Ein Interview mit Michael Baumgarten zu Arbeitsbedingungen rumänischer Saisonarbeiter_innen in der Landwirtschaft – vor und während Corona

Michael Baumgarten arbeitet für das Peco-Institut, das sich auch mit Rechten von Saisonarbeiter_innen beschäftigt. Als Teil der Initiative Faire Landarbeit gibt das Peco-Institut jährlich einen zusammenfassenden Bericht über die Arbeitsbedingungen in den landwirtschaftlichen Betrieben heraus. Grundlage des Berichtes sind sogenannte »Feldaktionen«, wo Mitarbeiter_innen die landwirtschaftlichen Betriebe besuchen, um die Saisonarbeiter_innen aus verschiedenen Ländern in ihrer Muttersprache über ihre Rechte und Beratungsangebote zu informieren. Aktuell ist der Bericht 2019 erschienen: https://www.peco-ev.de/docs/2019_Bericht_Saisonarbeit_Landwirtschaft_END.pdf

diskus: Die Frage, ob rumänische Saisonarbeiter_innen zum Spargelstechen nach Deutschland kommen können, hat in Zeiten der Corona-Pandemie die deutsche Öffentlichkeit bewegt. Normalerweise kommen die Saisonarbeitskräfte für die Landwirtschaft von der Mehrheitsbevölkerung weitgehend unbemerkt aus dem Ausland saisonal nach Deutschland. Welche Personen trefft Ihr normalerweise in den Landwirtschaftsbetrieben an?

Vor allem in den Bereichen der Sonderkulturen der Landwirtschaft – also Spargel, Erdbeeren aber auch Obst und Gemüse – wird auf Erntehelfer_innen zurückgegriffen. Seit ich dabei bin, treffen wir vor allem rumänische und polnische Staatsbürger_innen in den landwirtschaftlichen Betrieben. Desweiteren treffen wir auch Personen aus Kroatien, insbesondere in Hessen; Bulgaren treffen wir an – nummerisch dann nicht so viele, weil das Land im Vergleich dann doch sehr klein ist. In den letzten Jahren ist es auch manchmal vorgekommen, dass wir ukrainische Studierende getroffen haben. Diese Vielfalt fordert so eine Initiative wie die Initiative Faire Landarbeit auch heraus. Man muss sich immer neu überlegen: Welche Sprachkenntnisse brauche ich jetzt eigentlich.

diskus: Wie sieht denn regulär der Arbeitsalltag einer Saisonarbeitskraft in einem landwirtschaftlichen Betrieb aus?

Normalerweise werden die Arbeiter_innen auf dem Hof beziehungsweise im Betrieb untergebracht oder es werden extra Unterkünfte aufgebaut, zum Beispiel Container. In Brandenburg wird teilweise auch auf ehemalige Kasernen der Nationalen Volksarmee (NVA-Kasernen) zurückgegriffen. Der Arbeitsalltag ist bei allen Betrieben sehr ähnlich: Die Leute stehen ziemlich früh auf, dann gibt es meistens eine Besprechung mit den Vorarbeiter_innen. Dann arbeiten die einzelnen Arbeiter_innen in Teams zusammen und werden dorthin gebracht, wo gerade der Spargel oder die Erdbeeren erntereif sind. Den Tag über wird geerntet. In der Tendenz sieht es so aus, dass vier Stunden vormittags geerntet wird, dann gibt es eine längere Mittagspause von bis zu zwei Stunden mit gemeinsamen Mittagessen, die Essensversorgung wird vom Betrieb organisiert, am Nachmittag gibt es eine weitere Arbeitsphase und dann Feierabend. Man muss dazu sagen, dass die Betriebe immer ein großes Interesse haben, die Arbeitszeit in der Erntezeit soweit wie möglich auszuweiten. Wir treffen häufig Leute, die uns berichten, dass sie mehr als zehn Stunden am Tag arbeiten. Das kollidiert zwar teilweise mit dem Arbeitszeitgesetz, aber da gibt es für die Betriebe auch spezielle, durchaus legale, Möglichkeiten, die Arbeitszeit auf bis zu zehn Stunden auszuweiten. Wegen der Herausforderungen durch Corona gibt es aktuell sogar die Möglichkeit, dass Betriebe ihre Arbeiter_innen bis zu zwölf Stunden am Tag bei maximal 60 Wochenarbeitsstunden arbeiten lassen.

Die Tätigkeit selbst ist insbesondere beim Spargel relativ anstrengend. Auch in den Medien wurde ja zur diesjährigen Spargelsaison unter dem Zeichen von Corona darüber berichtet, dass viele Betriebe Zweifel daran hatten, ob für diese Tätigkeiten kurzfristig Arbeitskräfte aus Deutschland gewonnen werden können, da die Tätigkeit komplex und körperlich sehr anstrengend ist. Dabei darf man nicht vergessen, dass es natürlich nicht so ist, dass Rumän_innen für die Tätigkeit des Spargelstechens körperlich besonders geeignet sind – es ist vielmehr so, dass die Arbeitskräfte aus Rumänien einen viel höheren wirtschaftlichen Druck haben, denn der durchschnittliche deutsche Student, zumindest bis jetzt, noch nicht so verspürt.

diskus: Auf welcher rechtlichen Grundlage kommen die Saisonarbeitskräfte nach Deutschland?

In Deutschland gelten die Beschäftigungsverhältnisse der Saisonarbeiter_innen als kurzfristige Beschäftigung – das ist eine Form des Minijobs. Mit dem Minijob ist es vor allem vergleichbar, weil es normalerweise sozialversicherungsfrei ist. Damit diese Konstruktion überhaupt möglich ist, müssen bestimmte Anspruchsvoraussetzungen bestehen, und die mussten erst geschaffen werden. Da gab es vom Arbeitsministerium (BMAS) immer unterschiedliche Regelungen mit den jeweiligen Staaten, aus denen die Saisonarbeiter_innen kommen. Das bestimmt dann teilweise auch den Hintergrund der Leute. So dürfen aus Rumänien eigentlich nur Leute als Saisonarbeiter_innen nach Deutschland kommen, die dort als Hausmann oder Hausfrau gemeldet sind. Jemand, der in Rumänien Sozialhilfe empfängt oder in einem regulären Arbeitsverhältnis ist, dürfte nach der geltenden Regelung also in Deutschland keine kurzfristige Beschäftigung annehmen und damit auch nicht als Saisonarbeitskraft in der Landwirtschaft arbeiten. Dieser Hausfrau/Hausmann-Status ist dabei eher willkürlich, der wird in Rumänien einfach in ein Dokument gestempelt. Am Anfang der Kooperation war es wohl so, dass auch höher qualifizierte Menschen aus Rumänien nach Deutschland in die Landwirtschaft kamen – einfach weil der Stundenlohn in Deutschland so viel höher war. Jetzt ist allerdings das wirtschaftliche Niveau in Rumänien soweit angestiegen, dass wirklich vor allem die ländliche Bevölkerung und niedrig qualifizierte Menschen als saisonale Arbeitskraft nach Deutschland kommen.

diskus: Was kann ein_e Landarbeiter_in aus Rumänien in einem deutschen Betrieb denn pro Monat als Lohn erwarten?

Also ich weiß, dass pro Stunde die Leute immer so mit fünf bis sieben Euro rechnen. Theoretisch müsste man natürlich sagen, dass die Arbeiter_innen als Verdienst den aktuellen Mindestlohnsatz von 9,39 Euro mal die Arbeitszeit, die sie gearbeitet haben, erwarten dürften. Da kämen sie, bei einem 8-Stunden Tag, für den Monat mit insgesamt circa 1700 Euro raus. Aber mit den Abzügen für Unterkunft und Verpflegung, die ja in einem gewissen Umfang auch erlaubt sind, kommen die meisten – wenn wirklich alle rechtlichen Vorgaben eingehalten werden – auf einen Stundenlohn von um die 7,50 Euro. Aber wir haben auch schon Arbeiter_innen erlebt, die bei vier Euro pro Stunde rausgekommen sind. Es gibt auch Betriebe, die sehr gut zahlen. Dort können erfahrene und bewährte Arbeitskräfte dann auch sehr gutes Geld verdienen. Ich habe auch schon Lohnabrechnungen gesehen, da haben einzelne Arbeiter_innen 2200 Euro netto verdient. Aber das ist natürlich eine absolute Ausnahme.

diskus: In der EU besteht nach der Freizügigkeitsvereinbarung grundsätzlich ja ein Schlechterbehandlungsverbot, sodass die Saisonarbeitskräfte auch unbedingt Mindestlohn erhalten müssten. Wie wirkt sich das aus?

Als der Mindestlohn eingeführt wurde, gab es anfangs eine Ausnahmeregelung für die Landwirtschaft. Das wurde damit begründet, dass die Landwirtschaft eine längere Übergangszeit benötige, um sich anzupassen. Mittlerweise ist auch in der Landwirtschaft der gesetzliche Mindestlohn zu zahlen. Das gilt natürlich auch für Saisonbeschäftigte aus anderen Ländern. Wir haben zwei Tricks der Landwirte beobachtet, die versuchen, den Mindestlohn zu umgehen. Das eine sind zu hohe Abzüge vom Lohn für Unterkunft und Verpflegung. Und zum anderen der Trick, dass man für die Lohnberechnung den Akkord in Arbeitszeit umrechnet. So gehen dann Arbeitsstunden verloren, die nicht bezahlt werden. Obwohl der Gesetzgeber das eigentlich ganz klar verbietet: Man darf Akkord bezahlen – und man darf dabei natürlich auch mehr als den Mindestlohn zahlen –, aber man darf den Mindestlohn nicht unterschreiten. Mir sind aber schon mehrmals Papiere vorgelegt worden, wo die Arbeitgeber so getrickst haben, dass der effektive Lohn den Mindestlohn unterschreitet.

diskus: Was gibt es im Arbeitsalltag zwischen den Saisonarbeiter_innen und den Landwirten für Konflikte?

So ein Arbeitsalltag mit zehn Stunden Arbeit, das ist der Rahmen, in dem alle Beteiligten noch halbwegs zufrieden sind. Die Leute werden zum Teil auch nach Akkord bezahlt und wollen gerne viel arbeiten. Auch ist der Mindestlohn für die Arbeiter_innen nicht die entscheidende Größe, an der sie ihr Einkommen messen. Die Saisonarbeiter_innen haben vielmehr häufig eine feste Kalkulation, einen Gesamtverdienst, den sie gerne erreichen möchten. Und wenn sie merken, dass sie den nicht erreichen – sei es, weil der Bauer zu viel Geld für Kost und Logis abzieht, oder die Bezahlung nicht der geleisteten Arbeit entspricht – kam es in der Vergangenheit relativ häufig zu Konflikten. Weitere Konfliktauslöser sind zu lange Arbeitszeiten, die dann teilweise bei 14, 15 Stunden liegen, keine Freizeit – also wirklich sieben Tage, 14 Stunden arbeiten. Häufig sagen uns die Bauern zwar »Die Leute wollen ja auch so viel arbeiten, die wollen ja was verdienen« – aber auch da gibt es natürlich ein Limit. Bei 14 Stunden Arbeit an sieben Tagen die Woche werden die Arbeiter_innen doch ziemlich häufig wütend.

Was auch ein häufiges Problem ist, sind überbelegte Unterkünfte, schlechte sanitäre Anlagen, schlechtes oder nicht ausreichendes Essen. Und die Frage der Möglichkeit einer vorzeitigen Abreise: Wenn jemand aus privaten Gründen vorzeitig abreisen muss, versuchen die Landwirte das oft zu verhindern. Wir erleben Fälle, wo Pässe einbehalten werden, um die frühzeitige Abreise einzelner Arbeitskräfte zu verhindern. Ein weiterer Punkt: Da die Arbeiter_innen mit ihrem Status als kurzfristig Beschäftigte und die Arbeitgeber_innen für die Beschäftigten eigentlich keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen – da gehört auch die Krankenversicherung dazu –, kommt es auch immer wieder mal vor, dass denjenigen Arbeiter_innen, die krank werden oder ins Krankenhaus müssen, die Behandlungskosten direkt vom Lohn abgezogen werden.

diskus: Gibt es einen Konfliktfall aus den letzten Jahren, der Dir besonders in Erinnerung geblieben ist?

Besonders krass waren die Fälle mit dieser massiven Überschreitung der Arbeitszeit – also 14 Stunden Arbeit an sieben Tagen der Woche. Letztes Jahr hatten wir unter Erntehelfern auch zwei Todesfälle durch Hitzeschlag. Dann gibt es immer wieder Großbetriebe – sowohl in Brandenburg als auch Rheinland-Pfalz habe ich das kennengelernt -, wo extrem große Gruppen, also wirklich jeweils so 500 bis 1000 Beschäftigte, um ihren Lohn gebracht werden. Und man merkt, dass die Erntehelfer_innen durch ihre schlechte Orientierung, ihren schlechten Zugang zu Informationen, der Sprachbarriere und auch aus Angst am nächsten Morgen vom Betrieb geworfen zu werden, die angebotene Hilfe nicht in Anspruch nehmen wollen, einfach weil sie sich fürchten. Das sind eigentlich die schlimmsten Bedingungen – wenn man merkt, dass die Isolation und die Abhängigkeit der Arbeiter_innen wirklich so krass sind, dass, trotz extremer Unzufriedenheit, sie sich nicht trauen etwas zu tun, um die Situation zu verbessern.

diskus: Wie haben die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie den Arbeitsalltag der Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft verändert? Hast Du da schon erste Einblicke?

In den Vorjahren, in denen wir unser Informationsmaterial an die Saisonarbeitskräfte verteilt haben, haben wir immer wieder von Verstößen erzählt bekommen, wenn wir die Arbeitskräfte auf den Feldern besucht haben. Wir wussten also, dass es hier und da nicht mit rechten Dingen zu geht, aber zum größten Teil haben die Saisonarbeitskräfte die Situation so akzeptiert. Entweder, weil sie trotz der schlechten Bedingungen auf das Geld angewiesen waren und keinen unnötigen Streit anfangen wollten. Oder sie waren zwar sehr unzufrieden, haben sich aber aus Angst vor Repression durch den Betrieb nicht getraut, sich zu wehren. Die Saisonarbeiter_innen hatten teilweise tatsächlich Angst, dass sie direkt auf die Straße gesetzt und obdachlos werden und eventuell auch nicht mehr zu ihrem Wohnort zurückkommen. Deswegen haben wir – auch angesichts der Tatsache mit wie vielen Personen wir gesprochen haben und wie viel Aufmerksamkeit wir unter den Saisonarbeiter_innen erregt haben – eigentlich relativ wenig Rückmeldungen bekommen.

Das hat sich jetzt unter dem Eindruck von Corona krass geändert. Es gab zahlreiche Medienberichte in Deutschland über die Situation der Saisonarbeiter_innen in der Landwirtschaft, die nicht nur die Nicht-Einhaltung der Hygiene-Richtlinien problematisierten, sondern auch arbeitsrechtliche Verstöße kritisierten. Wir haben dieses Jahr aber auch – und das ist neu – eine breite Mediendebatte in Rumänien über die Zustände in deutschen landwirtschaftlichen Betrieben, die auch nicht nur die Einhaltung der Hygiene-Regeln hinterfragen, sondern auch arbeitsrechtliche Probleme dokumentieren, erlebt. Es gibt damit zum ersten Mal auch ein rumänisches Echo zu Debatten über Arbeitsbedingungen in der deutschen Landwirtschaft. Sogar die rumänische Regierung hat sich nach den ersten Berichten eingeschaltet und verteilt jetzt an rumänischen Flughäfen Aufklärungsflyer an die Arbeiter_innen, um auf Hilfsangebote bei Verstößen gegen den Arbeitsschutz hinzuweisen. Das zeigt ja schon, welchen Eindruck es in Rumänien von den Zuständen gibt, welche die Saisonarbeiter_innen in Deutschland erwarten.

diskus: Würdest Du sagen, dass die verstärkte Kritik vor allem aus dem gesteigerten Problembewusstsein resultiert? Oder haben sich auch die Arbeitsbedingungen unter den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie verschärft?

Mehrere Faktoren spielen eine Rolle: Zum einen die Enttäuschung bei den Saisonarbeiter_innen selbst – das Gefühl ungerecht behandelt zu werden, obwohl man bereit ist, seine Gesundheit zu riskieren. Zum anderen hat die verstärkte Resonanz in Rumänien bestimmt ein Stück weit dazu geführt, dass die einzelnen Saisonarbeiter_innen sich bewusst waren, dass sie in dieser Situation nicht ganz allein sind. Zudem muss man nicht denken, dass die Betriebe ihre Arbeitskräfte während Corona besser behandeln. Viele Betriebe versuchen, die in der Coronakrise entstandenen Mehrkosten auf die Arbeitnehmer umzulegen – wie die Anreisekosten, die aktuell deutlich höher ausfallen. Trotz der Zusage des Bauernverbandes, dass die Betriebe diese Mehrkosten übernehmen, gibt es bereits mehrere Presseberichte, dass es eine Tendenz gibt, diese Kosten auf die Saisonarbeiter_innen abzuwälzen. Gleichzeitig versuchen die Betriebe, trotz eines kleineren Zeitfensters und weniger Erntehelfer_innen, noch so viel Ernte einzuholen, wie es geht. Und dafür setzen sie ihre Arbeitskräfte noch mehr unter Druck, als es eh schon der Fall ist. Das steigert alles das Konfliktpotenzial.

diskus: Auch die Hygienebedingungen vor Ort sind insbesondere in Zeiten von Corona Teil der Arbeitsbedingungen. Was bieten die Betriebe den Saisonarbeitskräften für ein Arbeitsumfeld?

Wir haben uns hier im Kollegium schon im Vorhinein darüber unterhalten, dass sich in dem Fall, dass die Saisonarbeiter_innen aus dem Ausland wirklich kämen, durchaus die Frage stellt, bei welchen der uns bekannten Betriebe wir überhaupt davon ausgehen können – einfach von der Infrastruktur und den Unterkünften her – dass sie die entsprechenden Hygiene-Maßnahmen umsetzen können. Wir kamen schnell zu dem Schluss, dass die meisten Betriebe das nicht umsetzen können, selbst wenn man davon ausgeht, dass auf den Höfen nicht so viele Beschäftigte arbeiten wie sonst zur Erntezeit. Auch die Anreise von der Unterkunft zu den Feldern erfolgt normalerweise in völlig überfüllten Bussen. Wir konnten es uns eigentlich nicht vorstellen, dass an dieser Stelle Distanzregeln eingehalten werden. Zudem ist es ja so, dass die vorgegebenen Hygienevorschriften durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) und das Innenministerium sehr vage und eigentlich für die Situation nicht angemessen formuliert sind. Es sind auch sehr wenige Kapazitäten zur Kontrolle der Umsetzung der Maßnahmen vorgesehen. Das heißt, es war davon auszugehen, dass die Gesundheit der Saisonarbeiter_innen nicht ausreichend geschützt wird. Auch die vorgesehenen 14-Tage Quarantäne für die angereisten Saisonarbeiter_innen bedeuten eine massive Verschärfung der Situation.

diskus: Es gibt also eine Verschärfung der Arbeitsbedingungen selbst. Und gleichzeitig entsteht ein erhöhtes kollektives Problembewusstsein bei den rumänischen Saisonarbeiter_innen. Wie verhalten sich die einzelnen Arbeitgeber_innen in dieser Situation?

Die Bedingungen sind je nach Betrieb sehr unterschiedlich. Das ist etwas, das wir auch ohne Corona jedes Jahr feststellen. Es gibt sehr gute Betriebe, die problemlos die Hygienemaßnahmen umsetzen können und wollen. In kleineren Betrieben gibt es oft auch eine große Angst vor Kontrollen – insbesondere, wenn dort die landwirtschaftliche Arbeit noch mit Publikumsangeboten wie Erlebnisgastronomie oder Gästezimmern kombiniert wird. Und andere versuchen den wirtschaftlichen Druck vor allem auf ihre Arbeitskräfte auszulagern.

Die Betriebe sind natürlich bemüht, so viele Beschäftigte am Hof zu haben, dass sie ihre ganze Ernte einbringen können. Die Betriebe, wo wir aktuell kritische Rückmeldungen von den Beschäftigten bekommen und über welche die Medien berichten, sind diejenigen Betriebe, die wir seit Jahren als die absoluten Negativbetriebe wahrnehmen. Da war vorher keine Motivation zu erkennen, fair mit den Leuten umzugehen und in der aktuellen Krise wurde das beibehalten. Ich glaube, dass viele Arbeitgeber auch gar keine Erfahrung und Erwartung haben, dass sie kontrolliert werden. Wenn wir in den Vorjahren die Gesundheits- oder Gewerbeämter wegen skandalöser Zustände in den Unterkünften eingeschaltet haben, haben wir die Erfahrung gemacht, dass meistens nichts passiert ist. Vielleicht gab es mal einen kurzen Anruf oder einen Brief. Das ist natürlich ein Anreiz für die Betriebe zu sagen, »na was hab‘ ich schon zu befürchten?« Das ist ihnen jetzt auch ein Stück weit um die Ohren geflogen. Leider noch nicht allen.

diskus: Es gibt also einzelne Betriebe in der Landwirtschaft, wo die Arbeitsbedingungen besonders schlecht sind? Und diese Betriebe halten sich jetzt auch eher nicht an die Corona und Hygienevorschriften?

Ja genau. Und da muss man wirklich sagen: Das sind die Betriebe, die das schon immer machen. Die sind das auch überhaupt nicht gewöhnt, dass sich irgendjemand in ihren Umgang mit ihren Arbeitskräften einmischt und sich dafür interessiert. Wenn diese Betriebe damit konfrontiert werden, dass es ein Problem bei ihnen gibt, dann fallen die oft aus allen Wolken. Zum Teil gibt es in diesen Landwirtschaftsbetrieben auch über Jahre etablierte dubiose Konstruktionen. Beispielsweise machen die Landwirte, oder ein Bekannter, eine extra Firma auf, und diese Firma übernimmt dann die Vermietung der Unterkünfte. Dieser auf dem Papier externe Anbieter ist dann nicht an die vorgeschriebenen Kostensätze für die Unterkunft gebunden und kann dann viel mehr abziehen. Wenn vom Lohn der Saisonarbeiter_innen zu viel Geld für Unterkunft und Verpflegung abgezogen wird, ist das eigentlich natürlich ein Mindestlohnverstoß und müsste entsprechend geahndet werden. Die Arbeitgeber haben sich also teilweise konkret überlegt »Wie kann ich das im Falle einer Kontrolle irgendwie so machen, dass diese Abzüge kein Problem darstellen?« Obwohl es eben, de facto, eine Ausnutzung der Beschäftigten ist. Das sind wirklich Betriebe, die das über Jahre eingespielt haben, sodass sie im Fall einer Kontrolle sicher sind, das nichts passiert.

Und jetzt kam Corona dazu. Und dann konnte man sich schon denken, dass die Leute diese Haltung haben werden: »Ja, ich mach mit meinen Leuten was ich will. Und wenn es mir zu teuer ist hier das umzusetzen, mache ich das nicht, sondern trickse.«

diskus: Du hast Kontrollen bereits angesprochen. Wie würdest Du die Bedeutung oder die Rolle von staatlichen Stellen wie dem Landwirtschaftsministerium in diesen Komplex einordnen? Gibt es Bemühungen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern oder ist es mehr eine Interessensvertretung für die Bauern?

Es ist sehr schwer zu sagen, was dort hinter den Kulissen passiert. Beispielsweise jetzt bei Corona: Erst hat das Innenministerium gesagt »Nein, unter den Bedingungen können wir die Anreise von Erntehelfer_innen nicht verantworten, es wird ausgesetzt.« Und plötzlich wurde ein halbgarer Vorschlag angenommen, sodass die rumänischen Arbeitskräfte doch nach Deutschland kommen können. Insbesondere die Frage nach der Krankenversicherung ist dabei noch nicht geklärt. Dazu kommen die Fragen nach der Rückkehr nach Hause oder der Möglichkeit eines Wechsels des Betriebes, wenn es Probleme gibt. Oder die Fragen: Gibt es Kapazitäten zur Kontrolle der Einhaltung der Sonderregelungen? Und trotz all dieser ungeklärten Fragen und Ungereimtheiten hat plötzlich alles funktioniert. Daran kann man schon ablesen, dass der Bauernverband auf jeden Fall einen extrem starken politischen Einfluss hat.

Dieser Einfluss, ein unausgegorenes Konzept durchzusetzen, ist ihnen jetzt vielleicht auch auf die Füße gefallen: Man sieht, die Kontingente, die da gesetzt wurden – 40.000 im April und 40.000 im Mai –, sind bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Ich glaube, im April ist ungefähr die Hälfte der angestrebten Saisonbeschäftigten gekommen. Auch aufgrund der Medienberichterstattung in Rumänien, haben sich nur Menschen in großen Notlagen überzeugen lassen, nach Deutschland zu kommen. Weil sie überhaupt nicht wissen, was sie erwartet. Weil es überhaupt keine Vorkehrungen gibt, um die Gesundheit der Leute irgendwie zu schützen, oder um zu gewährleisten, dass die Leute hier vernünftig behandelt werden.

diskus: Du hast auch das Thema Krankenversicherung angesprochen. In den deutschen Medien wurde über den Fall eines an Covid-19 erkrankten und auch verstorbenen rumänischen Arbeiters berichtet. Dabei blieb in den Berichten offen, ob er eine Krankenversicherung und ob er einen Arzt gesehen hatte. Kannst Du skizzieren, was passiert, wenn ein Saisonarbeiter an Corona erkrankt?

Was die vorgesehene Regelung ist, da bin ich mir jetzt im Detail gar nicht sicher. Ich schätze, dass es erstmal Quarantäne ist, eine relativ strenge medizinische Überwachung und im Falle der Verschlechterung des Zustandes eben dann auch stationäre Behandlung. Mir ist jetzt kein Fall bekannt, wo tatsächlich versucht wurde, eine Corona-Erkrankung zu verschleiern. Bloß: Es gibt über diesen verstorbenen Erntehelfer in Baden-Württemberg auch den Bericht, dass er sich schon am Morgen schlecht und krank gefühlt hat – und dann mit Hustensaft behandelt wurde. In diesem Fall wurde einfach kein Arzt aufgesucht. Und im Nachhinein hat sogar noch ein Verband behauptet, dass der Arbeiter übergewichtig gewesen sei und einen Herzinfarkt gehabt hätte. Was von der Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner im Fernsehen dann auch noch wiederholt wurde, obwohl es dafür keine Evidenz gab.

Dieser Fall zeigt das grundsätzliche Problem auf, dass die Leute selbst keinen Ansprechpartner haben. Ihr einziger Ansprechpartner sind die Vorarbeiter – noch nicht einmal direkt die Bauern –, die dann in der Pflicht sind, richtig zu agieren. Wir haben viele, viele Vorarbeiter auch persönlich kennengelernt – und ich gehe davon aus, dass es für sie sehr schwierig ist, die Situation jeweils richtig einzuschätzen. Die stehen natürlich auch von oben krass unter Druck, soviel zu ernten wie möglich – und dann ordnet man bestimmte Symptome vielleicht doch auch fälschlicherweise als leichte Erkältung ein. Allerdings habe ich keine Erfahrung, wie mit jemandem umgegangen wird, der an Corona erkrankt ist. Das ist wahrscheinlich von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich. 

diskus: Normalerweise geht Ihr als der Teil der gewerkschaftlichen Initiative Faire Landarbeit bei »Feldaktionen« direkt in die Betriebe und verteilt Informationsmaterialien an die Arbeiter_innen und versucht, sie auch zu unterstützen, wenn es Probleme gibt. Was versucht Ihr in der aktuellen Situation?

Diese große, deutschlandweite »Feldaktion«, wo mehrere Gruppen in unterschiedlichen Regionen losfahren – das können wir auf jeden Fall dieses Jahr nicht machen. Aktuell gibt es unterschiedliche Strategien, wie wir versuchen, uns den veränderten Bedingungen anzupassen. Aufgrund von Corona gibt es von dem Faire Mobilität Projekt eine Hotline-Nummer, wo sich in den jeweiligen Landessprachen osteuropäische Beschäftigte aus der EU melden können. Diese Nummer[1] bewerben wir auch breit, beispielsweise über Soziale Medien. Die Idee war, dass wir unsere Hotline-Nummer auch so schnell wie möglich an die Beschäftigten verteilen – direkt am Flugzeug, nach dem Ankommen in Deutschland, gemeinsam mit anderen Materialien, die sie von offiziellen Stellen bekommen. Eigentlich wurde uns vom Landwirtschaftsministerium (BMEL) sogar zugesagt, dass unsere Hotline-Nummer in die offiziellen Materialien hineingedruckt wird. Das ist aber nicht gemacht worden. Deshalb hatten wir am Anfang ein sehr großes Problem, die Leute zu erreichen. Wir haben versucht, das mit verschiedenen Strategien aufzufangen: Zum einen haben Leute von der Gewerkschaft versucht, die Flyer am Flughafen so auszulegen, dass die Leute doch noch rankommen. Oder es wurden am Flughafen direkt Flyer an die Ankommenden verteilt. Das war aber nicht überall gerne gesehen. Die Bereiche, wo die Materialien verteilt werden können, sind genau genommen eigentlich auch abgesperrt. Das BMEL hat uns dann mitgeteilt, dass der Bauernverband zugestimmt hätte, dass die Materialien über den Bauernverband selbst verteilt werden können und das über seine Mitglieder laufen könnte. Wir haben aber die Erfahrung gemacht, dass natürlich ein Betrieb, der Dreck am Stecken hat, den Leuten nicht irgendwelches Material gibt, das sie noch über ihre Rechte informiert. Was ja klar ist. Deswegen ist es für uns überhaupt keine Option gewesen, das so zu machen. Wir haben dann stattdessen versucht, über rumänische Kanäle an den rumänischen Flughäfen zu gewährleisten, dass dort die Nummer verteilt wird. Das hat stellenweise, aber eben nicht flächendeckend, funktioniert. Was jetzt tatsächlich flächendeckend gemacht wird, ist, dass diese Nummer über ein Faltblatt des rumänischen Arbeitsministeriums verteilt wird, das auch auf unsere Beratungsprojekte verweist. Neben unserer Nummer ist auf dem Flyer auch die Nummer der rumänischen Botschaft in Deutschland als Ansprechpartner angegeben. Es hat sich jetzt schon gezeigt, dass es eigentlich gut funktioniert, dass die rumänische Botschaft die Leute an uns weiter vermittelt, wenn es im Betrieb Probleme gibt.

Wir können trotzdem längst noch nicht sagen, dass wir flächendeckend an alle herankommen. Was auch dazu führt, dass wir wirklich nur von den krassesten Fällen hören. Da werden wir dann eingeschaltet oder da hören davon. Ich glaube, es gibt ganz viele Konflikte und Probleme, die noch unter der Oberfläche sind.

diskus: Wo würdest Du kurzfristig den größten Handlungsbedarf sehen?

Wichtig ist auf jeden Fall die Stärkung des Sozialschutzes. Insbesondere eine Klärung der Situation der Krankenversicherung – dass die Leute nicht auf den Kosten sitzen bleiben, wenn sie krank werden. Darüber hinaus ist es wichtig, so einfach es klingt, dass die Beratungsstellen Zugang zu den Leuten haben. Dass die Leute die Möglichkeit haben jederzeit zu sagen »Ich fliege zurück«. Solange die Situation der Rückkehr beziehungsweise des Betriebswechsels ungeklärt ist, haben die Saisonarbeiter_innen im Grunde genommen überhaupt kein Druckmittel. Ganz im Gegenteil. Sie sind diejenigen, die unter Druck stehen. Ein Beispiel aus Brandenburg: 15 rumänische Beschäftigte eines großen Betriebes haben sich trotz Quarantäne vom Betrieb entfernt oder wurden entfernt – was genau passiert ist, ist noch etwas im Dunkeln – und mussten dann dort im Park schlafen. In ihrer größten Not haben sie dann die rumänische Botschaft eingeschaltet. Als Reaktion hat der Bauer gesagt: »Jetzt wird die Quarantäne verlängert, für 14 Tage, für alle Beschäftigten.« Und hat so versucht, einen Keil zwischen diese Gruppe, die sich beschwert hat, und die Anderen zu treiben, die jetzt eine Kollektivstrafe für das angebliche Vergehen mitabbekommen haben. Da zeigt sich ganz deutlich diese extrem schwache Machtposition, die die Leute haben, um ihre Rechte selbst auch offensiv einzufordern. Obwohl sie im Moment eigentlich in einer guten Position sind - ohne sie würde einfach nichts laufen in diesen Betrieben.

diskus: Gibt es etwas, das Du Dir in der aktuellen Situation von der sogenannten Zivilgesellschaft wünschen würdest?

Der Fokus der aktuell auf den anderen systemrelevanten Berufen liegt, wie Krankenpflegerin und Krankenpfleger oder Bedienstete im Supermarkt, der sollte auch auf den saisonal Beschäftigten in der Landwirtschaft liegen. Auch diese Beschäftigten sollten diese Anerkennung bekommen. Anerkennung bedeutet auch, dass man sich dafür interessiert, kritisch nachfragt und sich auch dafür einsetzt, dass die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Gleichzeitig merke ich im Moment, dass die Presse oder die Medien da sehr aktiv sind, sich sehr dafür interessieren. Aber man weiß auch, dass das nicht besonders langfristig ist. Sondern, dass es einmal kommt – und dann gibt es von allen Seiten Presseanfragen und jeder möchte jetzt irgendeinen Rumänen haben, der über sein schlechtes Schicksal berichten kann. Aber dieses Interesse flacht relativ schnell ab, die aktuell hier arbeitenden Leute werden aber höchstwahrscheinlich noch mehrere Monate in Deutschland sein. Da muss man am Ball bleiben und dafür sorgen, dass sich die Situation verbessert. Da ist es durchaus wichtig, dass von der Zivilgesellschaft auch der Impuls kommt, dass der Fokus auf diesen Arbeitsverhältnissen bleibt. Und dass man alles tut, um diese Leute zu unterstützen.

diskus: Gibt es noch einen wichtigen Aspekt, den wir noch nicht genannt haben?

Ich möchte nochmal darauf hinweisen, dass in Zeiten von Corona die schwache Position der Landarbeiter_innen besonders deutlich wird – die absolute Abhängigkeit und Isolation der Leute macht sie extrem anfällig und bringt sie in eine verletzliche Position. Und bei manchen Bauern gibt es überhaupt keine Bedenken das auch auszunutzen. Es gibt ja auch diesen Fall des Bauers bei Nienburg in Niedersachsen, der ohne Hemmungen in der Tagesschau zugibt, dass er seinen Beschäftigten die Pässe abgenommen hat. Das zeigt auch einfach wie Teile der Landwirte denken. Das sind wirklich frühindustrielle Denkformen von Arbeitgebern, die dort immer wieder formuliert werden. Das ist eigentlich der Skandal an der ganzen Sache.

Das Interview führten Hannah und Christian.

 

[1] Die Hotline-Nummer findet sich hier: https://www.fair-arbeiten.eu/de/article/464.hot-li-ne-co-ro-na-und-ar-beits-rech-te.html