Die »Euthanasie« war eines der zentralen Verbrechen der nationalsozialistischen Medizinpolitik und markierte einen radikalen Bruch mit grundlegenden ethischen Prinzipien ärztlichen Handelns. Zwischen 1939 und 1945 wurden im Rahmen der »Aktion T4« sowie nach deren offizieller Einstellung in dezentral organisierten Tötungsaktionen weit über 200.000 Menschen mit geistigen, psychischen oder körperlichen Beeinträchtigungen ermordet. Diese Verbrechen waren nicht nur Ausdruck rassistisch-eugenischer Ideologien, sondern auch Resultat eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Konsenses über »lebensunwertes Leben«. Wie Dagmar Herzog in ihrer Studie deutlich macht, endete die eugenische Ideologie und Praxis nicht einfach nach 1945. Die mangelnde juristische Aufarbeitung, das lange Schweigen über die Opfer und die institutionellen Kontinuitäten in Medizin und Psychiatrie werfen bis heute Fragen nach individueller wie gesellschaftlicher Verantwortung und Erinnerung auf. 

DISKUS: Welche Rolle hat die »Euthanasie« in der NS-Ideologie und Politik gespielt?

HERZOG: Eine absolut zentrale Rolle. Man wollte sich dieser (angeblich so schweren) ›Last‹ der Menschen mit Beeinträchtigungen entledigen und damit bestimmte ›Kräfte‹ freisetzen.

Vor allem ging es darum, die heiß ersehnte ›Vollkommenheit‹ zu erreichen, zur erträumten »Herrenrasse« zu werden. Dieser Umstand war nicht einfach gegeben, wie etwa auch schon die Historikerin Gisela Bock in den 1980ern so pointiert bemerkt hat:

»Die gelobte ›Rasse‹, das ›Herrenvolk‹, war nicht gegeben, war nicht das real existierende deutsche Volk, sondern sollte überhaupt erst hervorgebracht werden.«[1]

Im Rückblick können wir sagen, dass es sich unter anderem um eine ›Care-Krise‹ – was heutzutage als Pflegenotstand bezeichnet wird – handelte. Also der Unwille, ausreichend Personal und Ressourcen für die tagtägliche Fürsorge für Menschen, die nicht, oder nicht mehr, eigenständig für sich selber sorgen können, aufzuwenden – als ob engagierte Sorge für die Sorgebedürftigen nicht essentieller Teil einer starken Gesellschaft wäre. Der Massenmord an den am meisten der Sorge bedürftigen Menschen diente dann als vermeintliche Lösung.

Dieses ökonomische Argument, der Staat könne sich die Pflege und Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigung nicht ›leisten‹, wurde intensiv eingesetzt, um die Durchschnittsbevölkerung (unter anderem auch Schulkinder mit ideologisch untermalten Mathe-Aufgaben aus den Schulbüchern, in denen sie beispielsweise ausrechnen mussten, wie viele Eigenhäuser für »erbgesunde« Arbeiterfamilien gebaut werden könnten, wenn es die Anstalten nicht gäbe) sowie die konservativeren, alten Eliten, vor allem in der Kriegszeit, davon zu überzeugen, dass Geld eingespart werden müsse.

 

Das Bild zeigt eine ideologische Darstellung der vermeintlich ökonomischen Belastung des Staates durch Menschen mit Beeinträchtigung von 1938

Quelle: Bildtafel für den Schulunterricht, aus: Alfred Vogel, Erblehre und Rassenkunde in bildlicher Darstellung, Stuttgart 1938.

 

Eine Rechenaufgabe aus einem Schulbuch von 1941, die die Ideologie der vermeintlichen Minderwertigkeit und ökonomischen Belastung von Menschen mit Beeinträchtigungen Ausdruck verleihen sollte.

Quelle: ›Was Kostet die Betreuung Erbkranker‹, in: Rechenbuch für Volksschulen. Gaue Westfalen-Nord u. Süd. Ausgabe B. Heft V – 7. und 8. Schuljahr. (Leipzig, [1941]). 

 

Die beiden Bilder zeigen exemplarisch Rechenaufgaben aus dem Schulunterricht, die die ›ökonomische Tragweite‹ der Sorge für Menschen mit Beeinträchtigung darstellen soll.

Eigentlich war das jedoch ökonomischer Humbug. Die Ermordung von Menschen mit Beeinträchtigung hat nicht sonderlich viel Geld gespart. Aber die Motivation war eben nicht nur eine finanzielle. Als es in den 1990ern wieder einmal um die Frage nach den ökonomischen Motiven des NS ging, merkte der Historiker Henry Friedlander zu den ideologischen Ursprüngen der NS- »Euthanasie« lapidar-bissig an:

»Man baut keine Mordmaschinerie auf, um Wurst zu sparen.«[2]

DISKUS: Gerade die ideologischen und personellen Überschneidungen von »Euthanasie« und Holocaust, namentlich der »Aktion T4« und der »Aktion Reinhardt«, wurden lange Zeit ausgeblendet, weshalb?

HERZOG: Die diversen Überschneidungen von Holocaust und »Euthanasie« – z.B. die »Sonderaktion«, in der gezielt jüdische Menschen mit Beeinträchtigungen (also mit doppeltem Stigma betroffen) getötet wurden –  oder das Faktum, dass manche der Täter an beiden Massenmordprogrammen beteiligt waren – wurden in den unmittelbaren Nachkriegsjahren recht wenig wahrgenommen. Überhaupt: Auch kritisch denkende Menschen haben lange Zeit gar nicht gewusst, wie viele Menschen mit Behinderung in der zweiten, dezentralisierten Phase der »Euthanasie« ermordet wurden, dass dabei z.B. noch einmal doppelt so viele Menschen wie die 70.000, die zwischen Januar 1940 und August 1941 in den Kohlenmonoxidgaskammern der sechs T4-Anstalten getötet worden sind, ermordet wurden, das wusste niemand. Die »Euthanasie«-Morde wurden insgesamt in den ersten Nachkriegsjahrzehnten selten thematisiert. Behinderung war weiterhin stark stigmatisiert.

Es gab mindestens drei Etappen im Versuch, die zwei Mordprojekte zusammenzudenken; man kann sich dafür als Kürzel merken: Kontrast, Kontinuität, Komplementarität. Die ersten Versuche setzten in den späteren 1960er Jahren ein. Namentlich beteiligt an der Thematisierung waren beispielsweise der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno und der Psychiater und Medizinhistoriker Klaus Dörner. Ihre Beiträge aber zielten darauf ab, vor allem den Kontrast zwischen »Euthanasie« und Holocaust hervorzuheben – sie fragten sich unter anderem, warum es während der NS-Zeit zu Unruhe und Protesten in der Bevölkerung und den Kirchen bzgl. der ›Krankenmorde‹ kam, ein Großteil der Menschen und Institutionen angesichts der Verschmähung, Verfolgung und Ermordung der Jüdinnen und Juden jedoch schwieg – oder sich sogar daran beteiligte. Adorno kam voller Trauer zu dem Schluss, dass hinsichtlich der »Euthanasie« protestiert wurde, weil es im Falle dieser das ›eigene Volk‹ war. Dörner, andererseits, vermutete, oder spekulierte, dass es eher psychische Gründe gewesen seien: dass die Universalität der Möglichkeit von Behinderungen – also, dass Schwäche und Abhängigkeit eigentlich jedem passieren, dass man selbst betroffen sein könnte – dass sich vielleicht deshalb mehr Protest regte.

Erst mit engagierter Forschung in den 1980er Jahren wurde ein neues Paradigma in die Debatte eingebracht. Fortan unterstrichen Wissenschaftler_innen zunehmend die sequentielle Kontinuität zwischen Krankenmordund ›Judenmord‹ – d.h. zuvorderst den Technik- und den Personaltransfer. Bei dem Personaltransfer handelte es sich weniger um die Ärzte, sondern vor allem um das ›niederrangige‹ Personal, bspw. die technisch adepten Leute, die Brenner sowie ehemalige Pfleger oder Wärter, die von den »Euthanasie«-Mordanstalten in die Mordlager der »Aktion Reinhardt« Belzec, Sobibor und Treblinka übergingen. Dort wurden sie dann zu Herren über Leben und Todvi.

Ich möchte hier vor allem betonen, dass dieses in den 1980er Jahren einsetzende neue Interesse an den Kontinuitäten nicht allein das Ergebnis von akribischer Forschung war (obwohl auch), sondern vor allem einen leidenschaftlichen Versuch darstellte, das Leben von Menschen mit Behinderungen wertzuschätzen und ihr Leiden ernst zu nehmen – darauf zu insistieren, dass ihr Leid auch zählen muss. Der freie Journalist und nichtbehinderte Behindertenrechtsaktivist Ernst Klee sprach davon, dass der ›Krankenmord‹ »der Probelauf für den Judenmord« war[3], er stellte also den Versuch an, den ›kleinen Genozid‹ mit dem ›großen Genozid‹ in Verbindung zu bringen.

Ich finde aber vor allem einen dritten möglichen konzeptionellen Rahmen wichtig, den der Komplementarität. Zu nennen wären hier zum einen der von mir sehr verehrte, couragierte Psychiater Gerhard Schmidt, der in einem lange unterdrückten, aber dann 1965 publizierten Buch[4] von der komplementären Beziehung zwischen »Rassenhass« (gegen Jüdinnen und Juden) und »Rassenangst« (vor der Unvollkommenheit der nichtjüdischen Deutschen) spricht. Überdies auch Klaus Dörner, der eine große Entwicklung im eigenen Denken durchgemacht hat und am Ende der 1970er anfing den Bezug zwischen dem »Krieg nach außen« und dem »Krieg nach innen« zu betonen.[5] Aber eben vor allem die Historikerin Gisela Bock, die Ende der 1980er Jahre überzeugend darlegte, inwiefern der NS-Rassismus schon immer zwei komplementäre Seiten aufwies: eine »anthropologische« (gegen Jüdinnen und Juden, Roma, und Schwarze) und eine »hygienische« (gegen die ›Imperfektion‹ im eigenen Volk).

DISKUS: In deinem Buch schreibst du: »Die Eugenik zu verlernen, erwies sich als ungemein langwieriger postfaschistischer Prozess, der noch immer nicht abgeschlossen ist.« – In welcher Hinsicht ist die Aufarbeitung der NS-»Euthanasie« im Verhältnis zur Aufklärung der antisemitischen und rassistischen Verbrechen des Nationalsozialismus verlaufen? Wurden die Euthanasieverbrechen in spezifischer Weise verleugnet? Wie lässt sich dies erklären?

HERZOG: Da muss man erst einmal auf die Ärzteprozesse der Nachkriegszeit schauen und auf die diversen darin aufkommenden, erschreckend erfolgreichen, selbstentlastenden Argumente der Täter. Beispielsweise mit Bezug auf vorgetäuschte Unwissenheit, wie etwa: ›Ich dachte, das wäre legal‹ oder: ›Ich musste manche töten, um andere zu retten‹, d.h. ›um Schlimmeres zu verhindern‹; oder die ›einfache‹ Rechtfertigung, dass es schlicht richtig war, diese »Menschenhülsen« zu töten.

Dazu kommt die aggressive Entschädigungsverweigerung von Zwangssterilisationsopfern. Es wurde behauptet, die Sterilisierungen wären medizinisch-wissenschaftlich ›berechtigt‹ gewesen, das habe nichts mit dem (für Widergutmachungsentschädigungen juristisch relevanten) NS-Rassismus zu tun. Wenn es dafür Wiedergutmachungszahlungen gäbe, ginge das Geld, so die grausame ideologische Argumentation, zu 60 Prozent an »Geisteskranke, Schwachsinnige und Alkoholiker«, so die Aktennotiz eines Beamten im Finanzministerium im Jahr 1962.[6] An der Verweigerung der Anerkennung des Leids und der notwendigen Entschädigung hat bspw. die protestantische Kirche lange mitgewirkt.

Dass die protestantischen Christen sich so lange an der Entschädigungsverweigerung beteiligt und eugenisches Gedankengut nicht hinterfragt haben, sondern immer nur stolz ihre Momente des Protests gegen die »Euthanasie« hervorgehoben haben, hat auch das ›Verlernen‹ der Eugenik sehr verlangsamt.

Dazu muss man sagen, dass es lange Jahre weiterhin ein »Euthanasie«-Begehren in der Bevölkerung gab, in den 1960er Jahren haben Anstaltsleiter mit Verstörung diese offen ausgesprochenen Todeswünsche wiederholt beschrieben. Auch blieb der Glaube an eine Vererbbarkkeit von Behinderungen und psychischen Krankheiten bis in die 1970er Jahre bestehen. Da musste erst eine neue Generation kommen: u.a. die Krüppelbewegung, aber auch engagierte Zivis, junge radikale Professionelle im Bildungs- und Gesundheitswesen, aktivistische Eltern von Kindern mit Behinderungen und weitere bis umgedacht und anders gehandelt wurde.

DISKUS: Gerade die Kirchen und die kirchlichen Einrichtungen verdrängten also die eigene Rolle in der Vorbereitung und Legitimierung der NS-»Euthanasie« in der Nachkriegszeit. Eugenische Vorstellungen wurden ihrerseits schon in der Weimarer Zeit in theologische Konzepte integriert. Nach dem Krieg aber brüsteten sich beide Kirchen damit, sie hätten Widerstand gegen die NS-Morde geleistet. Wie lässt sich dieseskomplizierte Verhältnis der Kirchen und ihrer Vertreter zu den Verbrechen der »Euthanasie« beschreiben?

HERZOG: Dieses Verhältnis ist in der Tat sehr komplex. Einerseits hat niemand während des »Dritten Reichs« mehr für Menschen mit Behinderung getan als kirchlich gebundene Personen, ob Kirchensprecher oder in den kirchlichen Institutionen Tätige, katholische wie evangelische. Protestbriefe wurden geschrieben, Verhandlungsversuche mit Regierungsbeamten angestrengt, Familien alarmiert, dass sie ihre Familienmitglieder aus den womöglich betroffenen Pflegeeinrichtungen nach Hause bringen sollten. Es wurden in vielerlei Hinsicht Hilfsstellungen geleistet, Diagnosen wurden auf Formularen verändert, Meldeformulare so ausgefüllt, dass Menschen darauf noch als »arbeitsfähig« galten, Auseinandersetzungen wurden mit Deportationspersonal noch an den Bustüren geführt oder es wurde auf Hungerstationen heimlich Essen zugesteckt. Die Unterstützung war also sehr vielseitig. Zudem hat Bischof von Galen im August 1941 die sehr wichtige und einflussreiche Predigt gehalten, die dazu geführt hat, dass die T4-Gaskammer-Phase der »Euthanasie«-Morde gestoppt wurde.

Andererseits muss konstatiert werden, dass schon in den Weimarer Jahren vor allem die Protestanten den Ekel und die abschätzigen, extrem stigmatisierenden Einstellungen gegenüber Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen noch verschärft haben, eugenisches Gedankengut übernommen und »theo-biopolitisch« weiterentwickelt haben, in der Hoffnung, es würde ihren sexualkonservativen Botschaften Nachdruck verleihen. Die Innere Mission, heute ist das die Diakonie, d.h. die Dachorganisation für alle sozialen Dienste der evangelischen Kirche, hat schließlich eine Art Kompromiss entwickelt: »Euthanasie« nein, Eugenik ja. Also: Mord nein, Sterilisierung ja. Die Katholiken positionierten sich selbstverständlich gegen jede Intervention in die Reproduktionsfähigkeit, sie haben die NS-Zwangssterilisierungen aber letztendlich auch zulassen müssen.

Die große Tragik dabei ist, dass trotz der Proteste auch die am engagiertesten für ihre Schützlinge bzw. ihre Bewohnerinnen sich einsetzenden Anstaltsleiter letztendlich hilflos vor den mit Brutalität durchgesetzten Abtransporten in die T4-Gaskammern dastanden.

In der zweiten Phase der »Euthanasie« gibt es dann eine ganz andere Dynamik, weil der Bombenkrieg an der »Heimatfront« immer wieder Anlass bietet, den Anstalten zu sagen, Menschen müssten in eine andere Anstalt »verlegt« und dann nochmal »verlegt« werden (es gab ein großes Netz an »Zwischenanstalten«, bevor die Menschen dann in die Tötungsanstalten kamen). Dort wurden die Menschen nicht mehr mit Gas, sondern mit Spritzen, Medikamentenüberdosis oder gezieltem verhungern lassen ermordet.

Ich denke, in der Nachkriegszeit wollten sich die Kirchen den Alliierten gegenüber als widerständig inszenieren, sie betonten also die Protestbriefe oder von Galens Predigt, um dieses Bild zu stützen.

Eigentlich war da aber eine tiefe Scham – und zwar eine Doppelte. Zum einen dafür, dass man die eigenen Schutzbefohlenen nicht schützen konnte. Zum anderen: Angesichts der weiterhin schwelenden Behindertenfeindlichkeit in der Gesellschaft haftete Scham an den Anstalten selber, weil sie sich überhaupt um Menschen kümmerten, die für sich selbst nicht sorgen konnten.

Es hat lange gedauert, bis ein kreatives Gegenmodell entstanden ist, angefangen hat das in den 1970er-Jahren. Zwei aufsässige, von Martin Buber und Karl Marx inspirierte Sonderschullehrer, selbst bezeichneten sie sich als Behindertenpädagogen, in Westdeutschland (an der Uni Bremen) sowie ein christlich motiviertes Kinderärztepaar im SED-Osten (am Katharinenhof in Grosshennersdorf in der Oberlausitz) wurden damals für viele Hunderte von Menschen im Bildungs- und Gesundheits- und Wohlfahrtsbereich zu wichtigen Inspirationsfiguren. Dazu kamen weitere Tausende aktivistische, behindertenrechtsbewegte Professionelle, die der Debatte eine neue Richtung verliehen. Bis sich dann jedoch ein angemessener Praxiswandel durchsetzen konnte, dauerte es noch. Die Kirchen und kirchlichen Anstalten aber haben sich nicht von selbst reformiert, sie mussten von den Praxiswandlern lernen.

DISKUS: In der DDR wurde mitunter stolz berichtet, wie sehr der Staat sich bemühte, Unterstützung für Menschen mit Behinderung und deren Familien zu bieten - bspw. durch die Einführung von Modelleinrichtungen wie Tagesstätten zur Rehabilitation von Kindern mit Erkrankungen des Gehirns oder die Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen in den volkseigenen Betrieben. Warum haben sich viele der hierein gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt - und was zeichnet den besonderen Umgang der DDR mit den »Euthanasie«-Verbrechen aus?

HERZOG: Im Osten Deutschlands hat die SED einen»sozialistischen Humanismus«vorgegeben und war, das gilt der DDR zur Ehre, explizit anti-eugenisch eingestellt. Das Regime - die DDR war schließlich ein stolzer »Arbeiterstaat« – ›versteckte‹ jedoch absichtlich vor allem Menschen mit schweren Behinderungen, die nicht nur als »nicht schulbildungsfähig«, sondern als »nicht förderungsfähig« galten. Darunter fielen jene Menschen, die seit nahezu hundert Jahren abschätzig als »Pflegefälle« bezeichnet worden waren, d.h. Menschen, die nicht arbeiten konnten. Ihre Betreuung überließ das Regime den systematisch unterfinanzierten Kirchen, denen es ansonsten zutiefst misstraute. In anderen Fällen wurden die Menschen an völlig ungeeignete Psychiatrien oder gar in Altersheime übermittelt. Tatsächlich hielten diese trostlosen Zustände im Osten länger an als im Westen. Als die Mauer fiel, kamen die skandalösen Zustände in den Psychiatrien und Altersheimen zum Vorschein, unter anderem ausgelöst durch die Ausstrahlung des erschütternden Films »Die Hölle von Ueckermünde« des Journalisten Ernst Klee aus dem Jahr 1993. Die Reportage deckte die katastrophalen Zustände in zwei psychiatrischen Anstalten in der ehemaligen DDR drei Jahre nach der Wiedervereinigung auf, als Menschen noch immer unter unwürdigsten Bedingungen untergebracht waren. Erst war die Entrüstung ob des Exposés im Film größer als das Entsetzen über die Zustände, auch das war sehr schockierend. Dennoch führte der Eklat schließlich auch zu gründlichen Reformen.

Wie im Westen so rebellierten auch im Osten in den 1970er bis in die 1980er Jahre die, wie ich sie nenne, »Antipostfaschisten«gegen die früheren postfaschistischen Zustände. Dazu gehören im Osten humanistische Atheisten, die mit großem Feingefühl wiewohl auch im gestelzten marxistisch-leninistischen Duktus von der »Verantwortung der sozialistischen Gesellschaft für ihre geistig schwer behinderten Mitglieder« schrieben, so beispielsweise der Bernburger Psychiater Helmut Späte und der Leipziger Medizinhistoriker Achim Thom. Dieser Text ist sehr beeindruckend und bildete das DDR-Gegenargument zum Buch »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« von Karl Binding und Alfred Hoche von 1920, das zur Vorlage für die NS-Morde wurde. Helmut Späte war auch der relevante Initiator für die Errichtung einer offiziellen Gedenkstätte für die »Euthanasie«-Opfer in der ehemaligen T4-Vergasungsanstalt Bernburg. Die Eröffnung erfolgte noch vor dem Mauerfall. Die NS-»Euthanasie« wurde vom SED-Regime jedoch nur dann als relevant erachtet, insofern sich die Erinnerung daran für die eigene unaufhörliche Rivalität mit dem demokratisch-kapitalistischen, angeblich »neofaschistischen« Westen, nutzbar machen ließ. Wie ich schon sagte, soll dies jedoch nicht den Verdienst engagierter Einzelpersonen in den Hintergrund rücken.

DISKUS: Das Nachwort deines Buches trägt, bezugnehmend auf die eben von dir hervorgehobenen Personen, den Titel Das Vermächtnis des Antipostfaschismus – was bedeutet dieser Begriff für dich und worin besteht dieses Vermächtnis?

HERZOG: Für die moralisch engagierten jungen Fachleute der 1970er und 1980er Jahre in Ost- und Westdeutschland, die ich als antipostfaschistisch bezeichnet habe, weil sie unzufrieden oder gar entsetzt über die weiterhin inhumane Behandlung von Menschen mit Behinderung in den postfaschistischen Jahren waren, gab es trotz ihrer fieberhaften Suche keine hinlänglich brauchbare Vergangenheit, aus der sie etwas hätten ziehen können. Auf beiden Seiten der Mauer bestand über zwei, drei – wenn nicht sogar vier – Nachkriegsjahrzehnte die inhumane Behandlung und Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung fort.

Folglich mussten sie aus dem Nichts ein neues »Menschenbild« und radikal neue Wege zwischenmenschlicher Begegnung und Interaktion erfinden. Die Hierarchisierung des Werts von Menschen, die von Anfang an mit caritativen Bemühungen um Förderung und Pflege behinderter Personen einhergegangen war, musste gänzlich aufgegeben werden. Revolutionäre Vorstellungen von Gleichheit, Reziprozität und menschlichen Möglichkeiten mussten nicht nur entwickelt, sondern auch in die Praxis umgesetzt werden. Zudem mussten die Antipostfaschisten für ihre Überzeugungsarbeit neue Sprachregelungen entwickeln. Ihr Vermächtnis besteht letztlich darin, dass sie vorgelebt haben, inwiefern der zwischenmenschliche Umgang mit vulnerablen Menschen auch anders gestaltet werden kann und dafür plädierten, am Verständnis der gleichen Menschenwürde aller festzuhalten.

DISKUS: Zum Abschluss noch ein kleiner Sprung in die Gegenwart und die Frage, wie es mit diesem Vermächtnis heute aussieht. Welche Rolle spielt die NS-»Euthanasie« in der derzeitigen Erinnerungspolitik?

HERZOG: Insgesamt gesehen ging der Trend der letzten 15 Jahre – vor allem seit Deutschland 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifizierte – glücklicherweise in Richtung eines zunehmenden Respekts für den Wert und die Würde der gegenwärtig lebenden Menschen mit Beeinträchtigungen. In Bezug auf die Vergangenheit gab und gibt es eine signifikante Ausweitung wissenschaftlicher Forschung und einer immer beeindruckender florierenden Gedenklandschaft, vor allem an den T4-Gedenkstätten, aber auch durch viele andere Veranstaltungen. Stolpersteine werden weiterhin verlegt. Auch gibt es immer wieder tolle Projekte, die aus zivilgesellschaftlichem Engagement auf lokaler Ebene entstehen.

Gleichzeitig sehen wir uns mit einem besorgniserregenden politischen Wandel konfrontiert. Die AfD, die seit 2017 im Bundestag sitzt, schürt unverhohlen Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen. Sie positioniert sich obsessiv resistent – das ist auch in jedem regionalen Parteiprogramm zu lesen – gegen schulische Inklusion. Und die anderen Parteien verhalten sich bei diesem Thema allzu oft ambivalent.

Obwohl eine Ende Januar 2025 vom Bundestag gebilligte parteiübergreifende Initiative substanzielle Finanzierung und infrastrukturelle Unterstützung für die Erhaltung der T4-Gedenkstätten forderte – insbesondere für deren Fähigkeit, Forschungsanfragen von Angehörigen der NS-»Euthanasie«-Opfer zu beantworten sowie die kulturelle Bildung der gesamten Öffentlichkeit zu fördern – bedeuten eben der allgemein wachsende politische Einfluss der Rechtsextremen sowie die Vielzahl gegenwärtiger globaler diplomatischer und wirtschaftlicher Herausforderungen, dass die Zukunft der Erinnerungspolitik im Zusammenhang mit Verbrechen gegen Menschen mit Behinderungen ungewiss bleibt. Deswegen gilt es immer wieder klarzumachen, dass das Thema Behinderung kein gesellschaftliches Randthema, nur relevant für »Betroffene«, sondern absolut zentral für das Selbstverständnis der Nation ist – und für einen mitmenschlichen Umgang allerorten. Da müssen wir alle dranbleiben.

Das Interview mit Dagmar Herzog wurde von Leonie Wüst geführt.

*.notes

[1] Gisela Bock, »Gutachten speziell zur Frage der Zwangssterilisation im Nationalsozialismus,« in Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht: Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 24. Juni 1987, Zur Sache 3/ 87 (Bonn 1987), S. 258–265, hier S. 260.

[2] Zitiert in Jan Kixmüller, »Zaghafter Diktator oder eingesparte Wurst: Götz Aly, Hans Mommsen und Henry Friedlander diskutierten über Euthanasie,« Potsdamer Neueste Nachrichten, 7. November 1997.

[3] Ernst Klee, »Der alltägliche Massenmord: Die ›Euthanasie‹-Aktion war der Probelauf für den Judenmord«, Die Zeit, 23. März 1990, S. 49f.

[4] Gerhard Schmidt, Selektion in der Heilanstalt (Stuttgart 1965), S. 30, 35.

[5] Klaus Dörner, Der Krieg gegen die psychisch Kranken: Nach Holocaust Erinnern, Trauern, Begegnen (Rehburg-Loccum 1980).

[6] Aktennotiz von Ministerialrat Hansgeorg Eckelmann 1962, zitiert bei Henning Tümmers, »Schon wieder ›vergessene Opfer‹?«, Ärzteblatt Baden-Württemberg 7 (2010), S. 286-289, hier S. 287.