Gegen das Vergessen eines Kampfes auf Leben und Tod
Jüdischer Widerstand in den Ghettos Wilna und Bialystok sowie den Vernichtungslagern Sobibór und Treblinka
„Lassen wir uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank führen“ – mit diesen Worten beginnt das Flugblatt des Aufrufes zum Widerstand im Wilnaer Ghetto am 31. Dezember 1941. Niedergeschrieben wurde es vom jüdischen Dichter und Widerstandskämpfer Abba Kowner.[1]
Dass jüdischer Widerstand im Nationalsozialismus, ausgenommen der Aufstand im Warschauer Ghetto, heute fast unbekannt scheint, lässt mehrere Schlüsse zu. Dabei wird zunehmend auf Juden_Jüdinnen als homogene Gruppe geschlossen, ihre politische sowie kulturelle Diversität verkannt. Arno Lustiger geht in seinem Werk Zum Kampf auf Leben und Tod! Das Buch vom Widerstand der Juden 1933-1945 auf die verschiedenen Formen jüdischen Widerstandes ein, um ein Zeichen zu setzen gegen ständige Passivierungen von Juden_Jüdinnen während der Shoah. Neben militärischem Widerstand, der nicht immer möglich war, leisteten Juden_Jüdinnen zivilen, passiven und geistigen Widerstand, so Lustiger: „Jeder Überlebende ist Zeuge dieses Widerstandes, denn wäre es nach den Nazis gegangen, hätte kein Jude den Krieg überlebt“[2]. Von einem solchen individuellen Widerstand schreibt auch der Sobibór Überlebende Thomas Toivi Blatt. Er schildert wie Juden_Jüdinnen auf dem Weg in die Gaskammern Geldscheine zerrissen und dabei als letzte Handlung eine widerständige wählten. „Nackt und machtlos, wie sie waren, hatten sie systematisch das Wenige, was ihnen am Ende geblieben war, zerstört, damit es den Deutschen nicht in die Hände fiel.“[3]
Gegenwehr, die in allen besetzten Ländern aufkam, war darüber hinaus die Nichtbefolgung der Anordnungen von Besatzungsbehörden. Neben einem unmittelbar einsetzenden individuellen sowie zivilen Widerstand, entwickelten sich ab 1942 kollektive, bewaffnete Kollaborationen und Organisationen. Konkret bedeutete dies Aufstände in den Ghettos, in den Konzentrations- und Vernichtungslagern sowie Kämpfe jüdischer Partisan_innen. Neben dem Aufstand im Warschauer Ghetto, gab es auch in den Ghettos Wilna und Białystok sowie den Vernichtungslagern Sobibór und Treblinka bewaffnete Kämpfe gegen die Nazis und Versuche, die Infrastruktur der Lager zu zerstören. Obwohl der Aufstand im Vernichtungslager Treblinka zur Folge hatte, dass das Lager aufgelöst wurde, ist dennoch bis heute wenig dazu geforscht worden.
Die Ghettoaufstände in Wilna und Białystok
Im Januar 1942 schlossen sich im Wilnaer Ghetto verschiedene Aktivist_innen zionistischer, bundistischer und kommunistischer Jugendgruppen zur FPO (Fareynikte Partizaner Organizatsie) zusammen. Der Anführer der FPO war Yitzak Witenberg, seine Vertreter Abba Kowner und Josef Glazman. Die Mitglieder der FPO teilten sich in Kleingruppen auf, zudem gab es Spezialeinheiten, die bspw. Waffen beschafften. Insgesamt schlossen sich in der FPO 250-300 Personen zusammen. Im Sommer 1943 gründete sich eine „zweite Kampfgruppe“ unter der Leitung Yechiel Sheinbaums, welche rund 200 Mitglieder umfasste und von Beginn an auf einen bewaffneten Widerstand ausgerichtet war. Die Formen der Gegenwehr waren vielfältig: Eine „Papierbrigade“ kümmerte sich darum, Manuskripte, Bücher und Kulturgegenstände aus dem YIVO, dem Jüdischen Wissenschaftlichen Institut, vor dem Zugriff und der Zerstörung durch die Deutschen zu retten. Im Juni 1942 gelang ein erster Sabotageakt: Ein Gleis wurde gesprengt und ein daraufhin entgleister Wehrmachtszug, der Waffen an die Ostfront lieferte, ebenso. Nachdem die Nachricht über den gescheiterten Ghettoaufstand in Warschau die FPO erreichte, schien ein bewaffneter Aufstand in zunehmende Ferne zu rücken. Fortan lag der Fokus auf dem Partisanenkampf und der Errichtung verschiedener Partisanenbasen im Wald. Am 23. September 1943, als das Ghetto in Wilna liquidiert werden sollte, befahl die FPO ihren Kämpfer_innen, sich im Wald den Partisan_innen anzuschließen. Die Bewohner_innen des Ghettos wurden schließlich nach Sobibór, teilweise in estnische und lettische Arbeitslager deportiert. Etwa 3.000 Juden_Jüdinnen blieben in Wilna und wurden dort im Rüstungsbetrieb eingesetzt. Zehn Tage vor der Befreiung, am 3. Juli 1944, wurden sie in Ponary ermordet.[4] Die in die Wälder Entkommenen schlossen sich zu Kampftruppen zusammen, eine von ihnen trug den Titel Nekomé (Rache). Bei den Kämpfen um Wilna nahmen auch Wilnaer Partisan_innen teil, von den 57.000 Juden_Jüdinnen der Stadt überlebten etwa 2.000-3.000. Die Fotos dieser dort Kämpfenden am Tag der Befreiung Wilnas zählen heute zu den bekanntesten Fotografien und Bildern des jüdischen Widerstandes.[5]
In das Ghetto Białystok, welches am 1. August 1941 errichtet wurde, brachten die Deutschen etwa 50.000 Juden_Jüdinnen aus der Umgebung. Im Ghetto fanden verschiedene Anhänger_innen der zionistischen, bundistischen und kommunistischen Gruppierungen zusammen und gründeten, aufgrund ideologischer Differenzen, zwei Widerstandsbündnisse im Untergrund: Block 1 und Block 2. Erst ab Juli 1943 entwickelte sich eine gemeinsame Widerstandsgruppe, dessen Anführer Mordechaj Tenenbaum war. Wie in Warschau wurde auch in Białystok ein geheimes Archiv angelegt, welches in großen Teilen erhalten geblieben ist. Gelder wurden der Gruppe durch den „Judenrat“ zum Ankauf von Waffen zur Verfügung gestellt, die Chancen eines erfolgreichen Aufstandes waren dennoch gering. Im Dezember 1942 konnten kleine bewaffnete Gruppen aus dem Ghetto entkommen. Kämpfe zwischen jüdischen Widerstandsgruppen im Ghetto und der SS sowie Kräften der Polizei dauerten fünf Tage, vom 16. bis 20. August 1943, wodurch die Widerstandsgruppen große Verluste erlitten.[6] 300 Kämpfer_innen starben schon am ersten Kampftag, dennoch mussten seitens der Deutschen sogar Panzer eingesetzt werden, um den Widerstand zu brechen. 150 überlebende Kämpfer_innen schlossen sich den Partisan_innen (Vorojs-Vorwärts) an, die bis zur Ankunft der Roten Armee unerbittert weiterkämpften. Im Frühjahr 1944 schlossen sie sich mit sowjetischen Partisanenverbänden zusammen, zu jenem Zeitpunkt lebten noch etwa 60 Kämpfende aus dem Ghetto.
Die Aufstände in Treblinka und Sobibór
In dem Vernichtungslager Treblinka wurden zwischen Juli 1942 und August 1943 etwa 870.000 Menschen ermordet. Am 2. August 1943 wehrten sich zahlreiche dort Inhaftierte gegen den massenhaften Mord der Deutschen und konnten im Zuge dieses Aufbegehrens Gebäude beschädigen und zerstören, die aus Beton gebauten Gaskammern blieben davon jedoch unberührt. Die SS gab das Lager am 21. August 1943 auf, riss die übrigen Gebäude ab und errichtete auf dem Lagergelände einen Bauernhof zur Tarnung. Der Aufstand in Treblinka war der erste bewaffnete Aufruhr in einem NS-Vernichtungslager und löste den am 14. Oktober stattfindenden Aufstand in Sobibór mit aus. Der Überlebende Richard Glazar, welcher in Treblinka als Funktionshäftling eingesetzt war, schildert in seinem Buch Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka das dort Erlebte und Gesehene. Glazar berichtet in seinem Werk zudem von der antisemitischen Umgebung, welcher sich die Inhaftierten, nachdem sie dem Lager entkamen, ausgesetzt sahen: „Neun von Zehn Polen, die alle die Deutschen hassen, sind solche Judenhasser, daß [sic] sie ohne weiteres jeden Juden ausliefern, besonders wenn sie dafür noch eine Belohnung bekommen.“[7] Bis heute sind etwa 60 Überlebende des Lagers namentlich bekannt, einem Lager, in welchem schätzungsweise etwa 870.000 Menschen ermordet wurden.
Von den Überlebenden des Aufstandes im Vernichtungslager Sobibór lebten zu Kriegsende noch 47 Personen. Davon sind mindestens 42 dieser Überlebenden im Zuge der Revolte aus dem Lager entkommen, vier oder fünf von ihnen konnten zuvor im Rahmen des sog. „Waldkommandos“ fliehen. Thomas Toivi Blatt verschriftlichte seine Erinnerungen an den Aufstand in seinem Buch Nur die Schatten bleiben, Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór (2000). Thomas Blatt wurde als fünfzehnjähriger gemeinsam mit seiner Familie in das Vernichtungslager Sobibór deportiert. Dabei musste er zusehen, wie seine Eltern und sein Bruder in die Gaskammern gebracht wurden. Angetrieben durch den Drang, der Welt von den Verbrechen der Deutschen des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden_Jüdinnen zu berichten, planten einige Häftlinge im Lager einen Aufstand, darunter auch Thomas Blatt. Angeführt wurde dieser durch Alexander Petscherski, einem Leutnant aus der Roten Armee. Petscherski traf am 23. September 1943 mit einem Transport von etwa 2.000 Juden_Jüdinnen in Sobibór ein. Blatt schreibt hierzu, dass die „Nazis von Sobibór“ damit einen Fehler begangen, da die neu eingetroffenen Häftlinge beim Militär gewesen waren, unter ihnen auch „hochrangige Offiziere“[8]. Diese Männer, so Blatt weiter, hatten in Ghettos gelebt und von der Niederlage der Deutschen bei Stalingrad gehört. Dadurch trat augenscheinlich hervor, dass der Feind „nicht unbesiegbar war“[9]. Durch den Aufstand am 14. Oktober 1943 gelang die Flucht aus dem Lager für etwa 300 Inhaftierte. Viele, die entkamen, wurden dennoch aufgegriffen und erschossen oder durch die umliegende polnische Bevölkerung ausgeliefert. Blatt beschäftigte sich sein gesamtes Leben mit dem Lager Sobibór, interviewte sogar einen SS-Aufseher des Lagers und sagte im Prozess gegen John Demjanjuk, einem vor Gericht gestellten „Trawniki“, aus. Sein Werk ist für uns ein Zeugnis, das den Willen zum Überleben, den Erhalt der Selbstbehauptung und jüdischer Wehrhaftigkeit in einer Situation widerspiegelt, in der sich unglaubliche menschliche Abgründe auftaten.
Für eine aktive Erinnerung
Dass sich die bundesdeutsche Debatte nach 1945 vor allem aus Gründen der eigenen Schuldabwehr und Exkulpationsstrategien auf den "deutschen" Widerstand fokussierte, hat über Jahrzehnte dazu beigetragen, dass jüdischer Widerstand unzureichend Einzug in das kollektive Gedächtnis erhielt. Das Werk des Historikers Arno Lustiger, selbst Shoah-Überlebender, macht deutlich, wie vielfältig und weitverbreitet jüdischer Widerstand in Europa von 1933-1945 war. Die Dokumente der Überlebenden ermöglichen es uns heute, diese Wehrhaftigkeit wahrzunehmen und ihnen jenen Platz in der Holocaustforschung, aber auch der Erinnerungskultur einzuräumen, der ihnen zusteht. Dabei ist Erinnerung nichts Feststehendes, sondern ein Weise, Geschichte zu reflektieren, diese aktiv mitzugestalten und zu erkämpfen.
Das Titelfoto des Artikels habe ich selbst im Rahmen einer Exkursion nach Lublin und den Vernichtungslagern Sobibór, Belzec und Majdanek aufgenommen. Der dort abgebildete Grabstein erinnert, ein Stück entfernt von dem ehemaligen Lagergelände Sobibórs, tief im Wald von Zbereże, an durch den Aufstand im Lager Geflohene Juden_Jüdinnen. Im September 2017 stellte die Stiftung Zapomniane diesen symbolischen jüdischen Grabstein, gefertigt aus Holz, im Wald von Zbereze auf. An der Stelle, an der im Oktober 1943 acht der Geflohenen Juden_Jüdinnen erschossen und vergraben wurden, soll ihnen nun gedacht werden. Auf Polnisch steht dort geschrieben: „In Göttlicher Erinnerung ruhen hier Juden, die im Holocaust ermordet wurden.“[10] Hebräisch steht dem hinzugefügt: „Mögen ihre Seelen zu Gott kommen.“[11] Zudem, ebenfalls im September 2017, ergänzte das Bildungswerk Stanisław Hantz zwei Gedenksteine. Ein Stein erinnert an sechs ermordete Juden_Jüdinnen, die während des Aufstandes geflohen sind. Der zweite Gedenkstein steht für zwei Juden aus Zbereże, Vater und Sohn, „die zwei letzten Juden“[12] des Ortes, welche dort ebenfalls erschossen und vergraben wurden, wie auf Polnisch auf dem Stein zu lesen ist. Auf der Zufahrtsstraße oder im Wald gibt es keinen Hinweis darauf.
*notes
[1] Arno Lustiger (1994): Zum Kampf auf Leben und Tod! Das Buch vom Widerstand der Juden 1933-1945, Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 15
[2] Ebd., S. 18
[3] Thomas Toivi Blatt, Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór, Berlin 2000, S. 181
[4] Arno Lustiger (1994): Zum Kampf auf Leben und Tod! Das Buch vom Widerstand der Juden 1933-1945, Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 264
[5] Ebd., S. 264-265
[6] Ebd., S. 165
[7] Richard Glazar, Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka, Frankfurt am Main 1992, S. 62-117.
[8] Thomas Toivi Blatt, Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór, Berlin 2000, S. 177
[9] Ebd.
[10] Bildungswerk Stanisław Hantz, Flucht aus Sobibór, Kassel 2018, S. 8
[11] Ebd.
[12] Ebd, S. 11.