Es ist ein kalter Dezembersonntag. Das Grau, Silber, Schwarz und Weiß der Frankfurter Skyline hebt sich nur unmerklich von der undefinierbaren Farbe des Himmels ab, als ich mit der S-Bahn in die Haltestelle Galluswarte einfahre. Durch die Scheiben der wartenden Bahn sieht man bereits das besetzte Haus, unter dessen Fenstern einige Transparente prangen. Das aus dem Dachgeschoss hängende Exemplar mit „SOLIDARISCH GEGEN DEN MIETENWAHNSINN“ springt einem gleich ins Auge.

Ich steige aus und als die Bahn weggefahren ist, sehe ich zwei Aktivistinnen in einem der oberen Stockwerke, die gerade ein neues Banner an einem der Fenster befestigen. Ein Mann vom gegenüberliegenden Gleis kommt herübergeschlendert und macht mit seinem Smartphone ein Foto des Hauses. Ich gehe nach unten und biege in die Günderrodestraße ein. Vor dem Haus stehen einige Grüppchen jüngerer Leute in der Kälte und unterhalten sich. Aus einer Thermoskanne wird „Kaffee gegen hohe Mieten“ ausgeschenkt. Weiter hinten am Gartenzaun hängt ein Transparent mit der Aufschrift: „DIESES HAUS IST BESETZT! Hier soll ein städtisch geförderter überteuerter Neubaublock entstehen. Ehemalige Bewohner*innen wurden unzumutbar behandelt und wurden schließlich an den Stadtrand gedrängt. Trotzdem wird es als soziales Projekt verkauft. WIR FORDERN WOHNRAUM FÜR ALLE STATT PALÄSTE FÜR REICHE!“

 

Die Initiative fordert, dass Menschen ohne Wohnraum das Haus im Gallus nutzen können

Ich bekomme einen Flyer in die Hand gedrückt. Die Gruppe, die das Haus nahe der Galluswarte besetzt hat, fordert, dass es bis zu dessen Abriss von wohnungslosen Menschen genutzt werden darf. In den über den Winter beheizbaren und bezugsfertigen Wohnungen wolle man auch einen Raum zum Austausch über ungerechte Verhältnisse und dem Diskutieren von Lösungsmöglichkeiten bieten. „Wir reagieren mit unserer Aktion auf die unsoziale und profitorientierte Stadtentwicklung Frankfurts und machen auf Leerstand sowie die Verdrängungspolitik im Gallus aufmerksam“, teilte das Bündnis am Samstag mit.

Das Haus gehört der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ist an die mehrheitlich städtische Gesellschaft KEG vermietet. Der wiederum an den evangelischen Verein für Wohnraumhilfe ausgegebene Untermietvertrag läuft Ende des Jahres aus – Bewohner_innen mussten das Haus bereits verlassen. Auf dem Grundstück soll ein Teil des Neubaukomplexes „Quartier Hellerhöfe“ errichtet werden. Dabei sollen jeweils 15 Prozent Sozialwohnungen und Wohnungen für mittlere Einkommen entstehen . Bewohner_innen der jetzigen Sozialbauten haben, laut der Inititaive, teils über zehn Jahre dort gewohnt und nun hätten einige erst zwei Wochen vor Auszugsfrist Wohnungen zugeteilt bekommen, die weit weg vom Gallus liegen.

 

Ausstellungen zu Gentrifizierung im Gallus und dem „Quartier Hellerhöfe“ in beheizten Altbau-Räumen

Im Haus werden Ausstellungen zu Mietkämpfen in Frankfurt, der Gentrifizierung im Gallus und dem geplanten Quartier Hellerhöfe gezeigt, wie ich über die social media erfahren habe. Eine Aktivistin erzählt mir, dass gestern auch viele Besucher_innen aus der Nachbarschaft vorbeigeschaut haben. Einige hätten Salz und Brot oder Wein und Pasta mitgebracht. Beim Kampf gegen die Verdrängung erfahre man viel Unterstützung, weil viele hier selbst von Mieterhöhungen betroffen sind, und verdrängt zu werden drohen, berichtet sie. Flyer hätte man gestern aber nicht so gut verteilen können, da die Polizei einige Stunden den Zugang zum Haus gesperrt hatte. Allerdings hätten die Beamten keinen Kontakt zum Vermieter herstellen können und seien schließlich wieder abgezogen. Man habe dann bei guter Stimmung einen Barabend veranstaltet, bemerkt sie. Die Bockenheimer Ada-Kantine steuerte warmes Essen bei. Für Montagabend wird zu einer Filmvorführung um 20 Uhr eingeladen. Gezeigt wird der Film „Viva Portugal“, der sich mit dem Sturz des faschistischen Estado Novo und den Wirren nach der Nelkenrevolution beschäftigt.

Ich öffne die Haustür und betrete das Gebäude. Die Ausstellungen beginnen hier im Treppenhaus, wo bereits einige Leute die Poster an der Wand studieren. Es geht dabei um die Geschichte der Frankfurter Miet- und Häuserkämpfe. Die erste Hausbesetzung der Studentenbewegung in Deutschland fand in Frankfurt in der Eppsteiner Straße 47 statt. Im September 1970 rettet ein Verbund aus Studierenden und Migrantinnen und Migranten eine Stadtvilla im Westend vor dem Abriss. Neben dieser und weiterer bekannter Besetzungen in Frankfurt-Westend und -Bockenheim, geht es auch um die Verbindungen der Studentenbewegung zum Gallus. Dabei hatten Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Umfeld des SDS im Jahr 1970 die Stadtteilgruppe „Roter Gallus“ gegründet und sich mit einer Stadtteilzeitung in die Wohnungspolitik eingemischt, womit auf die geschichtliche Kontinuität der Besetzung verwiesen wird. Ich laufe nach oben. Das Treppenhaus ist noch gut in Schuss. Das Orange der Wände ist noch sehr satt. Insgesamt wirkt das Haus so, als wäre es noch einwandfrei bewohnbar. Die Räume sind überwiegend beheizt, aus dem Wasserhahn des WCs im ersten Stock kommt warmes Wasser und im dritten Stock gibt es ein Badezimmer zum Duschen für die Besetzer_innen. Die Ausstellung zum „Quartier Hellerhöfe“ und zur aktuellen Verdrängung von Mieter_innen im Gallus befindet sich im ersten Stock. Die Böden sind gewischt, und es kommt viel Licht durch die großen Fenster herein. Eigentlich sehr schöner Wohnraum, der weiterhin genutzt werden könnte.

In der Ausstellung zum Bauprojekt der Hellerhöfe werden die vielfältigen Aufwertungsprozesse der Räume im Gallus erklärt. Die Renovierungen von Bestandswohnungen und die Errichtung von Neubauten sorge direkt für höheren Mieten oder für Ausstrahlungseffekte auf den Mietspiegel. Das führe wierum dazu, dass die langjährige Bewohnerschaft zunehmend aus dem Viertel und an den Stadtrand gedrängt werde. Das Projekt „Quartier Hellerhöfe“, für das zwei große Neubaublöcke zwischen Frankenallee und Mainzer Landstraße entstehen sollen, wird als „Motor der Gentrifizierung“ beschrieben und in eine Reihe mit weiteren Aufwertungsprojekten im Viertel, wie dem Europaviertel, gestellt. Für das neue Areal sollen zahlreiche Wohnhäuser und die Büroräume der FAZ und der Frankfurter Societät (u.a. Frankfurter Rundschau und Frankfurter Neue Presse) abgerissen werden. In der Ausstellung wird dabei insbesondere kritisiert, dass das Projekt Hellerhöfe als „sozial förderlich für das Gallusviertel“ bezeichnet wird und „Vielfalt fördern“ soll, während für die geplanten 650 neuen Wohnungen, ein Block mit überwiegend als Sozialwohnungen genutzten Räumen – wie eben das besetzte Haus – weichen müssen. In geschlossener Blockrandbebauung, die sich ähnlich wie im Europaviertel am drögen international style der Architektur orientiert, sollen neben Wohnungen, Büroflächen, Cafés, Restaurants, eine Kita und eine Grundschule entstehen. Auch ohne den Vergleich zu „Gated Communities“, den die Macher_innen der Ausstellung ziehen, kann man sich fragen, ob damit ein vom übrigen Viertel stark abgegrenzter Bereich entsteht, in der Bewohner_innen des 'alten Gallus' wenig erwünscht sind. Mit dem Begriff der „inselhaften Segregation der Mittel- und Oberschicht“ auf einer anderen Tafel der Ausstellung scheinen mir die Effekte besser beschrieben zu sein.

Anhand eines besonders drastischen Falles wird die Härte des Verdrängungsregimes beschrieben, das zugunsten des Neubauareals in Gang gesetzt worden sei. Eine Familie mit vier Kindern, die elf Jahre im Haus lebte, bekam erst eine Woche vor dem Auszugstermin vom Sozialamt anderen Wohnraum zugewiesen. Der Vater hätte mit seinem Sohn in eine Einzimmerwohnung in der Nordweststadt ziehen sollen, während der Mutter und den drei anderen Kindern eine andere Wohnung zugeteilt wurde. Als sich der Vater hierüber beim Sozialamt beschwerte, sei damit gedroht worden, ihm mit Hilfe des Jugendamtes seine Kinder wegzunehmen. Auch werden gesetzliche Hintergründe der Wohnungskrise erklärt, wie die Abschaffung des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes im Jahr 1990 durch die damalige konservativ-liberale Bundesregierung. Hierdurch wurden Steuerprivilegien für gemeinnützige Wohnungsbauunternehmen und somit ein Anreiz für Mietpreisbindungen beseitigt.

Erfolgt bald die Räumung durch die Polizei?

Ein Besucher der Ausstellung erzählt mir, dass er 2013 bei der Besetzung des leerstehendende ehemalige Sozialrathauses im Gallus dabei gewesen ist. Damals sei die Polizei brutal mit Schlagstöcken gegen die Besetzer_innen vorgegangen. Er schätzt, dass die Räumung in der Günderrodestraße am Dienstagmorgen erfolgen wird. Jetzt am Wochenende sei der Polizei das Mobilisierungspotential der Besetzer_innen zu hoch. Wenig später stehen wir unten vor dem Haus und trinken Kaffee. Der Stadtverordnete Eyup Yilmaz von der Partei „Die Linke“  - ich erkenne ihn vom einem social media post der Hausbesetzer_innen – tritt zu uns und lobt die Aktion der Besetzer_innen und kritisiert zwei Politikerinnen der Frankfurter Grünen. Sie hätten dem Haus vorhin zwar einen Besuch abgestattet, seien aber in ihren Positionen und Posten für diese Zustände verantwortlich. Die beiden hätten den von ihnen durchgesetzten 30-prozentigen Anteil geförderten Wohnraums hervorgehoben. Aber dieser Teil werde sowieso nach einigen Jahren wieder komplett aus der Förderung fallen und zu teurem Wohnraum werden, sagt Yilmaz. Er sei selbst vor einiger Zeit aus dem Gallus „rausgentrifiziert“ worden, erzählt er. Heute wohne er in der Innenstadt und zahle dort weniger Miete.

Ich gehe nochmal hoch in die Ausstellung zum Gallus. Auf einer Ausstellungstafel werden Ergebnisse der Wissenschaftler_innen Sebastian Schipper und Tabea Latocha aus ihrer kritischen humangeographischen Forschung gezeigt. Sie belegen, dass ein Großteil des Wohnraums im Gallus in den 1970ern noch im Besitz gemeinnütziger Träger war. Bewohner_innen seien somit gut gegen Aufwertungsprozesse geschützt gewesen. Von ihnen gesammelte Daten aus dem Jahr 2016 zeigten hingegen, dass nun eine Mehrheit der Wohnbebauung im Besitz profitorientierter institutioneller und privater Investoren ist. Die städtische Wohnbaugesellschaft ABG kontrolliere heute knapp 30% des Wohnangebots im Gallus. Sie agiere seit Langem unternehmerisch-gewinnmaximierend, wie auf einer Tafel der Ausstellung zu lesen ist. Und das, obwohl sie eigentlich den Auftrag habe, für eine „sozial verantwortbare Wohnungsversorgung für die breiten Schichten der Bevölkerung“ zu sorgen, wie es auf ihrer Webseite heißt. Ähnliches gelte, laut der Ausstellung, für die Nassauische Heimstätte oder die GWH Wohnungsbaugesellschaft, die nicht mehr von privaten profitorientierten Unternehmen zu unterscheiden seien. Die hohen Miet- und Eigentumspreise von großen Neubaugebieten mit gehobenen Wohnraum wie das „Quartier Hellerhöfe“ oder das Europaviertel strahlen auf das ganze Viertel aus. Großkonzerne wie Vonovia hätten bereits Modernisierungspläne für Bestandswohnungen, um die Mieten auch in der Nachbarschaft erhöhen zu können.

 

“Did you know that communism came from Germany to China?”

Als ich wieder auf dem Bürgersteig bin und mich auf den Weg zur S-Bahn mache, biegt ein Polizeiwagen in die Straße ein. Ein einzelner Polizist steigt aus und geht schnellen Schrittes in Richtung des Hauses. Es sieht nicht nach einem Räumungsversuch aus. Zurück am Bahnsteig, bemerke ich neben mir eine Frau in dicker Winterjacke, die zum besetzten Haus hinüberblickt und dann aufgeregt ihr Handy zückt. Auf Englisch sagt sie zu ihrem Begleiter: „I have to send a picture of this to my Chinese friends. It’s such a German culture.” Ihr Begleiter zeigt sich wenig begeistert. “When I look at this building, I think it’s ugly. I’m glad that they build a new one”, bemerkt er mit starkem deutschen Akzent. “You could go in there with your Armani coat”, fügt er lachend hinzu. Sie verdreht die Augen und antwortet, „Oh, come on. It was a cheap offer”. Die S-Bahn fährt ein und ein Waggon versperrt uns die Sicht auf das besetzte Haus. Ich steige ein und die beiden setzen sich auf zwei freie Plätze mir gegenüber. Als sich die S-Bahn in Bewegung zu setzen beginnt, schaut sie noch einmal aus dem Fenster auf das Haus und wendet sich an ihren Begleiter: “Did you know that communism came from Germany to China?”.