Doch gewonnen haben wir noch lange nicht – Eine Wahlanalyse
« Je ne vous dis pas que nous allons créer un paradis, mais je vous garantis que du jour au lendemain nous ferons cesser l’enfer. »
Ich sage euch nicht, dass wir ein Paradies schaffen werden, aber ich garantiere euch, dass wir die Hölle beenden werden.
Jean-Luc Mélenchon, 02.06.2022
Die Erleichterung nach dem Wahlsieg des Linksbündnisses bei den französischen Parlamentswahlen fasst die linksliberale Tageszeitung Libération am Tag nach der Wahl mit einem großen OUF am Titelblatt1 zusammen. Allerdings: es war kein „Zum Glück hat die Linke gewonnen“, sondern eher ein „Zum Glück hat die extreme Rechte keine Mehrheit bekommen“.
Die Freude war dennoch riesig. So kam es zu spontanen Jubeldemonstrationen in Paris2 und anderen Großstädten. Es war lange her, dass man sich in Frankreich über einen ähnlichen Wahlerfolg freuen durfte. In den letzten Wochen wurde viel über den überraschenden Ausgang des zweiten Wahlgangs geschrieben. Jetzt stellt sich die Frage, wie aus einem Erfolg in einer Position der Schwäche auch wieder gesellschaftliche Stärke entstehen kann.
Schlachtfeld
Innerhalb von nicht einmal acht Jahren hat sich die französische politische Landschaft komplett verändert. Nachdem sich über Jahrzehnte die sozialdemokratische Parti Socialiste (PS)und die konservative Partei (mit verschiedenen Namen) die Macht aufgeteilt hatten, sorgte der Investmentbanker Emmanuel Macron – der ehemals bei den Sozialdemokraten Mitglied war und auch ein Ministeramt bekleidete – mit der Gründung seiner eigenen liberalen Wahlplattform 2017 für eine Ende dieses Systems. Er wurde 2017 und 2022 als Präsident gewählt, während die ehemaligen großen Parteien marginalisiert wurden. Stattdessen trat auf der Linken La France Insoumise (Dasunbeugsame Frankreich, LFI) von Jean-Luc Mélenchon auf den Plan, auf der Rechten der Front National (später Rassemblement National) von Marine Le Pen, der seit 2014 Ergebnisse über 20% erreichte.
Die EU-Wahlen 2024 hatten zwar durch große Verluste der Grünen zu einem Zugewinn der Sozialisten geführt, die sogar vor LFI landeten – aber die Konservativen erzielten nur knapp 7%. Doch maßgeblich für die aktuellen Entwicklungen war der Verlust von über 10% für Macrons Liste Ensemble. Am Abend des 09. Juni löste der französische Präsident Emmanuel Macron überraschend die französische Nationalversammlung auf und rief Neuwahlen des Parlaments aus, deren erster Wahlgang nur drei Wochen später folgen sollte. Seine Überlegung war vermutlich: angesichts einer nicht geeinten Linken würden die Wähler_innen seine Kandidat_innen unterstützen und so eine Mehrheit für sein Lager ermöglichen.
Um das zu verstehen, muss man das französische Wahlsystem kennen. Es sieht 577 Wahlkreise vor, in denen das Mehrheitswahlrecht entscheidet, welcher Kandidat in die Nationalversammlung einzieht. Gibt es im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit, entscheidet ein zweiter Wahlgang zwischen erst- und zweitgereihtem Kandidaten.
Im Idealfall für Macron stünde also jeweils ein starker Kandidat der extremen Rechten einer Kandidatin des liberalen Lagers gegenüber, hinter der sich im zweiten Wahlgang alle republikanisch denkenden Wähler_innen vereinen würden (die Rechtsextremen werden traditionell außerhalb eines republikanischen Konsenses gesehen; ähnlich der der deutschen Brandmauer). Wenn jedoch eine dritte Kandidatin zumindest 12,5% der Wahlberechtigten von sich überzeugt, zieht auch sie in die Stichwahl ein. Bei hoher Wahlbeteiligung kann es also zu sogenannten triangulaires oder auch zu Entscheidungen zwischen vier Kandidat_innen kommen.
Kombattanten
Nur einen Tag nach den EU-Wahlen verkündeten die linksgerichteten Fraktionen, dass sie wie schon 2022 gemeinsam antreten würden. Der etwas umständliche Name von damals – Nouvelle union populaire écologique et sociale, kurz NUPES – wurde von der Nouveau Front Populaire (NFP) abgelöst. In deutschen Medien wird das oft mit Neue Volksfront übersetzt. Beides nimmt Anleihe an der erfolgreichen Kandidatur der Volksfront bei den Wahlen im Jahr 1936. Damals wie heute war die Stimmung im Land aufgeheizt, damals stand der Faschismus vor der Tür.
Die NFP bestand wie schon NUPES aus einer breiten Spannweite an mehr oder weniger progressiven Parteien. Die manchmal ins spirituelle abdriftenden Grünen, die ehemals so stolzen Kommunisten (PCF), die ehemals noch stolzeren Sozialisten (PS) – die bis 2017 sogar den Präsidenten und eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung stellten – und die linkspopulistische Plattform La France Insoumise (LFI). Letztere waren sowohl 2017 als auch 2022 als stärkste linke Gruppe aus den Wahlen hervorgegangen. Dabei war diesmal auch die Nouveau Parti Anticapitaliste mit dem beliebten Gewerkschafter Philippe Poutou (er schaffte das Mandat in seinem Wahlkreis nicht).
Die Bekanntgabe eines Linksbündnisses nur einen Tag nach der Bekanntgabe von Neuwahlen war ein Coup. Denn eigentlich waren die Fraktionen seit 2022 notorisch zerstritten. NUPES hatte als Bündnis nicht überlebt, sondern die Fraktionen machten alle für sich Politik in der Nationalversammlung, wobei die Kommunisten die kleinste Gruppe, LFI die größte Gruppe stellte. Außerdem stand am 10. Juni noch gar kein Bündnis. Man sorgte mit der Ankündigung nur dafür, dass es keinen Weg mehr zurück gab. So folgte binnen kurzer Zeit ein Programm und die Nominierung der Kandidat_innen.
Das Programm der NFP sorgte für einiges an Diskussionen. Es sei ein „gefährliches, kohärentes Programm“ der Umverteilung von oben nach unten, eher ein „revolutionäres“ als ein „sozialdemokratisches“ Programm – meinte ein linksliberaler Ökonom3. Andere behaupteten gar, mit der Umsetzung des Programmes würde Frankreich das kapitalistische System verlassen4. Man darf behaupten, dass diese Einschätzungen wohl dem Zeitgeist geschuldet sind. Denn an sich klingen Vermögenssteuern, ein höherer Mindestlohn und eine Senkung des Pensionsalters eher klassisch sozialdemokratisch5. Dennoch warnten diverse TV-Sender in den Wochen vor der Wahl quasi pausenlos vor der Gefahr eines linken Wahlsieges und Großunternehmer gaben wenig überraschend bekannt, im Zweifel doch lieber den RN zu wählen.
Auf der rechten Seite stand der Rassemblement National (RN). Er war in den letzten zehn Jahren immer breitenwirksamer geworden. Der Erfolg bei den EU-Wahlen war auch auf die starken Ergebnisse bei höher Gebildeten und Wohlhabenderen zurückzuführenden, womit der RN in Teilen die Position der konservativen Republikaner einnahm. Er ist nun bei weitem nicht mehr nur die Partei für eine enttäuschte Mittelklasse oder ideologisch überzeugte Rechtswähler. Gute Ergebnisse erzielt der RN schon länger in vernachlässigten Gegenden und bei Menschen, die sowohl gegen die Eliten als auch gegen die Empfänger von sozialen Hilfen sind.
Die erwähnte „enttäuschte Mittelklasse“ hat früher verschiedenste Parteien gewählt. Sie wohnt vor allem in Gebieten der Deindustrialisierung (u.a. im Norden Frankreichs) und kommt aus dem kleinbürgerlichen Milieu. Dieses wird in den meisten französischen Umfragen als Teil der Arbeiter_innen ausgewiesen, was die Stärke des RN in diesem Segment erklärt. Frühere Wähler_innen der Kommunist_innen – die PCF erreichte in den 60er- und 70er-Jahren Wahlergebnisse über 20% – sind mehr zu den Nichtwähler_innen gewechselt als zum RN6.
Auch wenn die Wahlergebnisse des RN in urbanen Gegenden schwächer sind als am Land, ist der RN keine Landpartei per se. In vielen ländlichen Regionen spielt die kulturelle Prägung eine wesentliche Rolle, was starke Ergebnisse der Linken in manchen Regionen erklärt (Pyrenäen, Atlantikküste, Auvergne). Bei den EU-Wahlen 2024 war der RN erstmals in allen Regionen Frankreichs auf Platz 1, selbst in der Hauptstadtregion Île-de-France.
Der neuen Stärke des RN im Norden steht die historische Basis des RN im Südosten (Mittelmeerküste) gegenüber. Bei der Entstehung der rechtsextremen Parteien spielten neben Royalisten und Neofaschisten auch Rückkehrer_innen aus den Kolonien eine Rolle, die sich vor allem im Süden des Landes ansiedelten. Der Süden ist außerdem seit langer Zeit touristisch geprägt und damit eine Region, aus der Einheimische durch reiche Zweitwohnsitzbesitzer aus den Städten verdrängt worden sind.
Programmatisch macht der RN keine konsequente soziale Politik, sondern nur partielle Zugeständnisse. Er verfolgt eine vage Haltung zu der von Macron durchgesetzten Anhebung des Pensionsalters und blockierte in der Nationalversammlung staatliches Durchgreifen gegen die Teuerung. Olivier Blanchard, der oben genannte linksliberale Ökonom bezeichnete das RN-Programm zu dieser Wahl als Weihnachtsbaum, behangen mit einzelnen, nicht zusammenhängenden Maßnahmen.
Eine Blockbildung gab es auch auf der Rechten. Teile der Republikaner und Teile des rechtsextremen Reconquête (zu deutsch Rückeroberung) schlossen sich RN an oder gingen ein Bündnis ein.
Kampf
Der erste Wahlgang am 30. Juni brachte den erwarteten Erfolg des RN. In fast 300 Wahlkreisen kamen RN-Kandidat_innen auf den ersten Platz, er und Verbündete erzielten 33,35%. Die NFP kam auf 28,28%, Macrons Liberale auf knapp 22%. Weit abgeschlagen verblieben die konservativen Republikaner und kleinere Gruppierungen.
Bereits als die ersten Wahlergebnisse veröffentlicht wurden, teilt Jean-Luc Mélenchon von La France Insoumise der versammelten Öffentlichkeit mit, dass in jenen Wahlkreisen, wo seine Kandidat_innen als Drittplatzierte in die Stichwahl gekommen waren, diese zurückziehen würden, um einen Sieg des RN zu verhindern. Er forderte Macrons Lager auf, dasselbe zu tun. Diesem Ruf wurde – wenn auch verhalten und nicht überall – gefolgt. Am Ende zogen sich 132 Linke und 83 Liberale zurück, um einen Sieg des jeweils anderen zu ermöglich. Dennoch fanden am 7. Juli mehr als 100 Dreikämpfe statt.
Mehrere Faktoren waren dann dabei entscheidend, dass der RN wider Erwarten im zweiten Wahlgang nicht die meisten Mandate erzielen konnte. Erstens war die Wahlbeteiligung vergleichsweise sehr hoch. Sie lag etwa 20 Prozentpunkte über der Beteiligung von 2022 und war gleich hoch wie im ersten Wahlgang (~67%). Auch wenn diesmal die Mobilisierung sowohl auf der Linken als auch auf der Rechten stark war, schwache Wahlbeteiligung hilft tendenziell der liberalen Mitte und den Rechtsextremen: „economic destitution goes hand in hand with political disenfranchisement. Workers vote less than the middle class and the result is that the political class is not responsive to their interests.“7
Vor allem Mélenchons Populismus ist sehr gut darin, dieser Demobilisierung linker Wähler_innengruppen entgegenzuwirken. Das war schon bei vergangenen Wahlen sichtbar, bei denen Mélenchon bzw. LFI in den sogenannten quartiers populaires Ergebnisse von oft weit über 50% erzielen konnte. Diese Ergebnisse blieben aus, wenn die Mobilisierungstaktik nicht aufging, wie zum Beispiel bei den EU-Wahlen 2019. Der Ansatz von Mélenchon und seinen Genoss_innen steht im Gegensatz zur immer technokratischer gewordenen Linken in anderen europäischen Ländern, wo man ausgedünnten Organisationsstrukturen lange nichts mehr entgegenhalten konnte. Außerdem gelang es La France Insoumise bis jetzt, dem Zerfallsschicksal von grundsätzlich ähnlichen Bewegungsparteien in Spanien oder Griechenland zu entgehen – vielleicht, weil es sich bei La France Insoumise vorrangig um eine Wahlbewegung handelt.
Zweitens sind die Wähler_innen dem Ruf nach einer Verhinderungstaktik gegenüber dem RN auch zahlreich gefolgt. Vor allem linke Wähler_innen, aber auch manche Rechte und Liberale wählten das kleinere Übel. Etwa 50% der liberalen Wähler_innen aus Wahlgang 1 wählten links, aber knapp 20% rechtsextrem. Das Ergebnis war eine knappe Mehrheit für die NFP (182 Sitze), vor den Liberalen (168 Sitze) und den Rechtsextremen (143 Sitze). Eine Darstellung der Prozentzahlen, wie sie in deutschsprachigen Medien manchmal gemacht wurde, hat bei diesem zweiten Wahlgang keinen Sinn, da der RN beispielsweise in deutlich mehr Wahlkreisen zur Wahl stand alsdie NFP (451 vs. 288).
Sieg
Die Mandatsmehrheit für NFP sorgte europaweit für Überraschung und für Freude bei den Schwesterparteien jeglicher Couleur. Alle Seiten reklamierten den Wahlsieg für sich. Was hat der NFP zum Sieg verholfen? Sicherlich die starken Ergebnisse bei den jungen Menschen (U24 48%, 24-34 38% – junge Menschen wählten zu insgesamt mehr als 80% NFP oder RN) sowie bei den Menschen mit niedrigem Einkommen. Bei letzterer Gruppe war der RN aber dennoch knapp stärker.8
Zufriedene und ältere Wähler_innen wählten mehrheitlich das liberale Lager des Präsidenten, besonders Unzufriedene wählten zu über 50% den RN und zu einem Drittel NFP. Innerhalb der NFP erzielten die Kommunisten 8 Mandate, LFI 69 Mandate, die Grünen 26 Mandate und die Sozialdemokraten 65 Mandate. 27 Mandate wurden als divers gauche klassifiziert, ordneten sich also keiner linke Partei zu. Die PS war demnach die einzige Partei innerhalb der NFP, die einen wirklichen Mandatszuwachs erzielen konnte.
Niederlage
Es war alles sehr knapp. In mehr als 100 Wahlkreisen lag der RN nur rund 1.000 Stimmen hinter den jeweiligen Kandidat_innen der Liberalen und der NFP. Hätten sich also nur ein Prozent der Wahlberechtigten in diesen Wahlkreisen umentschieden, sähe die kommende Nationalversammlung ganz anders aus.
Es gibt nun außerdem kaum mögliche Mehrheiten in der Nationalversammlung. Neuwahlen des Parlaments sind frühestens wieder in einem Jahr möglich. Es liegt nahe, dass ein Jahr Stillstand eher den Rechtsextremen hilft als dem Lager der Präsidenten oder der NFP, die ja eine Mehrheit der Mandate hätte.
Diese Situation gab es in Frankreich noch nie. Die Institutionen des Staates sind dafür gemacht, dass eine Partei das Land regieren kann, zur Not in Form einer sogenannten cohabitation mit dem Präsidenten einer anderen Partei. Macron kann versuchen zu sagen, dass niemand die Wahl gewonnen hat, und sich selbst als stabilen Anker ins Spiel bringen. Sein ursprünglicher Plan jedoch ging nicht auf – vor allem durch das schnell geschaffene Bündnis der Linken. Mankann auch behaupten, er sei es gewesen, der das jetzige Chaos erst verursachte. Nun ist auch ein Rücktritt Macrons zu einem unbestimmten Zeitpunkt nicht auszuschließen.9
Wie geht es weiter mit der Linken und ihrer NFP? Die vier tragenden Parteien haben bereits eigene Fraktionen in der Nationalversammlung gebildet. Nicht auszuschließen ist, dass sich die Grünen und Sozialdemokraten aus einer Staatsräson heraus darauf einlassen, zusammen mit Liberalen und Konservativen zumindest eine Art Koalition zu formen. Große soziale Sprünge sind dabei nicht zu erwarten, was wiederum eine Neuauflage der NFP in der Zukunft unrealistisch macht – schließlich müssten dann die Linkspopulisten von LFI und die Kommunisten begründen, warum sie mit Gruppen koalieren, die eventuell unliebsame Maßnahmen mitgetragen haben. Der Zusammenhalt der Linken ist also weiterhin äußerst fragil.
Die Perspektive über diesen Wahlen hinaus ist es, weshalb ich hier von einer Niederlage schreibe. Ehemalige Hochburgen der Linken gingen auch bei dieser Wahl verloren. Der Bundesvorsitzende der PCF Fabien Roussel verlor bereits im ersten Wahlgang gegen einen Kandidaten des RN – in einem sicher geglaubten Wahlkreis im Norden, in dem die Kommunisten seit über 60 Jahren den Mandatar stellten. Der RN konnte hier im Vergleich zu 2022 über 10.000 Stimmen dazugewinnen – ein Beispiel dafür, dass eine höhere Wahlbeteiligung diesmal auch den Rechtsextremen geholfen hat. Ein anderes Beispiel ist ein Wahlkreis in den Vororten von Marseille. Die Kommunisten hielten seit mehreren Jahrzehnten das dortige Mandat. Doch auch hier gewann der RN im ersten Wahlgang mehr als 15.000 Stimmen im Vergleich zu 2022, im zweiten Wahlgang verlor der kommunistische Kandidat knapp. Nur zwei Sitze konnten die Linken 2024 vom RN zurückgewinnen.
Das französische präsidentielle System mit seiner Zuspitzung auf Einzelpersonen hat Parteien immer eher in den Hintergrund gedrängt. Wichtiger als auf Bundesebene waren sie auf lokaler Ebene. Hier lag die Stärke der kommunistischen Partei. Im Jahr 1977 gehörten ihr über 1.500 Bürgermeister_innen an. Noch heute sind es 269 (Stand 2020). Ihre Mitgliederzahl schrumpfte von über einer halben Million Anfang der 80er-Jahre auf etwas über 42.000 im Jahr 2023. Auch wenn die französischen Gewerkschaften hier nicht detaillierter behandelt werden können: die der PCF nahestehende CGT hat immerhin noch knapp 640.000 Mitglieder – eine ebenfalls schrumpfende Zahl.
Diese Schwäche spiegelt sich nur bedingt in den frankreichweiten Wahlergebnissen der Linken beziehungsweise der radikalen Linken wider. Sowohl 2017 als auch 2022 war Jean-Luc Mélenchon nur knapp nicht in die Stichwahl mit Emmanuel Macron gekommen und erreichte Ergebnisse um die 20% – 2022 verhinderte einen Einzug in die Stichwahl wohl nur die separate Kandidatur der Kommunisten, deren Vorsitzender Fabien Roussel gerade einmal 3% der Stimmen erreichte.
Doch meiner Meinung nach kann LFI die wachsende lokale Schwäche der Kommunisten nur bedingt wettmachen. Die Linkspopulisten unterstützten bei den Lokalwahlen 2020 nur unabhängige, progressive Listen – in eigenen Worten von damals: selbstorganisierte Bürgerlisten. Der Koordinator von LFI stellte fest: „Notre forme de mouvement n’est pas adaptée pour aller aux municipales“10 – Unsere Form der Bewegung ist nicht dafür gemacht, bei den Lokalwahlen anzutreten. Das ist des Pudels Kern: es gibt in Frankreich keine Linke, die lokale Stärke aufbauen kann und will (nach einer strategischen Reorientierung will die PCF zwar, aber kann noch nicht). Ähnliches bei der Sozialdemokratie: Neben der kompletten Niederlage bei den frankreichweiten Wahlen 2017 und 2022 stellt sie noch ungefähr 2.600 Gemeinderät_innen, während es in den 2000ern noch über 10.000 waren. Stattdessen ist die gesellschaftliche Linke gazeux, also gasförmig. Etwas, was LFI bei seiner Gründung explizit angestrebt hat.
In meiner Masterarbeit11 habe ich 2020 dargelegt, dass La France Insoumise vermutlich keine Kraft ist, die eine tiefgreifende soziale und ökonomisch Veränderung Frankreichs erzielen kann. Das liegt gerade auch an den Strukturen von LFI. Hinter dem bewegungsähnlichen, losen Mitmachgerüst steht eine disziplinierte, linientreue direction um Jean-Luc Mélenchon, die zwar bedeutende nationale Entscheidungen treffen kann – wie die Nichtbeachtung von kritischen Stimmen bei den Kandidat_innenlisten zeigt12 – jedoch als kleine Gruppe nicht fähig ist, den lokalen Parteiaufbau und damit dauerhaft Menschen für ein Projekt zu organisieren. Daher beschränkt sich die Arbeit von LFI auf die lokale Zusammenarbeit mit zersplitterten Gruppen, nationale Medienarbeit inklusive Mobilisierungen zu Themen wie der Anhebung des Pensionsalters, sowie eine frankreichweite Wahlplattform rund um Mélenchon. Aber was folgt auf, wenn er als Leitfigur abtritt?
Hoffnung machen die vereinzelten Erfolge in manchen Wahlkreisen, in denen man den nicht eingelösten sozialen Versprechungen eine lokal ansprechbare und sichtbare Linke gegenüberstellen kann. Solange das aber losgelöst von einer gemeinsamen Strategie zum Aufbau einer starken Linken bleibt, wird der Kampf gegen die extreme Rechte in Frankreich ein Abwehrkampf bleiben.