhabe und um eine Erhöhung der Produktivitätskapazität des Staates, außerdem die Förderung der gesellschaftlichen und politischen Teilhaben aller gesellschaftlichen Bereiche. Dem muss man die überraschende Identifizierung von Evo mit der „Madre Tierra“ („Mutter Erde“) und ihrer Rechte hinzufügen.

Allerdings, kaum hatte seine zweite Amtszeit angefangen, zeigten uns die im TIPNIS ausgelösten Probleme, dass die in seiner ersten Amtszeit eröffneten vielversprechenden Eigenschaften schon erschöpft waren. Im Einklang mit einem in Nordamerika und Europa erarbeiteten Dokument mit dem Titel „El poder crea daño cerebral“ (Macht verursacht Hirnschäden), fing Evo Morales an uns mit desarrollistischem und autoritärem Verhalten, außerdem völlig despektierlich im Hinblick auf die Rechte der Mutter Erde, zu überraschen, sodass wir anfingen gefährlich in die Vergangenheit zurückzukehren.

 

Du warst Teil des Movimiento al Socialismo (MAS) und der Regierung. Was hat dazu geführt, dass du dich abgewendet hast?

Tatsächlich war ich Teil der ersten Regierung von Evo Morales – zuerst als Vizeminister, später als Präfekt von Cochabamba – und ich kann mit viel Stolz sagen, dass es eine konsequente und wirklich demokratische Regierung war, aber ich war nie Teil der MAS. Ich erinnere mich daran, dass ich die Devise formuliert und verbreitet habe, die sagte: „Im Moment gibt es zwei Fehler in Bolivien, die man nicht begehen darf: der erste ist gegen den MAS zu sein, der zweite ist im MAS zu sein. Sie ist nämlich eine politische „Partei“ und alle Parteien haben eine zunehmende Tendenz zum Autoritarismus und zur Bürokratie gezeigt“. Deshalb habe ich für die zweite Regierung – gerade war das Desaster des TIPNIS geschehen – das Angebot von Evo Morales, das Ministerio de Gobierno zu übernehmen – abgelehnt. Ich glaube, dass es ein konsequentes Verhalten von meiner Seite war.

 

Die MAS galt stets als „Bewegung von unten“, als eine Partei, die den Dialog zu sozialen Bewegungen sucht. Gleichzeitig gab es in den letzten Jahren mit #boliviadijono (den Protesteten gegen das Referendum für eine vierte Amtszeit), den Auseinandersetzungen um TIPNIS oder die Attacken der Regierung auf CEDIB (Centro de Documentación e Información Bolivia) durchaus Konfliktpotenzial. Könntest du auf das Verhältnis der MAS zur linken Opposition und sozialen Bewegungen eingehen?

Wie gesagt, Macht macht betrunken und ab der zweiten Amtszeit des MAS zeigte sich, dass er seine Rolle als Vertreter sozialer Bewegungen verloren hat sowie eine zunehmende Entwicklung von Autoritarismus und Korruption. 

 

Die MAS steht für den Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten. Wie hat sich die Situation von Indigenen, ökonomisch Marginalisierter oder LGBTIQ verändert?

Die MAS war Repräsentant des Kampfes gegen soziale Ungerechtigkeit, seit zehn Jahren ist er es nicht mehr. Die größten und am besten organisierten pueblos indígenas (indigene Völker) erreichten Errungenschaften, die immer noch bestehen, aber die abgelegenen und kleineren pueblos – besonders die in den östlichen Regionen – sind genauso marginalisiert wie vorher. Im Fall der Organisationen z.B. der LGBTIQ litten diese nicht nur unter dieser Marginalisierung, sondern konnten außerdem nicht im Sinne einer Veränderung oder wenigstens Linderung der im Staat – im ganzen Staat – vorherrschenden machismo, Bürokratie und Korruption Einfluss nehmen. 

 

In verschiedenen lateinamerikanischen Ländern prägten in den letzten Jahren Bewegungen wie NiUnaMenos, die auf die hohe Zahl an Feminiziden aufmerksam machen, oder Forderungen nach dem Recht nach Abtreibung die politische Bühne. Welche Position bezog die Regierung von Evo Morales dazu?

Die Regierung von Evo Morales hatte weder eine echte noch wirksame Position im Hinblick auf diese Bewegungen, wie man aus den vorherigen Antworten herauslesen kann.

 

Nach der Wahl vom 18. Oktober 2020 scheint es, dass Luis Arce von der MAS neuer Präsident wird. Sein Vizepräsidentschaftskandidat würde David Choquehuanca sein. Arce war Wirtschafts- und Finanzminister unter Evo Morales, Choquehuanca Außenminister. Beide versuchten sich dennoch in der letzten Zeit öffentlich von Evo Morales zu distanzieren. Ist es den Kandidaten gelungen, glaubhaft zu machen, dass sie aus den Fehlern von Evo Morales gelernt haben? Wenn ja, was müssten sie ändern, um wieder an die positiven Seiten des proceso del cambio anzuknüpfen?

Choquehuanca war nicht für die Fehler von Evo Morales verantwortlich und teilte sie auch nicht. Im Gegenteil, er war immer kritisch – deshalb und wegen des Verhaltens des Vizepräsidenten trat Choquehuanca auch als Außenminister zurück. Derjenige, der den Irrsinn von Evo Morales teilte war Luis Arce – da er beispielsweise das berühmte Gebäude, das man für das Wirtschaftsministerium baute, luxuriös möblierte, unter anderem mit Perserteppichen – aber er hat nicht aufgehört ein intelligenter Mann mit politischer Erfahrung zu sein und seine ersten Erklärungen als gewählter Präsident lassen uns hoffen, dass er nachdenkt und aus den Fehlern von Evo Morales lernt.

 

Die Krise der Demokratie fiel in Bolivien mit der Corona-Pandemie zusammen. Besonders im Juli und August breitete sich das Virus vermehrt aus und führte zu Berichten der Überlastung des Gesundheitssystems und von Bestattungsunternehmen. Außerdem veranlasste die Übergangspräsidentin Jeanine Añez strikte Ausgangsbeschränkungen. Wie beurteilst du den Umgang der Übergangsregierung mit der Corona-Pandemie? Was sind deiner Meinung nach die Ursachen dafür, dass Bolivien so leidet? Welche Rolle spielen soziale Ungleichheiten im Land dabei?

Präsidentin Añez hat viele Fehler gemacht – sich in Dinge einmischend, die einer Übergangsregierung nicht zustehen – aber im Fall der Pandemie, die uns überrumpelt hat und auf die wir nicht vorbereitet waren, hat sie gemacht was sie konnte und ich persönlich glaube, dass sie es gut gemacht hat; was nicht wegnimmt, dass die Krankenhäuser und Bestattungsinstitute nicht auf ein solches Problem vorbereitet waren. Im Hinblick darauf, dass „Bolivien so leidet“: Ich sehe nicht, dass Bolivien mehr als andere Länder leidet, jedenfalls würde unsere wirtschaftliche Schwäche erklären, falls es mehr leiden würde. Das ist etwas, auf das niemand vorbereitet war – und was den Anschein hat, als dass es länger dauert, um es zu lösen. Was die sozialen Ungleichheiten betrifft – die auch nicht ausschließlich Bolivien betreffen – die erschweren sich natürlich auch mit einer Pandemie. Aber die aktuelle Übergangsregierung macht ihre Sache im Hinblick darauf, was sie tun kann, gut – und ich würde sie zumindest nicht kritisieren. 

 

Die beiden Krisen – der Demokratie und der Corona-Pandemie – zeigen sich Kontinuitäten der Geschichte Boliviens, bspw. autoritärer Regierungen, der Rolle des Militärs, ökonomische Ungleichheiten oder des Rassismus gegen Indigene. Du selbst hast zwei Bücher mit dem Titel „Recuperando la memoria. Una historia crítica de Bolivia“ geschrieben. Warum sahst du die Notwendigkeit, „die Erinnerung wiederzugewinnen“? Wie kann die Erinnerung an die Geschichte Boliviens helfen die gegenwärtige Situation zu verstehen?

„Die Erinnerung wiederzugewinnen“ erschien mir eine adäquate Formulierung dafür, um die Anstrengung zu machen, die Geschichte zu „verstehen“ und nicht nur zu „studieren“. Und das ist im Fall Boliviens doppelt wichtig: Ein unvorhersehbares Land, wir könnten fast sagen ein „unnatürliches“ (anti-natural), dessen Existenz sich nur durch das nie dagewesene Phänomen Potosí erklären lässt – es gibt ein Buch, geschrieben von jungen, deutschen Forscher_innen – in dem sich bestätigt, dass die „Entwicklung des globalen Kapitalismus“ dank des nie dagewesenen Phänomens von Potosí und seiner Reichtümer möglich war. Wir sind kein „normales“ Land, sondern total außergewöhnlich, ein Grund mehr, dass wir seine Geschichte und seine Merkmale gründlich studieren und verstehen.

 

Danke für deine Zeit. Möchtest du noch etwas hinzufügen?

Ich glaube nicht. Danke an dich.

Das Interview wurde geführt und übersetzt von Lukas Dintenfelder

 

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