Das folgende Gespräch ist Ergebnis eines längeren Austauschs im Anschluss an den Streik rumänischer Arbeiter_innen bei Spargel Ritter im Mai 2020. Von dem Streik ausgehend, geht es um die gewonnenen Erkenntnisse über den Einfluss universitärer Arbeits- und Studienbedingungen auf die Ideologieproduktion und ein Klassenbewusstsein, sowie die Aufgaben und Ziele, die sich daraus für eine Hochschulgewerkschaft ergeben.

Anna Wunderlich ist Pressesprecherin des unter_bau, einer basisdemokratischen Hochschulgewerkschaft an der Goethe-Universität Frankfurt und beobachtete die Streiks, Proteste und Verhandlungen bei Spargel Ritter vor Ort. Mit ihr spricht Christoph Sommer für die diskus Redaktion.

 

diskus: Im Mai diesen Jahres gab es in Bornheim einen Streik von landwirtschaftlichen Saisonarbeiter_innen, vor allem aus Rumänien, der deutschlandweit Aufmerksamkeit bekommen und zumindest eine kurze Debatte über die Arbeitsbedingungen migrantischer Saisonarbeiter_innen ausgelöst hat.Weitere Infos unter: https://www.fau.org/kaempfe-und-kampagnen/spargel-ritter Ihr habt die Proteste bei Spargel Ritter vor Ort erlebt und unterstützt. Was war eure Motivation als Hochschulgewerkschaft unter_bau dort teilzunehmen? Was war dabei eure spezifische Rolle und wie habt ihr die Proteste wahrgenommen?

Anna: Der Streik hat am Freitag, den 15. Mai, angefangen und wir dachten uns – erst mal einfach als Privatpersonen – was da für ein krasses Unrecht passiert. Wir hatten das Bedürfnis den Streikenden zu zeigen, dass es Menschen gibt, die sich für ihre Situation und ihren Kampf interessieren, und andererseits auch diesen Ausbeutern, dass sie damit nicht einfach durchkommen. Wir sind dann am Montagmorgen relativ spontan als Gruppe von unter_bau-Mitgliedern hingefahren, und haben uns auf dem Weg Gedanken gemacht, was genau das bedeutet, explizit als Hochschulgewerkschaft dorthin zu fahren: Der Arbeitskampf wurde von der FAU unterstützt und als ebenfalls syndikalistische Gewerkschaft lag es uns nahe, Solidarität zu zeigen, klar. Aber wir dachten uns auch, dass es ein wichtiges Erfahrungsfeld sein könnte, um die Fragen besser zu verstehen, die sich stellen, wenn man an einer Universität gewerkschaftlich aktiv ist. Bei der Erntearbeit ist klar, wie Arbeit und Mehrwertproduktion zusammenhängen und also auch, wo mit einem Streik die Mehrwertproduktion unterbrochen werden kann. Bei der Hochschule hingegen könnte man ja erst mal überrascht sein, wenn man von Arbeitskämpfen hört, bei Studierenden noch mehr als bei den Beschäftigten im administrativen oder akademischen Bereich. An der Frage, warum oder wie sich Studierende überhaupt gewerkschaftlich organisieren sollten, arbeiten wir ja selbst kontinuierlich.

Interessant an dem konkreten Fall war, dass hier keine Gewerkschaft von außen gekommen ist, um einen Tarifvertrag abzuschließen, sondern sich aus der Belegschaft heraus ein wilder Streik entwickelt hat. Erst dann ist der Kontakt zur FAU entstanden, die die gewerkschaftliche Vertretung übernommen hat. Zudem war der Streik in die politische und mediale Sorge um die Spargelernte eingebettet. Julia Klöckner [Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Anm. d. Red.] hatte ja zum Beispiel vorgeschlagen, die durch die Corona-Grenzpolitik erschwerte Einreise migrantischer Saisonarbeiter_innen könne doch ausgeglichen werden, indem man Studierende auf die Felder schickt. Dadurch war unser Bezug nochmal konkreter als durch die bloße gewerkschaftliche Nähe.

 

d: Was waren Eure ersten Eindrücke vor Ort?

A: Als wir dort angekommen sind, waren die streikenden Arbeiter_innen sehr aufgebracht und wütend. Klaus Ritter, der insolvente Besitzer des Unternehmens, ist an dem Tag persönlich vorbeigekommen. Alle fünf Minuten hat sich etwas Neues entwickelt, das war ja auch der Tag, an dem die Gehaltsauszahlungen stattfinden sollten, was völlig unkoordiniert ablief. Immer wieder hat man von Leuten gehört, die einzeln zu den Auszahlungen gegangen sind, und denen wurden teilweise 5€ angeboten – als Lohn für die gesamte Arbeitszeit von mehreren Wochen! Es herrschte viel Wut und Unsicherheit darüber, wie es weitergehen würde. Wir haben uns mit einer jungen Arbeiterin unterhalten, die uns ein Video von den Zuständen in den Massenunterkünften gezeigt hat. Als Externe konnten wir erst mal nicht viel mehr anbieten als eine Öffentlichkeit zu schaffen, also unser Privileg als Organisation, die zumindest eine gewisse öffentliche Reichweite hat, zu nutzen. Diese Gespräche waren gut. Man muss ja die konkreten Rollen und Realitäten erst mal verstehen, um die Möglichkeiten praktischer Unterstützung ausloten zu können. Das kann konkret eben zum Beispiel heißen, mit den Menschen ins Gespräch darüber zu kommen, welche Infos und Forderungen sie öffentlich verbreitet sehen wollen.

 

d: Du hast bereits eine Kampagne angesprochen, die u.a. von der Bundeslandwirtschaftsministerin und einigen Landwirtschaftsministern der Länder unterstützt wurde. Studierende, so die Forderung, sollten aufgrund der coronabedingten Limitierung der Einreise von Saisonarbeiter_innen als Erntehelfer_innen auf den Spargelfeldern einspringen. Gab es solche Studierenden auch bei Spargel Ritter und in welchem Verhältnis standen diese zu dem Streik der rumänischen Arbeiter_innen?

A: Natürlich haben wir auch Ausschau gehalten, ob unter den Streikenden auch Studierende sind, aber das war nicht der Fall. Wir haben im Nachhinein über die FAU Bonn einen Kontakt herstellen können und ein Telefonat mit einer der studentischen Hilfsarbeiter_innen bei Spargel Ritter geführt. Uns ging es einerseits um die Frage, welche Rolle Studierende in solchen Arbeitskontexten einnehmen, die ja keinen akademischen Abschluss voraussetzen. Und andererseits um ihr konkretes Verhältnis zu den streikenden Saisonarbeiter_innen im Betrieb.

Die erste Auffälligkeit war, dass es ihrem Bericht nach quasi zwei Belegschaften gab: die rumänischen Saisonarbeiter_innen und die deutschen Hilfsarbeiter_innen, die zu einem großen Teil Studierende und andere junge Leute waren, die zum Beispiel ihr Freiwilliges Soziales Jahr wegen Corona nicht antreten konnten und eine alternative Beschäftigung gesucht haben. Auch bei der Studentin, mit der wir telefoniert haben, war die Motivation weniger eine finanzielle, wie wir es vielleicht erwartet hätten. Es schien eher so zu sein, dass sie die Arbeit aus einem Gestus des Helfens heraus aufgenommen hat. Sie erzählte uns, dass sie aus der Region Bornheim komme und der Aufruf zur Mithilfe bei der Spargel- und Erdbeerernte eine Möglichkeit geboten habe, in dieser außergewöhnlichen Zeit etwas Sinnvolles zu tun.

Von den Arbeitsabläufen hat sie berichtet, dass die deutschen und rumänischen Gruppen räumlich und organisatorisch voneinander getrennt waren, also dass zum Beispiel die einzelnen Tunnel auf dem Feld klar aufgeteilt waren und man sich nur an der Wiegestation begegnet ist. Als dann am Freitag der Streik begonnen hat, sei ihr daher erst mal gar nicht klar gewesen, warum die rumänischen Arbeiter_innen nicht da waren. Und als am Ende des Tages eben der Soll noch nicht erreicht war, habe der Vorarbeiter die deutschen Hilfsarbeiter_innen – in ihren Worten – „angefleht“ weiterzumachen und beteuert, dass die Überstunden selbstverständlich ausbezahlt würden. Sie hat, wie sie sagte „aus Respekt vor den Folgen für das Unternehmen“, weitergearbeitet und ist damit unabsichtlich zur Streikbrecherin geworden. Wir haben sie gefragt, ob sie sich anders entschieden hätte, wenn sie gewusst hätte, dass gestreikt wird. Obwohl sie grundsätzlich Sympathien für die Saisonarbeiter_innen hatte, meinte sie noch zum Zeitpunkt unseres Telefonats einige Tage nach Beginn des Streiks, als es schon Medienberichte und Demonstrationen gab, dass sie immer noch skeptisch sei, ob an den Vorwürfen der rumänischen Arbeiter_innen wirklich etwas dran sei. Interessant ist dabei, dass sie selbst von Anfang an vom Arbeitgeber hintergangen wurde, insofern ihr zum Zeitpunkt der Vertragsunterschrift – genauso wie den Saisonarbeiter_innen – nicht kommuniziert worden war, dass das Unternehmen bereits insolvent ist.

Den Saisonarbeiter_innen waren die Konsequenzen dieser ‚neuen‘ Information bereits früher klar und damit auch die Notwendigkeit in den Streik zu treten. Wir haben beobachtet, wie ein Sprecher der rumänischen Arbeiter_innen den insolventen Besitzer Klaus Ritter damit konfrontiert hat, dass sie mit ihm immer gute Erfahrungen gemacht hätten, aber niemals gekommen wären – sich dem Risiko, auch dem gesundheitlichen während der Pandemie, nie ausgesetzt hätten – wenn sie gewusst hätten, wie es um das Unternehmen steht. Aus dem Gespräch mit der Studentin haben wir den Eindruck gewonnen, dass es auch für sie ausreichend Gründe gegeben hätte, skeptisch gegenüber dem Arbeitgeber zu sein: klare Verstöße gegen das Arbeitsrecht, beispielsweise bei der Arbeitszeiterfassung, die sie aber bloß als „Organisationspannen“ wahrgenommen hat. Auch wurde immer wieder vom Vorarbeiter versichert, dass die Arbeit auf jeden Fall weitergehen würde, bis dann eben am Dienstag, also am fünften Streiktag, auch die deutschen Arbeitskräfte fristlos per WhatsApp-Gruppe gekündigt wurden. Das war dann auch der Zeitpunkt, erzählte uns die Studentin, zu dem sie zum ersten Mal überlegt habe, dass der ganze Konflikt ja auch sie betrifft und ob sie sich dem Streik anschließen sollte.

Die Spaltung der Belegschaft in deutsche und rumänische Arbeitskräfte wurde also vom Arbeitgeber aktiv betrieben und ausgenutzt. Die Arbeitsorganisation der deutschen Arbeitskräfte erfolgte hauptsächlich über eine eigene WhatsApp-Gruppe, in der der Vorarbeiter immer wieder Arbeitgeberpropaganda und Verunglimpfungen der rumänischen Arbeiter_innen und ihres Streiks verbreitet hat.

Diese Schilderungen waren der Ausgangspunkt für uns, weiter darüber nachzudenken, was es bedeutet Studierende gewerkschaftlich zu organisieren. Gerade an der Uni Frankfurt gibt es ja das Narrativ von „Harvard am Main“ und der „zukünftigen Elite“. Aber wenn inzwischen über 50% eines Schuljahrgangs in Deutschland studieren, werden natürlich nicht alle Absolvent_innen in Führungspositionen geraten. Ganz abgesehen davon, dass die Goethe-Uni eine Massen- und Provinzuni ist, die niemals die international renommierte Elite-Uni sein wird, die sich auch der neue Unipräsident Schleiff herbeisehnt. Diese Beobachtungen sind einerseits spannend, insofern Studierende ja tatsächlich gewisse Privilegien in der Arbeitswelt und in der Öffentlichkeit genießen. Und andererseits, insofern sich dieses Elite-Narrativ auch in der Selbstwahrnehmung von Studierenden und Absolvent_innen niederschlägt, die zwar zu einem großen Teil abhängig beschäftigt sind oder sein werden, ihre Arbeit aber, wie im Fall der Studentin bei Spargel Ritter, als „Hilfeleistung“ für ein Unternehmen in Not oder als „wichtigen Beitrag“ beispielsweise für eine so prestigeträchtige Institution wie die Universität oder auch als „Zwischenstation“ auf einer ganz bestimmt nach oben weisenden Karriereleiter sehen. Das mag darüber hinwegtäuschen, dass die Arbeitsverhältnisse in sehr vielen Bereichen, auch für Menschen mit Uni-Abschluss, sehr unsicher sind. Insofern wäre es sowohl für die Studierenden selbst als auch für ihre späteren – studierten oder nicht-studierten – Kolleg_innen wichtig, dass sie ein Bewusstsein entwickeln, das in etwa so klingen könnte: „Ich arbeite und habe entsprechende Rechte, die ich verteidige, und wenn meine Kolleg_innen streiken, schließe ich mich selbstverständlich an und versuche meine Privilegien als akademisch ausgebildete Person solidarisch zu teilen“. Als Gewerkschaft an einer Universität haben wir die Hoffnung genau da mit einer „Bewusstseinsarbeit“ anzusetzen, um den Leuten, die dann ja in die verschiedensten Bereiche der Arbeitswelt gehen werden, gewerkschaftliches Wissen und Handwerkszeug mitzugeben.

 

d: Lass uns jetzt darüber sprechen, inwiefern eure Erfahrungen mit diesem Fall sich verallgemeinern lassen. Wenn du von der Selbstwahrnehmung der Studentin nicht als Arbeitende, sondern als „Hilfeleistende“ sprichst, dann passt das recht gut zu den Erkenntnissen über die neoliberalen Arbeitsbedingungen an Universitäten. Hieraus ergibt sich die Frage, ob es so etwas wie ein spezifisch studentisches „Klassenbewusstsein“, sozusagen eine personifizierte Sozialpartnerschaft, gibt.

A: Das ist eine interessante These – grundsätzlich sind wir natürlich damit konfrontiert, dass das sozialpartnerschaftliche Gerede in Deutschland sehr laut ist. Diese Idee, dass man keine entschiedenen Auseinandersetzungen braucht, sondern sich schon irgendwie mit dem Arbeitgeber auf ein Gemeinsames einigen kann, hat natürlich etwas Schönes. Aber sie hängt von der doch sehr fragwürdigen Vorstellung ab, dass man am Verhandlungstisch eine ideale Sprechsituation herstellen kann, in der „das bessere Argument gewinnt“, wie die scheidende Unipräsidentin Wolff es gerne formuliert hat. Gerade an der Universität wären die Bedingungen dafür prinzipiell nicht die schlechtesten – das würde deine These stützen. Vielleicht könnte man es unter dem Gesichtspunkt von eben betrachten: Leute, die studiert haben, haben natürlich gewisse Privilegien, gerade in der Öffentlichkeit. Natürlich sollten Studierende reflektieren, dass sie auf eine bestimmte Art und Weise gelernt haben, sich auszudrücken und diese Kompetenz auch dafür nutzen können, die eigene Position durchzusetzen. Wenn einer Person, die die deutsche Sprache sehr gut beherrscht, die sich eine Anwältin leisten kann, die vielleicht sogar Kontakte zur Presse hat, von Arbeitgeberseite ein Unrecht passiert, hat sie viel bessere Voraussetzungen, sich individuell zur Wehr zu setzen. Insofern könnte man vielleicht sagen, dass in solchen Fällen, also ja, „personifiziert“ oder „individuell“, das Machtverhältnis zwischen der Arbeitgeberseite und einer einzelnen Arbeitnehmerin tatsächlich ausbalanciert werden kann. Aber was ist nachhaltig gewonnen, wenn ich meine Stelle verlängert bekommen oder mir ein höheres Gehalt rausgehandelt habe, aber meine Kolleg_innen weiterhin ungerecht behandelt werden?

Wir leben nicht in einer Gesellschaft mit einer Masse von Arbeitskräften auf der einen Seite und einer kleinen Arbeitgeberkaste auf der anderen, sondern in einer Gesellschaft, die in unzähligen Stufen hierarchisiert ist, in der man auch auf einem relativ geringen Lohnniveau bereits Personalverfügung über andere zugewiesen bekommt. Wenn wir uns die Uni ansehen, wo wir als Gewerkschaft aktiv sind: Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir mit jedem neuen Mitglied ein neues Beschäftigungsverhältnis vorliegen haben, gerade im Mittelbau. Zudem ist die Spaltung zwischen den Statusgruppen an der Universität institutionell ganz tief verankert. Als wir 2018 mit einer eigenen Liste zur Senatswahl angetreten sind, hatten wir ein Gespräch mit einem Sicherheitsmann, der das sehr interessant fand, dass dieser Betrieb Universität Strukturen vorweist, mit denen sie demokratisch von allen Universitätsangehörigen verwaltet werden könnte. Seine Frage war, warum der Sicherheitsdienst kein Wahlrecht hat. Zusätzlich gibt es große Unterschiede zwischen den Statusgruppen, was die Lohnhöhe und natürlich auch was die Anerkennung angeht: Akademische Arbeit wird ja als viel wertvoller angesehen als beispielsweise die Arbeit im Reinigungsbereich, obwohl niemand forschen oder lehren kann, ohne zwischendurch auf ein sauberes Klo zu gehen. Der sozialpartnerschaftliche Gestus der „Uni-Community“ täuscht darüber hinweg, dass wir mit starken Spaltungen innerhalb des Betriebs Universität zu tun haben, dass ganze Tätigkeitsfelder, die zu einer Universität gehören, an externe Firmen outgesourct sind.

Wir versuchen die Überwindung dieser Spaltungen, die in den Betrieb eingeschrieben sind, innerhalb der Gewerkschaft vorzubereiten, indem wir uns als Mitglieder über Statusgruppen hinweg austauschen und gemeinsam überlegen, was die verschiedenen Interessen sind, ob und warum sie sich widersprechen. Und wie wir Widersprüche so auflösen können, dass die Person in der machtvolleren Position die Probleme nicht einfach nach unten abwälzt, sondern ihre Position erkennt und solidarisch nutzt. Das könnte auch bedeuten, dass Studierende, die vielleicht mehr Zeit und weniger Verpflichtungen haben und keine existentiell bedrohlichen Konsequenzen zu befürchten haben, entschiedenere Aktionen durchführen können, um zum Beispiel einen Arbeitskampf des Reinigungspersonals zu unterstützen. Oder wenn an bestimmten Druckpunkten im Betrieb bereits mit wenigen Menschen der Universitätsbetrieb gestört werden kann, um den gemeinsamen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Dieser Versuch eines solidarischen Verbunds von Menschen, die an der Universität arbeiten und studieren, hat zum Ziel die Hochschule als Ganzes gemeinsam zu verwalten, in der sich alle bilden können, in der es keine Lohnungerechtigkeit gibt und in der jegliche „systemrelevante“ Arbeit, um einmal dieses seltsame Wort zu benutzen, würdevoll ausgeübt werden kann.

 

d: Wenn man dann über die Universität hinausschaut, stellt sich die Frage, welche Rolle das Studium und die Studierenden in der Ökonomie überhaupt einnehmen. Also auf der einen Seite dieser „Eliten“-Anspruch, auf der anderen Seite studieren inzwischen ja, wie du angemerkt hast, über 50 Prozent eines Jahrgangs. Dementsprechend könnte man meinen, dass neben der Wissensvermittlung die Vermittlung eines spezifischen Klassenbewusstseins wichtigstes (Neben-)Produkt des Studiums ist. Anschließend an die obige These, geht die Ideologieproduktion also auf Arbeitsbedingungen zurück. Das zeigt sich nicht nur in der ökonomischen Form, sondern auch inhaltlich, also in der Wissensproduktion an der Universität.

A: Es ist auf jeden Fall interessant, sich die Universität im Wertschöpfungsprozess anzuschauen. Wir finden da vor allem zwei Fragen wichtig: Was haben die „Produktion“ von Wissen und universitäre Dienstleistungen für eine ideologische Bedeutung? Und was bedeutet es, dass die Universität sich mehr und mehr dahin entwickelt, Wissenschaft nicht als „Dienst an der Wahrheit“, sondern auf ihren „Erfolg“ hin zu betreiben. Anwendungsbezogene Wissenschaft ist natürlich nicht per se schlecht, aber hier kann man an vielen Stellen, nicht nur im naturwissenschaftlichen Bereich, auf einem vermittelten Weg letztlich doch die Übersetzung in Mehrwert finden. Die Verwendung von anwendungsbezogenen Forschungen zur Produktion neuer Technologien, die dann verkauft werden, ist dafür ein deutliches Beispiel. Dabei dürfen wir natürlich auch die Frage nach den gesellschaftlichen Auswirkungen der neuen Produkte selbst, und ob die immer gut sein müssen, nicht außer Acht lassen. Und diese Frage stellt sich auch der Grundlagenforschung, wie wir es am Beispiel der Quantenphysik und der Atombombe besonders deutlich studieren können.

 

d: Gerade auch der Fokus auf diese vermittelte Wertschöpfung ist ein elementarer Teil des Studiums und wissenschaftlicher Arbeit. Was wiederum einen großen Teil deines Lebens und auch deine Erwartungen und Ansprüche an das „Berufsleben“ prägt. Hierbei lässt sich die Erzeugung eines ganz spezifischen Klassenbewusstseins beobachten: Nämlich genau der von dir beschriebene Hang zum Streikbrechen und dieses charakteristische „noch-nicht-Elite“-Sein. Zum einen ist man faktisch Teil derer, die streiken könnten und sollten, aber man ist auch so sehr auf Sozialpartnerschaft eingestellt, dass man den Streik als Mittel grundsätzlich erstmal ablehnt. Zum anderen imaginiert man sich als zukünftige Elite, weshalb sich die Weiterarbeit für einen persönlich scheinbar mehr lohnt als der Streik.

A: Die gegenwärtige Organisation und Funktion des Studiums innerhalb der Arbeitswelt nötigt Studierende dazu, sich fortdauernd zu optimieren, immer zu berechnen, ob das, was man gerade tut, Erfolg verspricht. Das heißt zum Beispiel, dass man – wenn man nicht in der Zeit arbeiten muss, um das Studium und den Lebensunterhalt zu finanzieren – während der Ferien Praktika macht, wie es auch die Studentin bei Spargel Ritter erzählt hat. Das Praktikum ist ein Sinnbild dafür, wie viele junge Menschen gelernt haben zu arbeiten: Arbeit ist nicht unmittelbar das, wofür man Geld bekommt, sondern man arbeitet, um irgendwann die Möglichkeit zu bekommen, Geld zu verdienen. Die moderne Hochschule fordert ihre Studierenden geradezu dazu auf, möglichst bewusst und gezielt in ihr eigenes Humankapital zu investieren. Und wenn man sich dann, auch nach dem Studium noch, in ätzenden Arbeitsverhältnissen wiederfindet, geht man da trotzdem mit und hangelt sich von befristetem Vertrag zu befristetem Vertrag, immer in der Hoffnung, es irgendwann zu schaffen und vielleicht in einer Position zu sein, in der man sich individuell ein schönes Leben machen kann.

Ein interessantes Beispiel dafür ist das Medizinstudium, weil da die Chancen, dass dieser Plan aufgeht, hoch sind: Medizinstudierende werden nicht nur während der Famulaturen und im Praktischen Jahr als unverzichtbare Arbeitskräfte in Krankenhäusern eingesetzt, nicht oder lächerlich schlecht für ihre Arbeit bezahlt und dazu oft von den Chefärzt_innen herabgewürdigt. Dann die Jahre bis zur Fachärzt_in, bis man nicht mehr „in Ausbildung“ ist. Da kann der ein oder andere schon auf die Idee kommen, dass man verdientermaßen viel mehr verdient und viel mehr Anerkennung bekommt als das restliche Personal im Gesundheitswesen. Und vielleicht auch, dass man die Scheiße, die man selbst gefressen hat, nun andere fressen lassen kann.

 

d: Also ist ein entscheidender Ansatz, diese bestehenden Hierarchien, bereits in der Ausbildungsphase, auf- und anzugreifen?

A: Genau. Die Frage ist, wie sich bei gleichzeitigem Respekt vor der Ungleichheit der Individuen die selbstverständliche Solidarität als Belegschaft ausprägen kann. Eine ungerechte Hierarchisierung der Einzelnen wirkt dem entgegen. Wir hatten vergangenen Herbst Daniel Kulla zu Gast, der von Fabriken in Argentinien berichtet hat, die von den Chefs dichtgemacht werden sollten, aber von der Belegschaft „instandbesetzt“, das heißt in Selbstverwaltung weiter betrieben wurden. Er hat eindrücklich dargestellt, dass ein entscheidender Punkt dabei ist, dass alle den gleichen Lohn bekommen. Damit ist den Spaltungsmöglichkeiten ein starkes Hindernis in den Weg gestellt.

Auch an der Universität kann es schwierig sein, sich als Verbündete über Status- und Berufsgruppen hinweg wahrzunehmen, wenn so große äußerliche Unterschiede zwischen uns gemacht werden. Beispielsweise haben eine Genossin im unter_bau, die als Reinigungskraft in der Uni arbeitet und mehrfache Mutter ist, und ich als studentische Hilfskraft momentan fast den gleichen Stundenlohn, nach meinem Abschluss könnte ich wahrscheinlich selbst in Teilzeit noch mehr verdienen als sie. Auch sprachliche oder habituelle Unterschiede könnten den Eindruck erwecken, dass uns mehr trennt. Deshalb sind wir immer gefordert, unsere wesentlichen Gemeinsamkeiten zu finden. Wie sollten wir sonst mit- und füreinander kämpfen? Dafür müssen wir uns nicht alle als gleichermaßen betroffen wahrnehmen. Und wenn ein Genosse aus der Gewerkschaft eine Genossin, die sich aus einer unguten Ehe löst, in ihrer Muttersprache dabei unterstützt behördendeutsche Formulare auszufüllen, stimmt mich das hoffnungsfroh.

 

d: Du sprichst damit einen entscheidenden Punkt an. Denn auch wenn man ein vergleichbares Lohnniveau hat, befindet man sich doch häufig in einer ganz anderen Situation und geht mit einer anderen Einstellung an „die Arbeit“. Worüber wir bisher gesprochen haben, ist ja auch einigermaßen gut erforscht: Die ökonomischen Bedingungen der Universität, die Produktion von Humankapital etc. Aber was oft hinten runterfällt, ist die Frage, wie man diese Bedingungen und damit letztlich auch das eigene „Klassenbewusstsein“ überwindet. Also ein Bewusstsein dafür zu schaffen, worin die Ausbeutung besteht und begreiflich zu machen, dass man einen gemeinsamen Kampf führt und die Unterschiede aus den Arbeitsverhältnissen entstehen. Damit man nicht den einfachen Weg gehen kann, einen Protest zu führen, der die Unterschiede wiederholt, sondern darauf hinarbeitet, dass jene uns trennenden Unterschiede nicht mehr erzeugt werden.

A: Die meisten Leute, die gewerkschaftlich organisiert sind, haben ja auch ein konkretes eigenes Interesse daran. Man kann natürlich versuchen, sich alleine durchzuschlagen, aber die kleineren Arbeitskämpfe, die wir bisher geführt haben, waren erfolgreich, eben weil sich mehrere Leute zusammengeschlossen haben, deren „Eigeninteressen“ sich überschnitten haben. Ich denke da zum Beispiel an einen Kampf von Hilfskräften, als in deren Abteilung mehrere Arbeitsverhältnisse gleichzeitig beendet wurden und zusätzlich noch Minusstunden nachgearbeitet werden sollten. Da wurden letztlich fast alle Verträge verlängert, weil sie sich zusammengeschlossen haben.

Es merken ja inzwischen fast alle, dass es so, wie es ist, nicht mehr funktioniert. Da wird noch einiges zur Legitimierung drübergepackt, aber im Prinzip ist doch allen klar, dass die Universität ihren Auftrag nicht richtig erfüllt. Jede Person, die in einem befristeten Drittmittelprojekt beschäftigt ist und einen großen Teil ihrer Zeit damit verbringt, Anträge zu schreiben, um irgendwie die eigene Stelle zu sichern, anstatt mit ausreichend Zeit zu forschen und zu lehren, weiß, dass das nicht die Universität ist, die wir wollen. Und jede Studentin, die ein Seminar, von dem sie sich Erkenntnis verspricht, nicht belegt, weil es in kein Modul passt oder sie keinen Platz bekommen hat, weiß das. Jede Person, die im administrativen Bereich arbeitet, wo Arbeitsbereiche künstlich zusammengelegt oder gleich ganz outgesourct werden, um Personal und Kosten zu sparen, weiß das.

 

d: Also gehen die Wahrnehmungen statusgruppenübergreifend in eine ähnliche Richtung und ihr arbeitet daran, das mit Wissen über die Institution Universität zu unterfüttern. Wie steht es aus dieser Perspektive um die These, wonach neoliberale Reformierungen häufig Verantwortungen aufteilen und verstecken, sodass sie nicht mehr an konkrete Stellen gebunden sind und somit auch nicht so leicht angegriffen werden können?

A: Klar ist es mühselig, die Universität zu durchschauen – bei uns heißt dieser kontinuierliche Prozess Betriebsanalyse. Aber letztlich kann man schon einigermaßen nachvollziehen, an welchen Stellen Entscheidungen getroffen werden, welche Abhängigkeiten bestehen und wo Druckpunkte für gewerkschaftliche Interventionen zu finden sind. Die Forderungen, die sich daran anschließen, sind häufig erst mal die nach mehr Grundförderung durch Bund und Länder an Stelle von Drittmittelfinanzierung etc. Aber es ist ja nicht so, als hätten die Professuren, die Fachbereiche und die Zentralverwaltung keinerlei Einfluss darauf, wie Gelder und Entscheidungsmacht innerhalb der Universität verteilt werden.

 

d: Gerade wenn man die Veränderungen der Arbeitsbedingungen betrachtet, gibt es ja viele Parallelen zu anderen Bereichen. Zu den Aufgaben von Gewerkschaften zählt dann nicht nur, die Kämpfe innerhalb eines Betriebs oder Sektors zu verbinden, sondern auch als Katalysator gesamtgesellschaftlicher Kämpfe zu fungieren. Wie nehmt ihr diesen Zwiespalt war, der ja gewerkschaftliche Bewegungen historisch immer geprägt hat und der heute vielleicht noch am deutlichsten an der Aufspaltung der „großen“ DGB-Gewerkschaften und den basisdemokratischen, syndikalistischen Gewerkschaften nachzuvollziehen ist?

A: Es ist mir wichtig zum Schluss nochmal festzuhalten: unter_bau ist auch ein Experiment und wir haben uns ein ziemlich schwieriges Feld ausgesucht. Wobei, was heißt „ausgesucht“ – wir haben ja zum Teil aus einer ganz konkreten Enttäuschungssituation zusammengefunden. Die Hilfskräfte haben 2015 gestreikt, GEW und ver.di hatten versprochen den Tarifvertrag durchzusetzen und das Erste, was bei den Verhandlungen unter den Tisch gefallen ist, war der Tarifvertrag für Hilfskräfte. Daraufhin haben sich einige Hilfskräfte gedacht: „Na gut, was sollen wir jetzt noch machen? Wir waren die einzigen, die gestreikt haben und das energisch und zu mehreren Hunderten und die Gewerkschaften juckt das überhaupt nicht.“ Unter anderem aus dieser Erfahrung vieler späterer unter_bau-Mitglieder heraus ist der Plan umgesetzt worden, eine eigene Gewerkschaft zu gründen. Dass wir ausgerechnet an der Uni gewerkschaftlich aktiv sind, liegt einfach daran, dass wir eben an der Uni arbeiten oder studieren. Auch von denen, die inzwischen die Goethe-Uni verlassen haben, wird immer wieder berichtet, dass sie es dort, wo sie jetzt arbeiten, total vermissen, eine Gewerkschaft wie unter_bau zu haben. Es war auf jeden Fall eine unserer Hoffnungen, dass sich andere von der Idee angesprochen fühlen – und das muss ja auch nicht nur die Lohnarbeit betreffen. In Berlin hat sich zum Beispiel eine Mieter_innengewerkschaft gegründet, weil man Lohnentwicklungen nicht abgekoppelt von Mietentwicklungen betrachten kann.

Die Aufgabe von Gewerkschaften ist also, Verständnis für konkrete Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu entwickeln und vernünftige Strategien zu ihrer Verbesserung zu erarbeiten. Der Grundgedanke syndikalistischer Gewerkschaften ist, dass man dort, wo man gemeinsam lebt und arbeitet, beobachtet, was falsch ist, und herausfindet, welche Möglichkeiten wir haben, um konkrete Lebens- und Arbeitsverhältnisse solidarisch zu verbessern – immer orientiert an der Idee, die Einheit, in der man sich befindet, so einzurichten, dass die ganze Gesellschaft in Selbstverwaltung übergehen kann.

 

d: Vielen Dank für das Gespräch.

 

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