Interview mit Thomas von der Osten Sacken



Seit mehreren Wochen wird über eine Evakuierung der Geflüchteten, die sich aktuell auf der Insel Lesbos an der griechisch-türkischen Grenze befinden, diskutiert. Im Camp Moria, wo derzeit über 20.000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen leben müssen, zeichnet sich aufgrund der ständig voranschreitenden Ausbreitung des Coronavirus und der zunehmend schlechteren Versorgungslage eine humanitäre Katastrophe ab. Anlässlich des bundesweiten Aktionstag #LeaveNoOneBehind haben wir uns mit Thomas von der Osten Sacken, Geschäftsführer der Hilfsorganisation Wadi, der seit über zwei Jahren die lokale Hilfsorganisation Stand by me Lesvos berät und seit Anfang März vor Ort ist, über die Lage im Camp Moria, die Vorbereitungen auf das Coronavirus und eine mögliche Evakuierung des Lagers unterhalten.

 

 

diskus: In den letzten Wochen gab es eine erhöhte mediale Berichterstattung zu Moria und der Situation auf Lesbos. In den letzten Tagen waren es vor allem die Bedrohung durch das sich langsam auch in Griechenland ausbreitende Coronavirus und die schlechte Wasserversorgung des Camps, die medial aufgegriffen wurden. Wie würdest Du die aktuelle Situation im Lager beschreiben?

Thomas von der Osten-Sacken: Man muss sich das Moria Camp im Prinzip wie einen riesigen Zelt-Slum vorstellen, in dem der Müll sich stapelt, in dem es kaum Toiletten oder fließendes Wasser gibt und in dem die Menschen dicht an dicht monatelang oder sogar jahrelang in Campingzelten oder notdürftig zusammengezimmerten Plastik- und Holzkonstrukten auf dem Boden schlafen. Was natürlich völlig skandalös ist, weil ihnen hier ganz fundamentale Rechte vorenthalten werden, die ihnen laut der Genfer Flüchtlingskonvention und nach europäischer Menschenrechtserklärung als Menschen, die einen Antrag auf Asyl gestellt haben, zustehen. Die Wasserversorgung bricht nicht langsam zusammen, die Wasserversorgung ist seit Monaten eine große Katastrophe. Momentan ist es so, dass im Moria Camp geschätzt 24 000 Menschen leben, vielleicht sind es sogar noch ein bisschen mehr. Und dann gibt es ja auch noch das zweite viel kleinere Camp in Kara Tepe und auch noch neue Flüchtlinge im Norden der Insel. Augenblicklich ist es jedenfalls so, dass im Gegensatz zu den Camps in der Nähe von Athen, wo jetzt die ersten Corona-Fälle, mit den entsprechenden katastrophalen Folgen, aufgetreten sind, hier in Moria noch niemand positiv auf das Virus getestet wurde.

 

diskus: Da stellt sich natürlich die Frage, wie es denn überhaupt zu dieser Situation im Moria Camp kommen konnte.

Thomas von der Osten-Sacken: Also dass diese Leute auf dem Boden der EU in solch einen Zustand, in solch eine Krise hineingesegelt sind, hat ja eine Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte ist vor allem auf den EU-Türkei-Deal zurückzuführen. Nachdem 2015 und 2016 fast eine Million Menschen über die griechischen Inseln gekommen sind, wurden diese sogenannten „Hotspots“ hier errichtet, mit der sehr zweifelhaften Abmachung mit der Türkei, dass es eine Art von Schnellverfahren hier auf den Inseln gibt. Kurz gesagt, wer in der Türkei nicht verfolgt ist, sollte ziemlich schnell zurückgeschoben werden und dafür sollte dann die EU andere Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen. Das Ganze war schon damals rechtlich sehr fragwürdig, hat aber zudem doppelt nicht funktioniert. Erstens, weil die Aufnahme, vor allem aufgrund des Widerstandes osteuropäischer Länder, nie in dem Ausmaß umgesetzt worden ist und zweitens, weil diese Schnellverfahren hier nie funktioniert haben. Das heißt, die Flüchtlinge sind gezwungen hier auf diesen Inseln zu bleiben. Sie müssen hier zum Teil Monate, wenn nicht sogar über ein Jahr darauf warten, angehört zu werden. Und das ist noch nicht einmal die Erstanhörung eines Asylantrages, sondern eigentlich nur die Entscheidung ob sie danach in ein reguläres Asylverfahren kommen oder abgelehnt werden.

Die Situation im Camp war schon im letzten Herbst desaströs, als hier circa 8000 Menschen festsaßen, in einer alten Militäranlage, die eigentlich für maximal 1800 Soldaten vorgesehen war. Aber ab September beziehungsweise Oktober hat die Türkei aus verschiedenen Gründen ihre Grenzkontrollen zunehmend gelockert und über den Winter sind dann noch einmal 16000 Flüchtlinge hierhergekommen, für die schlicht und ergreifend einfach nicht der geringste Platz in dieser ursprünglichen Anlage bestanden hat. Die Neuangekommenen mussten sich dann hier in dieser metastasierenden Zeltstadt, die man zurecht den „Dschungel“ nennt, irgendwie ein Plätzchen suchen und vegetieren nun hier im wahrsten Sinne des Wortes vor sich hin. Unter Zuständen, die man normalerweise laut Tierschutzverordnung keinem Hund zumuten würde. An der Situation im Camp hat sich seit Anfang des Jahres somit nicht wirklich viel verändert.

 

diskus: Trotzdem kam es ja in den letzten Wochen nochmals zu einer Zuspitzung der Lage, oder?

Thomas von der Osten-Sacken: Im März ist dann die Situation noch einmal eskaliert, als die Türkei offiziell die Grenze aufgemacht hat. Zudem hat ja Griechenland ab dem ersten März die Annahme für Asylanträge für einen Monat ausgesetzt. Hier vor Ort waren dann fast 900 Flüchtlinge über eine Woche im Hafen eingesperrt, bis sie dann mit einem Schiff der griechischen Marine auf das Festland abtransportiert worden sind. All diejenigen, die nach dem ersten März angekommen sind, dürfen momentan nicht in das Moria Camp. Circa 150 Flüchtlinge sind deswegen im Norden der Insel an einem Strand in Zelten untergebracht, wo jetzt auch ein erster Fall von einer Corona-Infektion festgestellt worden ist. Und dann sind hier am Hafen momentan noch ungefähr 30 Flüchtlinge, die neu angekommen sind und da in einem Bus leben und jetzt auch irgendwo anders hingebracht werden sollen.

Dass es überhaupt so weit kommen konnte und heute 24 000 Menschen in diesem Camp festsitzen, ist jedoch die eigentliche Katastrophe. Sollte der Virus jetzt in das Lager kommen, sind die Flüchtlinge dem hier mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. In diesem Lager lassen sich die einfachsten Regeln der Corona-Prävention nicht umsetzen. Halte Abstand. Wie soll man Abstand halten, wenn sich 5000 Menschen an der Nahrungsausgabe drängeln? Isoliere dich, wenn es dir nicht gut geht. Wie soll man sich isolieren, wenn man mit neun Leuten in einem Zelt schläft? Wasch dir die Hände. Wie soll man sich die Hände waschen, wenn es im Großteil des Camps kein fließendes Wasser gibt?

 

diskus: Wie ist denn die Lage der Helfer*innen vor Ort? Inwiefern ist es denn unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich das Camp auf das Coronavirus vorzubereiten?

Thomas von der Osten-Sacken: Was wir machen können sind vor allem ad hoc Maßnahmen. Als wir hier angefangen haben, Anfang März, gab es nicht die geringsten Vorbereitungen. Es hing im ganzen Camp noch nicht mal ein einziges Aufklärungsplakat zu Corona in einer der relevanten Sprachen. Es gab im wahrsten Sinne des Wortes Nichts. Wir haben dann, weil wir von Flüchtlingen darauf angesprochen worden sind, die versucht haben sich im Camp selbst zu organisieren und ihr Schicksal angesichts der Bedrohung selbst in die Hand nehmen, deren Initiativen wie das „Moria Corona Awareness Team“ massiv unterstützt. Wir versuchen hier mehr oder weniger aus dem Boden heraus Maßnahmen zu ergreifen, die die schlimmsten Folgen des Corona-Virus vielleicht etwas abmildern könnten. Wir haben etwa eine größere Aufklärungskampagne in fünf verschiedenen Sprachen, die momentan mit Postern im gesamten Camp verbreitet wird, gestartet. Mit anderen Flüchtlingen wiederum haben wir versucht den Supermarkt so zu organisieren, dass es nicht zu Massenversammlungen vor dem Markt kommt, die ja auch gerade jetzt in Corona-Zeiten gefährlich sind. Wir haben zudem versucht das Müll Problem etwas in den Griff zu kriegen. Ganz Ähnliches fangen wir jetzt auch auf einer anderen Insel an.

Momentan versuchen wir zudem einige Handwaschstationen aufzubauen, sodass mindestens an den Eingängen zum Camp, wenn Leute von der griechischen Seite der Insel, auf der es ja bereits Corona Vorfälle gibt, zurückkommen, sich die Hände waschen können. Dies versuchen wir gerade auszubauen. Das Problem dabei ist allerdings, dass es nach wie vor sehr wenig Wasser gibt. Das hier ist eigentlich ein Olivenhain, der nicht dafür vorgesehen ist, dass hier mehr als 20000 Leute leben. Das heißt, man muss sich jetzt darum kümmern, dass man von anderen Orten genügend Wasser hierherschafft, um Wasser für diese Handwaschstationen zu haben. Das alles reicht natürlich vorne und hinten nicht aus, aber es sind sozusagen jetzt erst einmal improvisierte Maßnahmen. Wir versuchen die Flüchtlinge hier im Camp bei ihrer Selbstorganisierung zu unterstützten und versuchen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was Corona ist, wie gefährlich es ist und dass es im Augenblick ganz wichtig ist, den Kontakt nach außerhalb so gering wie möglich zu halten, um eben den Virus nicht ins Camp zu tragen.

Hinzu kommt, dass die größeren Hilfsorganisationen bereits Ende Februar, als es zu Ausschreitungen mit Rechtsextremisten kam, abgezogen sind. Es ist jedoch eigentlich auch nicht die Aufgabe von Hilfsorganisationen das Elend in irgendwelchen Flüchtlingslagern zu verwalten. Die Existenz dieses Lagers an sich ist ein enormer Skandal und müsste als solcher adressiert werden. Menschen haben ein Recht, wenn sie in Europa einen Asylantrag stellen, entsprechend menschenwürdig behandelt zu werden, anstatt dass unmenschliche Bedingungen mithilfe irgendwelcher internationaler Hilfsorganisationen weitergeführt werden. Das halte ich für ein generelles Problem in all diesen „Hotspots“ hier.

 

diskus: Wie würdest du die Versorgungslage im Camp generell beurteilen? Ist es möglich, über die Corona-Krise hinweg, die Versorgung aufrechtzuerhalten?

Thomas von der Osten-Sacken: Das ist natürlich sehr fraglich. In Griechenland gibt es das System, dass Flüchtlinge 90 Euro pro Monat, was wirklich nicht viel Geld ist, zur Verfügung gestellt bekommen, um es sich mit Bankkarten von Bankautomaten abheben können. Das ist ihnen nun untersagt worden, da sonst am Anfang des Monats immer tausende Flüchtlinge vor den Banken stehen. Die griechische Regierung wollte jetzt eigentlich Bankautomaten in das Camp bringen, dieses Versprechen wurde aber bisher nicht eingelöst. Das heißt in einer Woche haben die Menschen hier kein Geld mehr, um sich, außerhalb von dem was im Camp zur Verfügung steht, noch etwas zu kaufen oder zu leisten.

Die Nahrungsmittelversorgung im Camp ist generell seit Jahren katastrophal und wird momentan eher schlechter, da aufgrund des Coronavirus auch hier die Logistik immer weiter zusammenbricht und auch Griechenland sozusagen unter einem kompletten Lockdown steht. Die Versorgungswege werden somit immer problematischer. Wir befinden uns hier zudem noch in der absoluten Peripherie des Landes und es stellt sich natürlich die Frage wie lange das noch ohne Unterstützung von außen weiter gut gehen soll. Vor allem sollte das Corona-Virus ins Camp kommen, wird die Nahrungsmittelausgabe das größte Problem sein, da sich dort jeden Tag fünftausend Leute wirklich drängeln. Jede Vorstellung von Abstand ist dort natürlich völlig absurd.

 

diskus:Die europäischen Regierungen, allen voran Deutschland, diskutieren bereits länger über eine Evakuierung des Camps, vor allem aber über eine Evakuierung der Kinder, die sich noch dort befinden. Für wie realistisch hältst du eine Evakuierung des Camps?

Thomas von der Osten-Sacken: Es ist völlig unrealistisch, jetzt, in dieser Situation die circa 45000 Flüchtlinge aus den Hotspots zu evakuieren. Anstatt wochenlang darüber zu diskutieren, ob man nun 1000 oder 1500 oder auch nur 500 Kinder evakuiert, wäre es jetzt dringend geboten die Kranken und Alten zu retten, die hier de facto zum Tode verurteilt sind. Kranke und Alte geben medial natürlich nicht so viel her wie Kinder, aber sie sind diejenigen, die wirklich durch das Coronavirus bedroht sind. Corona kann auch für Kinder lebensgefährlich sein, ist es aber nicht die Regel nicht. Ob die Kinder, die schon seit Monaten in diesen Dreckslöchern hier ausharren müssen, jetzt hier noch einen Monat länger festsitzen, sollte gerade – leider – nicht das Problem sein.

Wer über eine Evakuierung redet, sollte sich jedoch darüber klar sein, wovon man überhaupt spricht. Jede_r will zu Recht hier weg und wenn, was ich bis jetzt nicht glauben mag, hier wirklich die Flugzeuge landen, wird es ziemlich sicher zu sehr hässlichen und chaotischen Szenen kommen. Die lokale griechische Polizei ist schon jetzt hoffnungslos überarbeitet und überfordert und wird also kaum bereit und in der Lage sein, schützend einzugreifen. Eine unvorbereitete Evakuierung des Lagers würde vermutlich sogar dazu führen, dass im schlimmsten Fall tausende Flüchtlinge versuchen in die bereitgestellten Transportmittel zu stürmen, denn, wie gesagt jede_r will hier weg. Also bedürfte es einer eingehenden operationalen Planung, dass es nicht so weit kommt, sondern so eine Evakuierung einigermaßen geregelt vonstattengeht und auch die Menschen in den Camps wissen, wer weshalb außer Landes gebracht wird. Momentan sieht es jedoch nicht so aus, als würde es vonseiten der EU oder Deutschlands einen wirklichen Willen geben, eine Evakuierung der Camps durchzuführen.

 

diskus: Letzte Woche kündigte auch der Verein „Mission Lifeline“ an, eine Luftbrücke zwischen Lesbos und Berlin zu schaffen, um das Camp zu evakuieren. Was denkst du über dieses Vorhaben?

Thomas von der Osten-Sacken: Das ist doch völlig absurd. Ich erlebe diese ganze Diskussion hier vor Ort mit. Das ist wunderschön, dass Leute sich jetzt unheimlich viele Gedanken machen, wie das Camp evakuiert werden könnte, es gibt jedoch bislang meines Wissens noch keinerlei praktische Pläne, wie das vor Ort dann auch umgesetzt werden kann. Unglaublich viele Leute reden da unglaublich vieles, was in der Intention auch richtig ist, nur wenn man ein bisschen nachbohrt, wie denn bitte die Camps in dieser Situation evakuiert werden oder auch nur hunderte von Geflüchteten aus diesem Camp hier rausgeholt werden sollen, stößt man auf die Tatsache, dass es operational noch überhaupt keine Pläne vorliegen. Die Leute reden über Dinge, die leider wirklich noch sehr unausgegoren scheinen. In der Öffentlichkeit entsteht dadurch der Eindruck, als wäre es nur noch eine Frage von Tagen bis hier sozusagen eine große Evakuierung losgeht. Vor Ort sehen wir das noch nicht. Es wäre natürlich sehr schön, wenn das passiert. Ich bin da aber eher skeptisch und denke, dass der Eindruck auch kontraproduktiv sein kann, weil viele Leute sich jetzt einfach der Illusion hingeben, dass die Camps bald evakuiert sind und man sich deshalb nicht um die Frage kümmern muss, wie man mit dem Nichts, das man hier hat, irgendwie durch diese Krise kommt.

Die Perspektive für die Zukunft muss definitiv sein, dass diese Camps aufgelöst werden. Sie aufrechtzuerhalten ist kriminell. Sie verstoßen grundlegend gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und gegen die europäische Menschenrechtserklärung. Alle, die dazu beigetragen haben, dass es so weit kommen konnte, wie es kam, wirklich alle, sind dafür zur Rechenschaft zu ziehen.

 

Die Initiative "Stand by me Lesvos" arbeitet seit 2017 mit Geflüchteten auf Lesbos. Aktuell führen sie eine Aufklärungskampagne zum Corona-Virus durch und haben in den letzten Wochen unter anderem das "Moria Corona Awareness Team" mitaufgebaut. Die Initiative benötigt dringend Geld, um ihre Arbeit und die Projekte zur Corona-Prävention weiterzuführen. Spenden können per Paypal auf der Website oder auf folgendes Konto überwiesen werden:

Piraeus Bank
Account No. 5709086466501
IBAN GR4201727090005709086466501
SWIFT-BIC PIRBGRAA

 

Das Interview führte Florian Meier