Ist die Rede vom Flanieren oder dem Flâneur im spezielleren, geht es meist um den weißen Mann, der sich als leidenschaftlicher Beobachter der Großstadt in die Masse einfügt und sich im Zuge dessen einerseits im Zentrum des Geschehens befindet, gleichzeitig jedoch danach trachtet, unsichtbar zu bleiben.

 

Flâneuse in der Großstadt

Als Frau ist das Gefühl völliger Anonymität und Unsichtbarkeit in der Stadt ein seltenes. Die Anonymität der Großstadt existiert nur für bestimmte Subjekte, vor allem weiße Männer der Oberschicht, während sie Frauen, PoC, queeren Menschen oder Arbeiter*innen etc. verwehrt bleibt. Dem patriarchalen Blick ausgesetzt zu sein, Belästigungen und Gewalt zu erfahren, beeinflusst das weibliche Auftreten in Städten maßgeblich. Feministische Autor_innen konstatieren zum einen, dass „das Modell des Flâneurs als ausschließende Trope […] kritisiert werden sollte“ , andere beziehen sich auf den Flâneur als „Figur, die angeeignet“ werden müsse . Während erstere der Meinung sind, Frauen könnten nie ganz in der Unsichtbarkeit des Großstadtlebens verschwinden, weil sie stets dem männlichen Blick ausgesetzt seien, beharren letztere auf der Annahme, der weibliche Flâneur bzw. die Flâneuse* hätte schon immer existiert. Sie verweisen in ihrer Argumentation auf Autor_innen wie Virginia Woolf, die in ihrem Aufsatz Street Haunting: A London Adventure aus dem Jahr 1930 darüber schreibt, dass es für sie als Frau eine große Freiheit und Entspannung sei, die Straßen Londons für sich einzunehmen, zu entdecken und zu erkunden. Die feministische Geografin Leslie Kern beschreibt in ihrem Werk Feminist City, welches 2020 in der deutschen Übersetzung im Unrast Verlag erschien, wie vor allem der schwangere Körper den Blicken und Belästigungen eines großstädtischen Treibens ausgesetzt ist. In ihrem Bezug auf den schwangeren Körper verweist sie auf eine Leerstelle in den feministischen Schriften zur Flâneuse* und versucht diese theoretisch zu füllen. So spricht Kern davon, dass vor allem Schwangere ungebetenen Berührungen, Belästigungen und Blicken ausgesetzt sind, die es nicht ermöglichen, ein Gefühl der Privatheit in der Masse zu erlangen, sondern sie zu einem öffentlichen Körper werden lassen.

Abgesehen von der Frage nach der Flâneuse* sei darauf hingewiesen, dass Städte im Allgemeinen an die Erwartungen der patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft angepasst sind und in diesem Sinne an die Bedürfnisse des weißen Mannes als Stadtbewohner. Dabei sind beispielsweise die Lage der Wohngebiete und Arbeitsplätze, der öffentliche Nahverkehr wie auch die allgemeine Konzeption von Städten Ausdruck dessen, wer wo wann welche Aktivitäten ausführen kann und soll.

 

Die Konzeption von Städten aus feministischer Perspektive

Moderne Städte wurden nicht, wie häufig angenommen, mit der Intention erbaut, die Doppelbelastung von Frauen in Bezug auf Lohnarbeit und Care- sowie Hausarbeit zu managen.

Innerhalb der feministischen Geschichte der Planung und Gestaltung von Wohnsiedlungen und Häusern stand vor allem der Aspekt einer Kollektivierung der Kindererziehung wie auch der Hausarbeit im Fokus. Durch diese Kollektivierung sollte Frauen der Zugang zum Arbeitsmarkt, die Gleichstellung mit den Männern und die „intellektuelle Entwicklung“ erleichtert werden. Indem sich Frauen gemeinsam organisieren, eignen sie sich den Raum und die Stadt durch eben diese Organisation an.

Aber zurück zum Flanieren selbst: die Grundvoraussetzung des Flanieren-Könnens besteht in der Möglichkeit, sich uneingeschränkt und vor allem uneingeschüchtert im öffentlichen Raum zu bewegen.

Als (junge) Frau ist ein freies Flanieren ohne Einschränkungen und Belästigungen kaum möglich: eigene Erfahrungen ängstlicher Gefühle bei einem nächtlichen Nach-Hause-Weg, der direkte Griff zum Handy, um mit Freund_innen zu telefonieren (was in meiner Vorstellung einen gewissen Schutz vor Übergriffen bieten sollte) oder aber der Schlüsselbund, der fest im Handgriff verankert ist, um sich wehren zu können. All diese Mechanismen sind (jungen) Frauen verinnerlicht und gehören zur weiblichen Subjektivierung. Sie bestimmen die Art und Weise, wie sich Frauen in der Öffentlichkeit bewegen: immer wachsam. Gerade darin liegt der Hauptunterschied zum männlichen Flâneur, der sich aufgrund seines Geschlechts frei bewegen kann, ohne sich Gedanken über das Bewegen zu machen.

Wie kann sich also das Flanieren auch für Frauen durchsetzen? Und was bedarf es für die Flâneuse*, sich uneingeschränkt die Stadt anzueignen?

Sich als Frau des Flanierens zu ermächtigen, bedeutet, den patriarchalen Blick anzugreifen und sich den Raum zu nehmen, um die Großstadt in all ihren Facetten wahrnehmen und genießen zu können. Dabei soll die Stadt all jenen gehören, die in ihr auftreten, leben und flanieren.

Die Frage danach, wie sich Frauen heute auf den Straßen bewegen (können) ist dabei weder eine ausschließlich akademische, noch eine unbedeutende. Unmittelbar in Zusammenhang stehen damit Aspekte ungleicher Machtverteilung und Herrschaft.

„Seit dem 19. Jahrhundert ist die Flânerie, also das Phänomen, über das Benjamin theoretisiert und das Baudelaire gefeiert hat, nicht nur das Privileg des bürgerlichen, gebildeten, wohlhabenden und weißen Mittelstands gewesen, sondern vor allem eines der Männergesellschaft.“

Somit wird deutlich, wie stark vor allem Frauen vor der Frage stehen: Wie sich die Straße und die Stadt aneignen, die nicht für mich gebaut wurde, die nicht dafür gemacht wurde, mir zu gehören?

 

Von der Frauenbewegung zum Flexen

In diesem Zusammenhang darf vor allem die Frauenbewegung nicht nur als Metapher begriffen, sondern muss im wörtlichen Sinne ernst genommen und umgesetzt werden.

So lange Frauen auf den Straßen Belästigungen, Überwachung und Gewalt ausgesetzt sind, so lange sieht sich die Flâneuse* mit zunehmenden Schwierigkeiten konfrontiert. So lange also der männliche Blick, wie auch physische und körperliche Gewalt immanent ist, bleibt Frauen ein freies Bewegen und Flanieren in den Städten verwehrt.

Es geht auch vor allem darum, sich als Frau einen Platz in dieser Tradition zu erkämpfen und mit dem Bild des weißen Mannes mit Stock und Hut, das bei dem Sprechen über den Flâneur omnipräsent ist, zu brechen. Das Wort Flâneuserie ist noch in keinem Wörterbuch zu finden, weshalb verschiedene Frauen, queere Menschen und PoC in einem 2019 erschienenen Buch zu diesem Thema ein neues, schon vorhandenes Wort dafür einbringen: Flexen.  In dem genannten Buch beschreiben die Autor_innen den Begriff zu Beginn in seinen verschiedenen Bedeutungsebenen:

„Flex|en, das, – kein Pl.: 1.trennschleifen 2. biegen 3.Sex haben 4. das Variieren der Geschwindigkeit beim Rap 5. die Muskeln anspannen 6. seine Muskeln zur Schau stellen 7. Flâneuserie.“

Dabei geht es darum, den Begriff des Flanierens neu zu erfinden und zu erweitern. Die Frage danach, ob es dafür wirklich eines neuen Begriffes bedürfe, beantworten die Autor_innen mit einem entschlossenen Ja. Gerade deshalb, weil es für Frauen bis dato noch keinen Platz in der Flânerie gibt. Als Frau bedeutet die Bewegung in den Städten entweder „aufpassen“, „gesehen werden“ oder „unsichtbar sein“. Damit gilt es zu brechen. Flexen meint eben an Orten zu sein, die für die Flâneuse* erstmal nicht vorgesehen scheinen, sich den Raum zu nehmen und präsent zu sein.

Also lasst uns flexen!

Von Leonie Wüst

 

.*lit

Özlem Özgül Dündar et al. (2019), Flexen – Flâneusen* schreiben Städte. Berlin, Deutschland: Verbrecher Verlag.

Anke Gleber (1999), Die Frau als Flaneur und dSinfonie der Großstadt, In: Katharina von Ankum (Hrsg.), Frauen in der Großstadt – Herausforderung der Moderne?. (1. Aufl.). Dortmund, Deutschland: edition ebersbach, S. 59-88.

Leslie Kern (2020), Feminist City. Münster, Deutschland: Unrast Verlag

Marianne Rodenstein (1994), Wege zur nicht-sexistischen Stadt. Architektinnen und Planerinnen in den USA. Freiburg, Deutschland: Kore Verlag.

.*notes