Der internationale feministische Kampftag steht vor der Tür. Auch in Frankreich treffen Akteur_innen Vorbereitungen, um an diesem Tag auf die Straße zu gehen und für ihre Forderungen zu streiken. Der 8. März wird jedoch nicht der erste große Streiktag dieses Jahres in Frankreich sein: Seit Mitte Januar hat die angekündigte Rentenreform Massen zu Gegenprotesten mobilisiert. Und die Beteiligung bricht nicht ab – selbst an dem vierten Protesttag (11.2.) demonstrierten landesweit noch rund 2,5 Millionen Menschen. Doch würden die Proteste an der Realität vorbeigehen, da die Rentenreform „längst überfällig“ sei, so der Tenor in Teilen der deutschen Medienlandschaft sowie von Präsident Macron. Das in den 80ern eingeführte Recht, mit 60 bzw. mittlerweile 62 Jahren in Rente zu gehen, sei demzufolge schlichtweg „nicht mehr finanzierbar“, da die Bevölkerung zu alt werde. Außerdem könne man „gesunden, arbeitenden Menschen“ den nun geplanten zwei Jahre späteren Renteneintritt und die eineinhalb Jahre höhere Mindestbeitragsdauer durchaus zumuten, heißt es im Deutschlandfunk vom 11. Januar.https://www.deutschlandfunk.de/frankreich-rentenreform-102.html Als wäre es ein Kompliment, Menschen längere Arbeit aufzuzwingen. Die Protestierenden erkennen den schwarzen Humor dieser Argumentation – die langjährige Arbeit hat sie krank gemacht.

Doch genau die Zahlen zu den rasant steigenden Krankheitsfällen, welche bedingt durch die Arbeitsverhältnisse seit der letzten Rentenerhöhung auftreten, hat die Regierung heruntergespielt, so der Vorwurf des Linksbündnisses NUPES während der parlamentarischen Debatte um die geplante ‚Reform‘. Diese hatte übrigens selbst mit bürgerlich-liberalen Maßstäben an Demokratie nichts mehr zu tun: Trotz fehlender Mehrheiten in der „Assemblée National“ (Nationalversammlung) kann das Vorhaben des Team Macron durch eine Kooperation mit der Mitte-Rechts-Partei „Les Républicans“ und dem Verfassungsartikel 49.3 (welcher erlaubt, Gesetze ohne Abstimmung im Parlament direkt an den regierungsstützenden Senat weiterzuleiten) durchgedrückt werden.https://jacobin.de/artikel/macrons-brutale-rentenreform-stoesst-auf-heftigen-widerstand-rentenalter-frankreich-nupes-melenchon/ 

Grund genug dafür, dass die Gewerkschaften in die seit Tagen laufenden Verhandlungen über die mehr als 20.000 eingereichten Änderungsanträge an den Entwurf keine Hoffnung stecken. Deshalb haben sie eine gemeinsame Erklärung dazu abgegeben, die die Forderung zur sofortigen Abstimmung enthält: Für oder gegen die Rentenreform. Dabei ist klar, dass die Bevölkerung geschlossener denn je für letzteres plädiert. Fast 70 Prozent lehnen die Reform ab, und die sonst so zerstrittenen Gewerkschaften mobilisieren das erste Mal seit 12 Jahren gemeinsam zu Protesten und Streiks. Von dieser „intersyndicale“ (ja, im Französischen gibt es für den „Zusammenschluss der Gewerkschaften“ sogar ein eigenes Wort!) profitiert auch die radikale Linke. So hat die bundesweit vertretende Gruppe „La Revolution Permanente“ dazu aufgerufen, die aktuellen Dynamiken für eine „Organisierung von Unten“ in allen Bereichen zu nutzen.https://mars-infos.org/retraites-que-faire-apres-l-6783

Insbesondere diejenigen Akteur_innen, die am stärksten von den Auswirkungen der ‚Reform‘ betroffen sein werden, haben sich dieser Idee angenommen: FLINTA* und unter geschlechtlicher Diskriminierung leidende Personen. So mobilisierte das bundesweite Bündnis „Coordination Féministe“ aktiv zu allen von den Gewerkschaften initiierten Streiktagen. In vielen französischen Städten wurden spontane Treffen und Workshops einberufen, um sich über die eigene, besonders starke Betroffenheit von der angekündigten ‚Reform‘ kollektiv auszutauschen sowie feministische Transparente, Wandzeitungen und Kollagen gefertigt, um diese Partikularität im Zuge der Proteste sichtbar werden zu lassen. Zum 8. März wird die untrennbare Verbindung zwischen den Protesten gegen die Rentenreform und dem feministischen Streik von allen Seiten deutlich gemacht: Die Gewerkschaften rufen am Tag vorher dazu auf, das Land zu blockieren. Der 8. wird also „der Tag danach" sein - der Tag, an dem der Streik ununterbrochen weitergeführt wird. Das Bündnis begrüßt die „einmalige Gelegenheit, die Konvergenz zwischen der feministischen und der Gewerkschaftsbewegung zu ermöglichen“.https://www.instagram.com/p/Cn4qnJcrXv4/ Alle sind sich einig: Das Versprechen von Premierministerin Elisabeth Borne, die ‘Reform‘ stelle insbesondere einen „Vorteil für die Frauen dar“https://www.lemonde.fr/idees/article/2023/01/06/presenter-la-reforme-des-retraites-comme-juste-pour-les-femmes-releve-du-boniment_6156882_3232.html, ist ein leeres.

Trotz aller Einigkeit wollen feministische Bündnisse die spezifische Notwendigkeit des feministischen Kampftages auch in diesem Jahr verdeutlichen. Mitunter deshalb bereitet sich seit letzten Oktober die „Marseille 8 Mars AG Féministe“ mit öffentlichen Treffen auf diesen vor. Der Plan ist, sich den öffentlichen Raum anzueignen: Durch Verkehrskreiselblockaden mit OpenMics, Kunstaktionen und Demos. Bei allem steht – neben dem feministischen Protest gegen die ‚Reform‘ - das Motto „Jin, Jiyan, Azadî“ noch immer an vorderster Stelle.https://www.instagram.com/marseille_8_mars_ag_feministe/

Für den Diskus habe ich mit den Genoss_innen des Marseiller 8M-Bündnisses gesprochen, die uns mehr über die aktuelle Verstricktheit der Kämpfe erzählen und die (Proteste gegen die) ‚Reform‘ aus feministischer Perspektive beleuchten.

 

Hallo! Schön, dass ihr euch die Zeit für ein Gespräch nehmt. Mögt ihr euch kurz vorstellen?

Wir sind Aktivistinnen von „Marseille 8 Mars“. Das ist eine feministische Versammlung in Marseille, die Einzelpersonen, Mitglieder von Kollektiven, Gewerkschaften oder anderen politischen Gruppen zusammenbringt. Wir treffen uns alle zwei Wochen zu einer internen AG und jeden 8. des Monats zu einer offenen AG. Wir organisieren mehrere politische Veranstaltungen und beteiligen uns an sozialen Bewegungen, indem wir unsere feministischen Forderungen in den Vordergrund stellen. Seit 2022 sind wir auch Mitglied der „Coordination Féministe“, die etwa 100 Kollektive in Frankreich vereint. Die gemeinsamen Grundlagen sind hierbei Antisexismus, Antirassismus, Antikapitalismus und der Kampf für alle Minderheiten. Und momentan mobilisieren wir natürliche hauptsächlich breit für den feministischen Streik am 8. März!

 

Ihr wart als Kollektiv auch bei den Sozialprotesten gegen die Rentenreform aktiv. Habt ihr Lust, eure Eindrücke davon zu schildern?

Der Angriff auf die Renten geht nicht nur die Rentner_innen etwas an, sondern ist das Aushängeschild einer Gesellschaft für die Stärksten auf Kosten der anderen. Die Massendemonstrationen am 19. und 31. Januar sowie am 7. und 11. Februar haben gezeigt, dass die Mehrheit der Menschen (wenn auch nicht alle streiken oder demonstrieren gehen) aus vielen, sehr unterschiedlichen, Gründen gegen diese Reform sind. Für uns persönlich war es eine wahre Freude, nach langer Zeit mal wieder so viele Menschen auf der Straße zu sehen.

Nun warten wir ab, welche Ergebnisse diese Mobilisierungen haben werden und ob die soziale Bewegung anhalten kann und wird...

 

Auf einem eurer Demo-Transparente stand der Spruch „1/2 Salaire = 1/2 Retraite? Grève Féministe" (Halber Lohen = halbe Rente? Feministischer Streik). Ist das Thema Rentenreform demnach ein explizit feministisches?

Es gibt viele Gründe, warum diese Rentenreform ungerecht ist, und warum sie FLINTA* und andere von Sexismus betroffene Menschen besonders intensiv trifft:

* Mehr zerhackte Karrieren = mehr Benachteiligung: Es braucht nun 43 Berufsjahre, um den vollen Rentensatz zu bekommen (vorher waren es 42 Jahre): FLINTA*, die stärker von Berufsunterbrechungen und Teilzeitarbeit betroffen sind (80 % der Teilzeitarbeit wird von FLINTAs* geleistet), werden diese Verlängerung mit voller Wucht zu spüren bekommen und daher mehr Schwierigkeiten haben, den vollen Satz zu erreichen als vorher. Die von der Regierung versprochenen Erhöhungen von 980 auf 1.200 Euro Mindestrente bleiben für FLINTA* eine Fata Morgana, denn um Anspruch darauf zu haben, müssen die betroffenen Arbeitnehmer*innen sowohl eine vollständige Vollzeitkarriere in der Privatwirtschaft als auch ein Lohnniveau nachweisen, das nie über dem gesetzlichen geregelten Stundenlohn (SMIC) lag. Ein Witz.

* Lohnungleichheit = Rentenungleichheit: Nach einer Karriere, in der FLINTA* im Durchschnitt 22 % weniger verdienen als Männer, werden sie auch im Ruhestand benachteiligt: Männer haben 40 % höhere Renten als FLINTA* (25 %, wenn man die Witwenrenten mitrechnet), eine Kluft, die durch die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre noch vergrößert wird. 19 % (d. h. 1 von 7) der FLINTA* müssen bereits mit der aktuellen Reform bis 67 Jahre warten, um eine volle Rente zu erhalten, während dies bei den Männern weniger als 10 % (1 von 15) sind. Und die Reformen sollen noch weitergehen…

* Keine Anerkennung der längeren, anstrengenderen und prekäreren Arbeit von FLINTA*: Zwei weitere Jahre ohne jegliche Anerkennung der Härte der hauptsächlich von FLINTA* (oft mit Migrationshintergrund) ausgeübten Berufe: Reinigungskräfte, Krankenschwestern, Sozialarbeiterinnen, Pflegerinnen und Pflegehelferinnen (dieser Sektor ist der unfallträchtigste, noch vor dem Bausektor!) etc. Diese Berufe stellen eine hohe Belastung dar und sind noch dazu sehr schlecht bezahlt.

* Die Doppelbestrafung der Hausarbeit wird noch weniger berücksichtigt: Die zusätzliche Belastung durch Haus – und Sorgearbeit erschöpft FLINTA* und beeinträchtigt ihre Gesundheit, wodurch es noch schwieriger wird, länger zu lohnarbeiten. Außerdem wird der Vorteil von Kinderquartalen durch die Reform aufgehoben: FLINTA*, die dank dieses Ausgleichsmechanismus mit 62 Jahren in Rente gehen konnten, werden nun gezwungen sein, mit 64 Jahren in Rente zu gehen und verlieren bis zu zwei Rentenjahre durch die Erhöhung.

* Die Reform lässt FLINTA* noch mehr arbeiten: Mit ihr werden 200 000 FLINTA* pro Generation später in Rente gehen (15 bis 20 Monate länger). Bei den 1972 geborenen FLINTA* wird das durchschnittliche Renteneintrittsalter um neun Monate steigen, während es bei den Männern derselben Generation nur fünf Monate beträgt.

 

Schaffen es feministische Forderungen, sich bei den Protesten Gehör zu verschaffen oder würdet ihr euch mehr Aufmerksamkeit für diese wünschen?

Wir schaffen es, uns Gehör zu verschaffen, so wurde z.B. die Ungerechtigkeit dieser Reform gegenüber den FLINTA* stark in den Medien thematisiert. Aber die Resonanz der feministischen Kollektive ist je nach Stadt mal mehr, mal weniger hörbar und sichtbar. In Rennes oder Nantes beispielsweise wurden die feministischen Demonstrationszüge stärker in den Vordergrund gerückt, indem sie an der Spitze der Demonstrationen liefen. Die Medien berichteten deshalb über ebendiese plakatierten Botschaften und die gesungenen, feministischen Slogans. In Marseille waren wir ein kleinerer Demonstrationszug, aber wir erhielten trotzdem viele Rückmeldungen über unsere Präsenz, die motiviert und motivierend war.

 

Wie kann die feministische Bewegung an die Sozialproteste anknüpfen, besonders in Bezug auf den anstehenden 8. März? Was können die Sozialproteste von der feministischen Bewegung lernen?

Unsere Forderungen beziehen sich auf wirtschaftliche Ungleichheiten, Lohnungleichheiten, aber auch im weiteren Sinne auf die strukturelle Gewalt, die FLINTA* und geschlechtliche Minderheiten erleiden. Unsere Bewegung trägt also auch die Stimme derjenigen, die nicht direkt von den Forderungen der Gewerkschaften betroffen sind. Beispielsweise ermöglicht all die „kostenlose" Arbeit, die den FLINTA* auferlegt wird und die Kinderbetreuung, die Pflege anderer und die Hausarbeit beinhaltet, die Aufrechterhaltung des derzeitigen Systems. Wenn es immer weniger öffentliche Dienstleistungen gibt, weil sie durch die aktuelle Politik zerstört werden, wie z. B. die Kinderbetreuung oder die Pflege älterer Menschen, werden die FLINTA* dazu genötigt, diese Aufgaben unbezahlt zu übernehmen. Sie hören auf zu lohnarbeiten um stattdessen Sorgearbeit für andere zu leisten. Wie würde das System funktionieren, wenn wir aufhören würden, diese Arbeit zu leisten? Die Forderungen der Feminist_innen sind also weiter gefasst als die der Gewerkschaften, die die Stimme der Arbeitnehmer_innen vertreten, haben aber unbestreitbare Verbindungen. Um eine echte Systemveränderung zu erreichen und das bestehende Kräfteverhältnis zu stören, wäre es also von Vorteil, wenn unsere feministischen Forderungen breit erhört und getragen werden würden.

 

Haben die Sozialproteste eurer Einschätzung nach das Potential, eine „neue Gelbwesten-Bewegung" zu werden?

Wie bereits gesagt, warten wir nun darauf, die Ergebnisse dieser Mobilisierungen zu sehen, d.h. auch wie lange und in welchem Umfang sie andauern werden. Wir schauen jedoch positiv in die Zukunft, da die Beteiligung an den Demonstrationstagen wirklich massiv war. Die Gewerkschaften rufen schon jetzt zu einem weiteren Protesttag am 16. Februar und vor allem am 7. März sowie zu einer „besonderen Initiative am 8. März in Verbindung mit dem Internationalen Tag der Frauenrechte" auf.

 

Danke für eure Berichte!

Das Interview wurde vom Französischen ins Deutsche übersetzt.

Das Interview wurde zudem im Transmitter 03/23 abgedruckt und online unter: https://www.fsk-hh.org/transmitter