MARIO ERDHEIM LIVE IN FRANKFURT
Alle konnten sich begeistern, aber niemand meine Frage nach dem Thema der Vorlesung beantworten. Eine Grazie des inneren Zirkels um den Großen Meister nannte das sogar den besonderen Reiz. Immer war von wundersamen Märchen und Geschichten aus aller Herren und Damen Ländern, aus eigenen und fremden, alten und neuen Kulturen die Rede, von nicht enden wollender Kurzweil und der Anregung zu den heillos abgründigsten Diskussionen über Themen aus dem weiten Interessenbereich des linken und wissenschaftlich-literarischen Spektrums, aber auch über ganz Persönlich-Intimes in und um die eigene Seele, über Narziß und den Bach, in dem er sein Spiegelbild erschaut und Ödipus und den Felsen, von dem sich die Sphynx gestürzt haben soll. Seine Rede sei wie Haschisch, das im Traum beglückt, wie Milch und Honig vom Alternativhof wissenschaftlich und antiwissenschaftlich zugleich und glücklicherweise hätten verschiedene Kommilitonen im vergangenen Semester alle Veranstaltungen auf Tonbänder mitgeschnittenund seien inWechselschichten dabei, ein Skript anzufertigen, das jetzt schon fast 4.000 Seiten umfasse.
Ich hatte mich nach der Lektüre von fünf bis sechs Bänden Castaneda vor 4 Jahren dem allgemeinen Modetrend gebeugt und für Ethnologie interessiert, sodaß ich eines Abends nach einem ziemlich ausgedehnten Gelage beschloß, meine zehnjährige vorlesungsfreie Zeit zu beenden und die Veranstaltung am folgenden Montag zu besuchen. Mich lockte die reizvolle Atmosphäre, die mir geschildert worden war und die zahlreich anwesenden Schönen, die mir so oft von Ihm, dem Großen Meister geschwärmt hatten. Auch sind Gott und Meister inzwischen ja wieder gelitten (möglichst ersterer in Indien und letzterer ein Indianer), H. P. Duerr hat selbst trotz seiner persönlichen Ablehnung dieser beiden Herren viel zu ihrem gegenwärtigen höheren Preise beigetragen, denn er hat die delikate Verbindung von anarchischem Bewußtsein und akademischer Formalität in einem Drahtseilakt zwischen 150 Text- und 250 Anmerkungsseiten versucht und damit allen Möchte-Gern-Hexen, MöchteGern-Anarchisten und MöchteGern-Professoren, was sich gelegentlich sogar in einer Person abspielt, die goldene Brücke in dieses Fach gebaut. Das Titelbild seines entscheidenden Werkes (Traumzeit) gibt Auskunft über den Stand der Lehre und illustriert das Ambiente der von mir erwählten Veranstaltung gut.
Vor den Trümmern des Tempels klassischer Bildung wandelt der Meister und liest. Er ist züchtig gekleidet und unendlich fern trotz physischer Nähe. Die Schönen lauschen ihm sprachlos entzückt und räkeln sich an dem stämmigen Holz. Die Szene spielt vor bezugsloser Weite, der Blick bleibt keusch nach innen gewendet und aus Versehen gleitet eine Hand an die Schenkel. Nur dürftig sind die Grazien verhüllt und der verstohlen geile Beobachter vermutet hinter gedämpftem Erleben das Toben der Stürme wüster Gefühle und hofft, daß das scheinbar gelangweilte Auge einen innerlich wütenden Wahnsinn verbirgt.
Der Meister ist pünktlich wie alle Professoren, hat dafür draußen ein Weilchen gewartet, von den hereinstömenden Hörerinnen und Hörern lässig, aber genau bemessen gegrüßt. Er ist klein und bescheiden, wie es sich nur die ganz Großen leisten können. Die 24 Sitzreihen des Hörsaals Chemie stehen in schwerem Holz wie im Theater nach oben. Dreihundert, meist Frauen, wie in allen nicht laufbahnschädigenden Fächern, haben sich eingefunden. Geruch nach alten Schulbänken und Muff des Wissenschaftsbetriebes liegt schwer über der ganzen Szene. Vorne ein langer Tisch. In Ermangelung anderer wissenschaftlicher Versuchsanordnungen liegen da nur die sieben Tonbandgeräte der Teilnehmer in der ersten Reihe und der Stapel eng beschriebener Manuskriptseiten des Meisters, der sie aber kaum benutzt. Ich war über die Räumlichkeit erst erstaunt, da ich nach den Berichten mit einer weniger formellen Anordnung gerechnet hatte, einer Teestunde im Freien oder dergleichen, erkannte aber bald, daß der von wissenschaftlicher Tradition geschwängerte Raum viel besser als irgendein anderer dieses merkwürdig sakrale Klima produziert, das jede Banalität zum Wahrwort macht.
Die Eröffnung des Meisters verrät Feingefühl. Er bittet nicht höflich um Ruhe oder räuspert sich gar lautstark, sondern beginnt allem Plaudern und Lärmen zum Trotz mit leiser Stimme den Vortrag. Die ersten Sätze gehen unverstanden und unwiederholt unter, bis in den vorderen Reihen so provozierend geschwiegen wird, daß sich die Ruhe schnell nach hinten ausdehnt und bald den Raum so vollkommen überflutet, daß es mehrere Minuten dauert, bis sich durch Reaktion und Gegenreaktion ein einheitlicher Geräuschpegel einpendelt.
Ein Diskurs von P. Schleunig über das Konzerthusten hat mein Ohr für die besondere Struktur der Nebengeräusche in dergleichen Veranstaltungen geschärft. Das Publikum sucht verzweifelt die Kommunikation mit dem einseitig tönenden Meister und die Unerfüllbarkeit dieses Wunsches im Rahmen der Weihe des Ortes schafft eine Spannung, die sich schließlich im Husten Luft macht. So jedenfalls im Konzert. Die Vorlesung erlaubt noch andere Wege: Stricken in den vorderen Reihen ist schon fast klassisch, wenn auch trotz allem noch schwerpunktmäßig weiblich und es sollen in der Vorlesung zwei Pullover, vier Schals (einer davon in den Schweizer Nationalfarben) und ein Topflappen (männlich) entstanden sein, neben ungezählten unvollendeten Werken; außerdem gibt es natürlich das rituelle Zuspätkommen, ebenfalls vorzugsweise in die vorderen oder schlecht zugänglichen Sitzreihen, aber auch vorzeitiges Gehen, Plätze tauschen und häufiges Austreten, schließlich immer wieder ausgiebiges Husten, Schneuzen, Nesteln und Kraspeln sowie die hektische Wartung der Tonbänder, die möglichst jedes Wort der „Lecture" auf ewige Zeiten konservieren wollen.
Der Meister bewegt sich jenseits von alledem, er läßt sich durch nichts beirren und hegt den Genius Loci. Er untermalt seine Rede durch sparsame Handbewegungen und beharrliches Auf- und Abgehen. Besonders die Unterbrechungen der Wanderung sind ein wirksames Stilmittel, um spezielle Betonung zu erreichen, mal lassen sie wissen, daß er an einem Schlüsselpunkt angekommen ist, mal verweisen sie auf ein besonderes Zitat, das dann ausdem Manuskript verlesen wird und manchmal täuschen sie vor, er wisse nicht weiter, habe sich in den eigenen Wanderungen des Geistes einen Moment lang verirrt. Auch Tafelinschriften verfehlen ihre Wirkung nie, wenn die durch übermäßiges Tanken einseitiger Nachrichten angestaute Notdurft sich in allgemeinem Kramen nach Stiften und Papieren löst, es endlich jeder dem Meister gleichtun und mit ihm zusammen malen darf. Auch auf meinem Blatt findet sich die kollektive Kinderzeichnung: Einem so starken Zauber kann sich niemand entziehen. Ich wußte später keinen anderen Weg, ihn wieder loszuwerden, als ihn in diesem Artikel zu veröffentlichen.
Die Veranstaltung hat mich begeistert, denn schließlich war ich doppelt betroffen als Hobby-Ethnologe und Reisender einerseits, als Mitglied eines Buchhandlungskollektivs andererseits, denn die Kunden!innen) der ethnologischen Abteilung, wie ich die drei m Bücher nun stolz nenne, sehen in mir jetzt einen Initiierten, Mitproblematisierer der einseitigen Nachrichtenverbreitung, einen, der ihre Leiden und Leidenschaft teilt, wenn sie Montags und Dienstags inder Karl-Marx-Buchhandlung aufgeregt in alten Büchern kramen und von der Vorlesung erzählen, von der Ethnologie, der Psychoanalyse, von der Wissenschaft, den Emotionen und dem Leben. Er habe einen neuen Gürtel, hörte ich verschiedentlich sagen, er habe seine persönlichen Allmachtsphantasien geoffenbart und das sei „toll" gewesen, er habe endlich kapiert, daß ein Unterschied sei zwischen „Verschiedenheit" und „Unterschied" von Frau und Mann usw. usw. Neue Zirkel entstehen und Kaffeekränzchen und ETHNO erfreut sich wachsender Beliebtheit. Ebenso die verstreuten Werke des Meisters. Immer wieder wird nach Altem und Neuem gefragt. Ein Hauptwerk soll in zwei Jahren erscheinen. Hoffentlich kommt es nicht vor 1984 und wir hören bis dahin gebannt den Inhalt aus erster oder zweiter Hand durch die schöne Rede des Autors und ohne das akademische Korsett, das die uns so lieben Emotionen erstickt.
Ich habe im Wahn „Prestige und Kulturwandel" (seine Dissertation, glaube ich) gekauft, als ob es nicht genug wäre, einem Meistererzähler zu lauschen, als ob ich nicht von ihm selber gelernt hätte, daß alle Dissertationen, Habilitationen und sonstigen wissenschaftlichen Fleißarbeiten an Verderblichem zumindest den akademischen Fäulniskeim der Langeweile in sich tragen. Über dem Buch bin ich eingeschlafen und habe geträumt, ich wäre ein I ndianer und säße am Fluß, und erzählte wunderschöne Geschichten und alle lauschten voll Furcht und voll Mitleid, aber meine Geschichten gingen immer nur um das eine in Tausend und einer Variation: „Ich bin ein großer Jäger in dieser gefährlichen Welt, ein großer Jäger bin ich." 7.7. 81 Tom Koenigs