Flaschenpost

Genossinnen und Genossen!

Dieser Kongress wird keine bloße Deklamation bleiben. Noch heute Nacht werden sich die Vertreter der internationalen Gruppen zusammensetzen, um die praktischen Konsequenzen zu ziehen, vor allen Dingen in bezug auf die eine Kampagne, die aus diesem Kongress organisiert hervorgehen soll: die Kampagne „Zerschlagt die Nato". Ich möchte noch einmal kurz auf den politischen Gehalt dieser Kampagne im Zusammenhang mit der revolutionären Befreiungsbewegung in der Dritten Welt eingehen. Die letzte Information, die wir bekommen haben von der großartigen Offensivaktion des Vietcong in Saigon beweist, daß der Vietcong fähig ist, den Imperialismus in Vietnam zu besiegen. In der Offensive hat seineStrategie und Taktik die Unangemesseheit der fortgeschrittenen militärischen Technologie der USA in diesem Kampf gezeigt. Angemessen ist diese gewaltige Vernichtungsmaschine nur im zynischsten Sinn einer Eskalation der totalen Vernichtung. Das neue Stadium der vietnamesischen Revolution definiert sich durch diese Gefahr. Es könnte die Antwort des US-Imperialismus auf den bisher erfolgreichsten Kampf der südvietnamesischen Revolution in der Ausrottung des vietnamesischen Volkes bestehen. Der erfolgreiche Widerstand des vietnamesischen Volkes gegen die gigantische technologische Gewaltmaschine der USA, das sozialistische Modell Kuba und die revolutionären Kämpfe der Guerilleros in Lateinamerika haben eine neue Tatsache geschaffen, und zwar die qualitativ neue weltgeschichtliche Aktualität der Revolution. Zum erstenmal in der Geschichte des Kapitalismus ist die Revolution eine global gegenwärtige und anschauliche Möglichkeit, die sich als bewaffneter Kampf — freilich nur an der Peripherie der spätkapitalistischen Zivilisation — den unterdrückten und verelendeten Ländern der Dritten Welt verwirklicht. Damit stellt sich für uns die konkrete organisatorische Frage: Gibt es über die von Marcuse allein für möglich gehaltene Solidarität der Vernunft und des Sentiments hinaus eine konkretere Basis für die Solidarisierung der Protestbewegungen in den Metropolen mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt? Wie vermittelt sich die reale weltgeschichtliche Aktualität der Revolution zu unseren Tagesaktionen der Protestbewegungen in den Metropolen?

Diese konkrete Vermittlungsbasis kann aufgezeigt werden am Modell der Anti- NATO-Kampagne. An ihr kann unser Fortschritt vom Protest zum politischen Widerstand demonstriert werden, an ihr kann die Verstrickung der westeuropäischen Länder in die — wie Che Guevara sie nannte — „Internationale des Verbrechens"konkretisiert werden. Die europäischen NATO-Länder nehmen gegenwärtig eine vor allem ökonomische Entlastungsfunktion für den US-I mperialismus wahr. Der festverankertste Stützpunkt der USA in Westeuropa, das stärkste Glied in der NATO- Kette — die Bundesrepublik — liefert ein eindringliches Beispiel. Erst kürzlich erneuerte der Vorsitzende des brutal als „Vietnam-Hilfe" bezeichneten Unterausschusses im Bundestag, Erik Blumenfeld, die volle Unterstützungszusage der Bundesregierung für Südvietnam im Jahr 1968 und darüber hinaus mit der Begründung: die südvietnamesische Regierung habe militärische Erfolge aufzuweisen, es sei ihr ebenso gelungen, die demokratischen Verhältnisse in Vietnam zu stabilisieren. Die ökonomische und militärische Entlastungsfunktion wird betrieben durch das projektgebundene Wirtschaftshilfeprogramm für die faschistische Regierung Griechenlands und die Lieferung leichter Waffen, die einem Bürgerkrieg zur Niederschlagung einer Widerstandsbewegung dort genau angemessen sind. Das Zögern der Bundesregierung auf Grund ihrer Budgetschwierigkeiten den vollen Devisenausgleich für die in der Bundesrepublik stationierten amerikanischen Truppen zu leisten, deutet allerdings auf einen ökonomischen Widerspruch zwischen dem US-Imperialismus und den spätkapitalistischen Ländern Europas. Die nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltete und durch die NATO staatlich garantierte Monopolstellung des USKapitals in der Produktion für die Vernichtung tritt in einen immer stärkeren Gegensatz zum europäischen Kapital. Darin liegt der Grund für die seit längerem sichtbare Krise der NATO, die in einem spezifischen Sinn im Bünd-

System des US-Imperialismus umfunktioniert werden soll. Diente sie einmal dem Kampf gegen die sozialistischen Länder, so hat heute der traditionelle Anti-Kommunismus jede scheinbare Evidenz verloren.

Die Nato soll umfunktioniert werden in den Kampf gegen die Sozialrevolutionären Bewegungen der Dritten Welt. Die europäischen NATO-Länder sollen die Funktion einer jederzeit einsetzbaren militärischen Reservearmee zur blutigen Zerschlagung des Sozialrevolutionären Befreiungskampfes erfüllen. Doch auf dem Boden dieses aufgezeigten ökonomischen Interessengegensatzes könnte die aktive konterrevolutionäre Funktion der europäischen Länder nur ihre gegenwärtige Stagnationskrise im kapitalistischen Verwertungsprozess stabilisieren. Und so zeigt es sich: Wenn es dem US-lmperialismus gelingen sollte, die ökonomischen Widersprüche zwischen den kapitalistischen Ländern in seinem Interesse zu lösen, dann würde im Innern der Metropolen in der Tat eine zweite Front physischen Gewaltterrors entstehen, wie sie schon jetzt in den USA sich herausbildet und wie es sich in dem Versuch der westdeutschen und Westberliner Staatsgewalt, die außerparlamentarische Opposition zum kriminellen Delikt zu erklären, sowie mit der unverhüllten Drohung der Zwangsgewalt Berlins, die politische Demonstration gegen die Mordmaschinerie der USA, die die physische Vernichtung betreiben, zu zerschlagen, anzeigt. Diese innerkapitalistische Widerspruchsebene bezeichnet die konkrete politische Solidarisierungsbasis, die konkretisiert, was Che Guevara feststellte: Sogar die Länder des alten Europa warten noch auf die Aufgabe der Befreiung. Sie sind zwar genügend entwickelt, um alle Widersprüche des Kapitalismus fühlen zu können, aber so schwach, daß sie nicht mehr dem Kurs des Imperialismus folgen oder diesen Weg anfangen können. Der Kampf für die Zerschlagung der NATO enthält also einen gleichzeitigen Kampf: den Versuch ihrer innerkapitalistischen Auflösung zu vereiteln, d.h. den Kampf gegen das nationalistische und faschistische Programm des Gaullismus, eine autonome eigene Produktion für die Vernichtung aufzugeben. Die Kampagne „Zerschlagt die NATO" enthält also, abstrakt gesehen, zwei politische Zielsetzungen: die innerkapitalistischen Widerspüche zu einer qualitativen Verbreiterung der Massenbasis, zur Bildung einer zweiten Front gegen den Imperialismus in den Metropolen auszubilden; zweitens den Versuch einer praktischen internationalen Koordination der sozialistischen Protestbewegung Westeuropas durch die gemeinsame Aktion zu erreichen. Das zweite Element konkreter Solidarisierung scheint mir die neue Qualität des politischen Kampfes zu sein, die von der revolutionären Politikder Befreiungsbewegung in der Dritten Welt vorgestellt wird. Die schon eingangs erwähnte abstrakte Gegenwart der Revolution in der Dritten Welt liefert der Protestbewegung in den Metropolen ein neues weltgeschichtliches Bezugssystem, an dem sie die Möglichkeit der Organisation einer eigenen revolutionären Politik orientieren kann. Zwar kann sich in den Metropolen der Kampf nicht als eine unkritische Übertragung der Guerillastrategie darstellen. Diese liefert aber ein Modell des kompromißlosen Kampfes, von dem die traditionelle Politik der verfestigten Institution verurteilt werden kann, von dem auf jeden Fall die faulen Kompromisse der sowjetischen Poltikik, die überall die revolutionären Befreiungsbewegungen im Stich läßt, verurteilt werden können.

Die Orientierung an der Gegenwart der Revolution in der Dritten Welt bietet also für uns die Möglichkeit, eine politische Moral der Kompromißlosigkeit herauszubilden, die ein Ansatz zur Bildung selbständiger Organisationsformen der Bevölkerung sein kann. Sie ist die Grundlage, um einen der gegenwärtigen Machtstruktur des Staates geschichtlich angemessenen Organisationstypus herauszubilden, der auf der Grundlage autonomer Initiativgruppen in den Hochschulen und Betrieben beruht. So wie das imperialistische System die Verbreiterung der sozialrevolutionären Befreiungsbewegungen — also zwei, drei, viele Vietnam — nicht ertragen könnte, so kann es im Innern der Metropolen die organisierte Selbsttätigkeit des politischen Widerstandes auf die Dauer nicht aushalten. An ihr müßten die Organisationsformen der Herrscher mit ihrer Tendenz zum totalen Institutionswesen, mit ihrer Tendenz, sich zum neuen Faschismus zu entwickeln, sich zerschlagen. Denn der kapitalistische Verwertungsprozeß beruht wie eh und je darauf, die freiheitliche Vereinigung der Individuen in der Produktion zu verhindern. Diese Verhinderung wird heute realisiert durch ein gigantisches Instrumentarium autoritärer Regierungskunst bis hin zur schlagfertigen faschistischen Zwangsgewalt. Ein gewaltiges System der Manipulation versucht, die Bedürfnisse der Individuen zu entstellen. Und ich glaube, daß wir so gegen unsere linksliberalen Kritiker von Augstein bis zu den ZEIT-Redakteuren feststellen müssen: wir sind keine revolutionären Schwärmer. Die objektiven Verhältnisse haben die Aufgabe der revolutionären Befreiung in den Metropolen längst auf die Tagesordnung gestellt. Konkrete Organisationsbedingungen, zumal zur praktischen internationalen Zusammenarbeit, lassen sich nicht abstrakt Voraussagen. Es ist aber anzunehmen, daß sich informelle Kader und Aktionszeilen bilden werden, wenn es gelingt, für die Aktionen eine gemeinsame politische Zielsetzung im gesamten Westeuropa zu finden. Und so möchte ich abschließend noch einmal zusammenfassen: Die Stufen vom Protest zum politischen Widerstand können sich nur realisieren, wenn wir im Anschluß an diesen Kongress in gemeinsamer Aktion und Zusammenarbeit mit den westeuropäischen Organisationen den Versuch machen, eine große, gemeinsame Kampagne zur Wehrkraftzersetzung der NATO-Armeen in Westeuropa zu organisieren. Wenn wir versuchen, die organisatorischen Bedingungen zu schaffen, daß wir den Kampf gegen die NATO-Stützpunkte und Niederlassungen in ganz Westeuropa aufnehmen können, wenn wir Maßnahmen treffen können gegen den Transport amerikanischen Kriegsmaterials für den Krieg in Vietnam und wenn wir schließlich Aktionen führen werden gegen die Niederlassungen der amerikanischen Rüstungsindustrie in Westeuropa. Es kommt darauf an, in solidarischer Aktion und in konkreter Solidarität mit der revolutionären Befreiungsbewegung in der Dritten Welt, den gigantischen militärischen und staatlichen Machtapparat in den spätkapitalistischen Ländern zu zerschlagen.

Hans-Jürgen KrahlDiskussionsbeitrag auf dem Berliner Vietnam-Kongress