Die Studenten als Teil des Staates: Ende der Meinungsfreiheit
Die verfasste Studentenschaft besteht aus dem allgemeinen Studentenausschuß (der Exekutive), dem Studentenparlament (der Legislative), dem Ältestenrat (dem Kontrollorgan über das Studentenparlament), den Fachschaften sowie der Universitätsvollversammlung und den Fachschaftsvollversammlungen. Das Hochschulrahmengesetz, ein Bundesgesetz, auf Grund dessen die Hochschulgesetze der Länder bis 1979 neugefaßt werden müssen, enthält über die verfasste Studentenschaft folgende Regelung:
”Das Landesrecht kann vorsehen, daß an den Hochschulen zur Wahrnehmung hochschulpolitischer, sozialer und kultureller Belange der Studenten sowie zur Pflege der überregionalen und internationalen Studentenbeziehungen Studentenschaften gebildet werden.” (§ 41 HRG)
Die einzelnen Bundesländer können somit durch ihre Landesgesetze die verfassten Studentenschaften abschaffen, bzw. nicht wieder einführen (Baden-Württemberg und Bayern); dies ist die Folge des Begriffs „kann” in diesem Paragrafen.
Eine studentische Politik gegenüber dieser Entwicklung bleibt wirkungslos, wenn sie nur aus lautstarken Protesten besteht.Ziel der folgenden Ausführungen ist, die Sprachlosigkeit überwinden zu helfen, durch die in den letzten Jahren studentische Politik gekennzeichnet war;gegen das teilweise selbst auferlegte politische Einsiedlertum, die Einrichtung in der Ausweglosigkeit. ” Gegenangriff durch Geschichte — Verteidigung der Demokratie“, dieses Motto von Joachim Schumacher soll die folgende Darstellung der Entstehung und Geschichte der verfassten Studentenschaft kennzeichnen. Im Anschluß daran werden die Konflikte um die Freiheit der Meinungsäußerung der ASten, ihre juristischen und politischen Hintergründe geschildert. Am Ende dieses ersten Teils wird in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Selbstverwaltung und der politischen Demokratie zum Thema.
Organisation und Einfluß von Scholaren und Studenten bis zum Ende des Absolutismus
Die Universität des Mittelalters wurde gebildet aus der in sich unterteilten Korporation der Scholaren, die aus ihrer Mitte den Rector wählten als den Repräsentanten der gesamten Universität. Die Korporation der Scholaren war demokratisch (genossenschaftlich) organisiert; Entscheidungsorgan war die Universitätsversammlung. Den Scholaren stand die Gerichtsbarkeit über fast alle Streitigkeiten der Mitglieder der eigenen Korporation zu. Die Scholaren hatten einen ausschlaggebenden Einfluß auf die Berufung der Lehrenden, so daß nicht die Doctoren, sondern die Scholaren als die eigentlichen Träger des Studiums galten. (1) Eine besondere Form einer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden wurde damit in demokratischer Weise verwirklicht. Mit der Entwicklung des Absolutismus wurden die demokratisch — genossenschaftlichen Ansätze an den Universitäten zuriickgedrängt; diese hatten sich allerdings in erster Linie in Italien (Bologna) und Paris durchgesetzt, in Deutschland hatten die Universitäten zu Beginn mehr den Charakter von kirchlichen Anstalten ”Im absolutistischen Staat wurden die Zusammenschlüsse der Studenten gewaltsam unterdrückt... (Der Polizeistaat .beseitigte) aus Sorge um das persönliche Wohlergehen und um das Wohl der Allgemeinheit jede individuelle Freiheit. In den Universitäten waren die Studenten als besondere Korporationen nicht mehr vertreten.“(2)
Die Burschenschaften und ihre politischen Ziele: Demokratie und Selbstverwaltung
Nach dem Ende der Freiheitskriege gegen Napoleon gelang es den aus dem Krieg zurückkehrenden Studenten, die (jedenfalls an den Universitäten) die ihnen von den Fürsten versprochenen Freiheiten verwirklichen wollten, sogenannte ‘Burschenschaften’ einzurichten. Die Burschenschaften sollten alle Studenten umfassen und so eine studentische demokratische Selbstverwaltung bilden. Die ‘Allgemeine Deutsche Burschenschaft’ forderte, es müsse “ein rechtlich bestimmtes, die Gesamtheit der Studenten vertretendes Verhältnis zu den Behörden” geschaffen werden und “die innere gewissermaßen polizeiliche Verwaltung der Gesellschaft, soweit sie nicht in den eigentlichen Rechtszustand eingreift, den Studierenden selbst überlassen” bleiben (3). Die Staaten des deutschen Bundes erfüllten diese Forderung nicht; der 1819 auf der Bundesversammlung vorgetragene Vorschlag, “der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft eine förmliche Organisation zu geben und sie als selbständige Körperschaft unter obrigkeitliche Leitung zu stellen” (4), fand keine Mehrheit. Verglichen mit dem auf der Bundesversammlung vorgetragenen Vorschlag zeigt die Formulierung der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft schon den Unterschied zwischen der von den Studenten gewollten demokratischen Selbstverwaltung und der ihnen angebotenen “Körperschaft unter obrigkeitlicher Leitung”. Die Karlsbader Beschlüsse, die antidemokratische Politik Metternichs, kurz, die Restauration gegen die Bedrohung der bürgerlich-monarchistischen Staaten durch eine entstehende demokratisch-revolutionäre Bewegung mit zum Teil proletarischem Charakter machten alle Versuche der Studenten während des 19. Jahrhunderts, sich eine politische Gesamtvertretung der Studentenschaft zu schaffen, zunichte.
Entstehung und Anerkennung der Studentenschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts
Die Studentenschaften in der heutigen Form entstanden nach dem ersten Weltkrieg aus den Selbsthilfeorganisationen, die von den ‘freien Studentenschaften’, einer studentischen Bewegung mit pazifistischen und liberalen bzw. antibürgerlichen Zielen, zwischen 1905 und 1915 eingerichtet worden waren. (Es gab allerdings vereinzelte Vorläufer, zum Beispiel den AStA der Technischen Hochschule Darmstartt, der 1895 gegründet wurde.) Selbständige und demokratische Vereinigungen dieser Art bildeten sich nach 1918 auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Sie waren Ausdruck eines neu entstandenen demokratischen, republikanischen und sozialistischen Bewußtseins, das sich gesamtgesellschaftlich in der Novemberrevolution, den Märzkämpfen der Arbeiter im Ruhrgebiet und der (unvollständigen) Durchführung der bürgerlichen Revolution zu Beginn der Weimarer Republik auswirkte.
Der Zusammenschluß der Studenten in allgemeinen Studentenausschüssen und in den Studentenschaften barg jedoch zwei Tendenzen:
a) den aus dem gemeinsam erfahrenen Kriegselend entstandenen Wunsch, sich an der Universität in Form einer demokratischen Gemeinschaft zu organisieren;
b) eine akademisch-ständische Bewußtseinshaltung, die für reaktionäre und konservative Strömungen offen war.
In der Studentenschaft wurden die Kriegserfahrungen ambivalent verarbeitet: in Richtung eines genossenschaftlich-demokratischen Nationalbewußtseins und eines völkisch-ständischen Patriotismus. Die Studentenschaften wurden im wesentlichen von den Corps und Burschenschaften getragen, die größtenteils radikal antisozialistisch eingestellt waren. Demokratische oder sozialistische Gruppen waren eine verschwindend kleine Minderheit; sie wurden im Zuge der ab 1924 zunehmend nationalsozialistischen Orientierung der Mehrheit der Studenten verfolgt — etwa ab 1929.
Am Anfang der zwanziger Jahre wurden die Studentenschaften als öffentlich-rechtliche Körperschaften staatlich anerkannt. Wesentlich war das ein Ergebnis der “staatstragenden” Haltung der Studenten, die sich sowohl in ihrer Kriegsteilnahme als auch in der teilweisen Rekrutierung der berüchtigten Freicorps aus Studenten ausdrückte (Die Freicorps unterdrückten grausam und blutig die Versuche der Arbeiter, im Anschluß an die Novemberrevolution eine weitgehende Demokratisierung der Gesellschaft und der Betriebe durchzusetzen.) Die Anerkennung der verfassten Studentenschaften hatte zur Folge, daß die Beitragserhebung gegenüber jedem immatrikulierten Studenten staatlich legitimiert war. Zugleich konnte jeder immatrikulierte Student an den Wahlen zum Studentenparlament teilnehmen. Das Studentenparlament wählte dann den AStA.
Die Zerstörung der Studentenschaften durch den Nationalsozialismus
Zwischen 1923 und 1928 setzten sich in fast allen Studentenschaften die Mitglieder des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes durch und stellten daher auch die ASten. Die nationalsozialistischen Studenten begrenzten die Mitgliedschaft in der Studentenschaft auf Studenten mit ‘arischer Abstammung’. Damit war von ihnen praktisch die allgemeine und gleiche (automatische) Mitgliedschaft (rechtlich: ‘Zwangsmitgliedschaft’) aufgehoben worden. Der Versuch der demokratisch-liberalen Parteien im preußischen Landtag, die Studenten zur Aufhebung des ‘völkischen Organisationsprinzips’ zu zwingen, scheiterte “Unter dem Druck einer Landtagsmehrheit”, heißt es in der erweiterten SDS-Hochschuldenkschrift von 1965 (5), “stellte der preußische Kultusminister Becker die Studentenschaften vor die Alternative, entweder das völkische Organisationsprinzip aufzugeben oder als Zwangszusammenschluß aufgelöst zu werden. Mit Ausnahme der Studenten der Kirchlichen Hochschule in Braunsberg entschieden sich sämtliche Studentenschaften gegen die Aufgabe des ‘Volksbürgerprinzips’ und bestanden fortan als freie Studentenschaften weiter. Die Beiträge wurden auf formeü freiwilliger Basis weiter erhoben.” Die religions- und rassenunabhängige, auf dem Gleichheitsprinzip beruhende Mitgliedschaft aller Studenten in der verfassten Studentenschaft wurde so von den nationalsozialistischen Studenten schon vor 1933 aufgelöst und die Studentenschaften auf diese Weise in Richtung auf eine faschistische Korporation hin entwickelt. Die Gleichschaltung der Studentenschaften wurde somit vor 1933 vollzogen. Die Hochschulen und Universitäten, an denen sich vor 1933 die liberale Fraktion gegen die nationalsozialistische durchsetzte, behielten die demokratische, an keine rassischen oder politischen Merkmale anknüpfende Struktur der Zwangsmitgliedschaft bei; die Homogenität der Studentenschaft und die Gleichheit der demokratischen Teilhabe an den Entscheidungen der Studentenschaft blieb so für alle Studenten gewährleistet. Nach 1933 wurde zwar an allen Hochschulen unter der Nomenklatur “Zwangsmitgliedschaft” eine verfasste Studentenschaft wieder eingerichtet, aber in Wirklichkeit bedeutete dies die Zerstörung aller demokratischen Elemente innerhalb der verfassten Studentenschaften, da alle “Nichtarier” von der Mitgliedschaft ausgeschlossen wurden und Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten wie “Nichtarier” vom Studium ausgeschlossen, ermordet, verhaftet oder zur Emigration gezwungen wurden. Die Studentenschaften wurden in faschistische, autoritär geleitete Korporationen verwandelt, in denen das ‘Führerprinzip’ eingeführt wurde: Berufung des ‘Führers’ auf ein Jahr durch den jeweils letzten Führer unter Zustimmung des Gesamtverbandes der Deutschen Studentenschaft; letztere wurde gebildet, indem alle studentischen Verbände dem Führer des Nationalsotialistischen Deutschen Studentenbundes unterstellt wurden (§5 Absatz Iderwürttembergischen “Verordnung des Kultusministeriums über die Bildung von Studentenschaften an den württembergischen Hochschulen” vom 1.5.1933 z.B.). Man fällt auf den rechtlichen Schein der oberflächlichen Übereinstimmung der Satzungsbestimmungen in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der BRD hinsichtlich der Zwangsmitgliedschaft herein, wenn man eine Gleichheit der Strukturen der verfassten Studentenschaften in diesen Gesellschaftssystemen annimmt. Die wesentliche rechtliche und politische Struktur und damit der Inhalt der Einrichtung der verfassten Studentenschaft ist so nicht mehr zu verstehen. Die demokratischen Elemente politischer Institutionen lassen sich dann von den Merkmalen faschistischer Hierarchien nicht mehr unterscheiden. Entgegen dem formal-rechtlichen Schein der Gleichheit waren die verfassten Studentenschaften während des Nationalsozialismus das genaue Gegenteil der verfassten Studentenschaften der Weimarer Republik und der Bundesrepublik.
Die nationalsozialistischen Studentenschaften aus der Sicht der CDU
Die nationalsozialistischen Studenten lösten die verfassten Studentenschaften auf, weil sie “Nichtarier” nicht in der Studentenschaft dulden wollten. Die CDU/CSU will die verfassten Studentenschaften auflösen, weil sie Marxisten, Sozialisten und Linksliberale nicht in den ASten dulden will. Damit erinnert die Art, wie die CDU/ CSU die verfassten Studentenschaften auflösen will und wie sie es begründet, an die Politik des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes. Auf diesem Hintergrund erscheint eine Presseerklärung des niedersächsischen Kultusministeriums in neuem Licht:
“Als ein unbewältigtes Relikt aus der Nazizeit und systemwidriges Organisationsprinzip einer modernen Universität hat der Staatssekretär im Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Prof. Dr. Axel Freiherr von Campenhausen die als Zwangskörperschaft organisierte Studentenschaft bezeichnet und zugleich gravierende verfassungsrechtliche Bedenken bei Übernahme derartiger Regelungen in das neue Niedersächsische Hochschulgesetz angekündigt.” (6)
Prof. Dr. Axel FreiherrvonCampenhausen unterscheidet nicht zwischen demokratischen und faschistischen Institutionen; ob aus Unkenntnis der rechtlichen Zusammenhänge oder aus Böswüligkeit läßt sich angesichts dieser Presseerklärung (vom 9.1977) nicht mit letzter Sicherheit sagen. Ein Indiz mag sein, daß der baden-württembergische Ministerpräsident in der letztenZeit Ähnliches behauptete.
Die Wiedereinführung der verfassten Studentenschaften nach 1945
Nach 1945 wurden die verfassten Studentenschaften von den Alliierten (West) wieder eingerichtet und die “Richtlinien für den Wiederaufbau demokratischer Studentenvertretungen” erlassen. In der Begründung dieser Maßnahme wurde ausdrücklich daraufhingewiesen, daß dadurch unter anderem die verheerenden Konsequenzen der Auflösung der verfassten Studentenschaften durch den Nationalsozialistischen Studentenbund vermieden werden sollten. Die Wiedereinführung geschah erkennbar in der Absicht, der zum größten Teil antifaschistisch eingestellten studentischen Jugend die Möglichkeit für eine Politik der demokratischen Erneuerung der Universitäten (im Sinne der Alliierten) zu geben. Die Grundstruktur der verfassten Studentenschaft — jeder Student erwirbt durch seine Immatrikulation automatisch die Mitgliedschaft in der Studentenschaft der betreffenden Universität oder Hochschule (mit dem Recht der politischen Selbstbestimmung im Rahmen der demokratischen studentischen Selbstverwaltung und der Pflicht zur finanziellen Unterstützung der eigenen politischen Vertretung), diese Grundstruktur wurde als eine Garantie der politischen Demokratie, der Gleichheit und der politischen Souveränität der Studentenschaft wieder eingerichtet.
Die im Folgenden gegebene Übersicht über die politischen Aktivitäten einzelner Studentenschaften und der VDS bis zu Beginn der Studentenbewegung zielt im wesentlichen auf die Frage, ob und in welchem Umfang die verfassten Studentenschaften sich zu politischen Fragen geäußert haben ; die Frage spielt in der Auseinandersetzung um Beibehaltung oder Abschaffung der verfassten Studentenschaft eine entscheidende Rolle. Es geht um das Maß an Meinungsfreiheit, das den Studentenschaften damals zur Verfügung stand.
Politische Aktivität der Studentenschaft von 1945 - 1967
Die ASten entfalteten zwischen 1945 und 1960 eine rege politische Tätigkeit (schon zu dieser Zeit in den Großstädten stärker als in Hochschulen der Provinz). Diese reichte weit über ihre hochschulpolitische Arbeit hinaus. Zum Beispiel schickte der AStA der Universität Köln zu Beginn des Jahres 1949 eine Resolution an die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion,inder er „für die Einführung des Mehrheitswahlrechtes im deutschen Bundesstaat” eintrat. Der damalige Justiz- und Kultusminister der CDU/CSU Dr. Adolf Süsterhenn schrieb daraufhin einen Dankesbrief an den AStA und die Studentenschaft der Kölner Universität;
„....bestätige ich den Empfang ihrer Resolution.... Meine Fraktion hat sich gleichfalls vom Beginn der Bonner Beratungen an für den Gedanken des Mehrheitswahlrechtes eingesetzt, weil sie darin einen wesentlichen Faktor zur Gesundung des politischen Lebens und zur Stabilisierung der Demokratie erblickt.... Die CDU/CSU bedauert die Entscheidung, die der Parlamentarische Rat in seiner heutigen Sitzung gefällt hat, weil dadurch die Entfaltung einer gesunden Demokratie gefährdet erscheint. Jedoch wird die CDU/CSU den Kampf für den Gedanken des Mehrheitswahlrechtes auch im kommenden Volkstag weiterführen und würde sich freuen, wenn die junge akademische Generation diesen Kampf auch wie bisher in der Öffentlichkeit unterstützen würde.”
Die VDS nahmen zur Frage der Wiederaufrüstung Stellung, verurteilten anläßlich zunehmender antisemitischer Ausschreitungen zu Beginn der fünfziger Jahre Antisemitismus und Nationalsozialismus, arbeiteten in der Aktion „Friede mit Israel” mit und verhielten sich in ihrer politischen Praxis gemäß dem Schlußwort des Rektors der Freien Universität Berlin, das er auf dem 2. Deutschen Studententag in Berlin vortrug:
„Betrachten Sie es als Ihren Auftrag, mit Hilfe Ihres Wissens das Gewissen des deutschen Volkes zu verkörpern.” Die Studentenschaften der einzelnen Hochschulen veranstalteten alljährlich Schweigemärsche, Fackelzüge, Demonstrationen und Gedenkfeiern zum 17. Juni. In diesem Zusammenhang schickte der Bundesminister des Innern, Dr. Schröder am 23. April 1954 ein Schreiben an die VDS und andere Jugendorganisationen:
„Um den Brüdern und Schwestern in der sowjetischen Besatzungszone unsere Verbundenheit mit ihnen zu zeigen, genügen aber offizielle Feiern und Schulveranstaltungen nicht. Der Tag der deutschen Einheit kann seine Bedeutung nur erhalten, wenn er wesentlich von der deutschen Jugend getragen wird. Ich wäre deshalb dankbar, wenn durch alle Verbände, in denen die deutsche Jugend sich zusammengefunden hat, am Abend des 16. Juni gemeinsame Veranstaltungen aus Anlaß des Tages der deutschen Einheit (Kundgebungen, Fackelzüge) durchgeführt werden würden. Ich habe die Herren Ministerpräsidenten der Länder gebeten, die Landesbehörden anzuweisen, solche Veranstaltungen zu unterstützen. Ich habe gegenüber den Herren Ministerpräsidenten ferner zum Ausdruck gebracht, daß ich es begrüßen würde, wenn in den Orten mit Hochschulen die Studentenschaften sich an den Veranstaltungen...beteiligen würden.”
Die politischen Stellungnahmen des VDS und der ASten zeigen, daß die verfassten Studentenschaften sich “ihrer politischen Verantwortung bewußt waren” (der erste Vorsitzende der VDS 1958). Es schien unumstritten, daß “der VDS das Recht und die Pflicht hat, politische Stellungnahme abzugeben” (so ein VDS-Beschluß von 1956). In der 1974 erschienen Geschichte der Freien Universität (7) ist unter dem Datum des 31. Oktober die folgende Chronik verzeichnet:
„Invasion Ägyptens durch britische und französische Fallschirmjägereinheiten nach massierten Luftangriffen von Düsenbombern zum ‘Schutz der Schiffahrt vor Kampfhandlungen zwischen Israel und Ägypten’.
Die Rote Armee räumt Budapest.
‘Solidaritätskundgebung für die ungarischen Freiheitskämpfer’ des FU-AStA. Im Auditorium maximum der FU sprechen Willy Brandt, Prof. Hofer von der Hochschule für Politik und Dr. Karl Silex,Chefredakteur des ‘Tagesspiegel’.”
Der AStA äußerte sich nicht zur Invasion in Ägypten, führte jedoch bald darauf eine Sammlung für die ‘Freiheitskämpfer in *Der AStA der Frankfurter Universität führte eine Geldsammlung zugunsten der Ungarnflüchtlinge durch, nachdem dies von einer Vollversammlung (ca. 400 anwesende Studenten!) beschlossen worden war.
Über den Zusammenhang der Invasion Ägyptens mit der Räumung Budapests sowie dem erneuten Einschreiten der Roten Armee schreibt David Horowitz: „Am 29. Oktober wurde bekanntgegeben, daß die sowjetischen Truppen aus Budapest abziehen würden... Aber die Revolution ging weiter... Nagy schwamm mit dem Strom und erweiterte sein Kabinett um einige Vertreter der alten Parteien... Er schaffte das Einparteiensystem ab und kündigte an, daß freie Wahlen folgen würden. Dies geschah am 30. Oktober um 13.28 Uhr. Drei Stunden später wurde Israel und Ägypten ein britisch-französisches Ultimatum als Vorwand für eine bewaffnete Intervention übermittelt, um erneut den Suezkanal zu besetzen. ...Im Zusammenhang mit diesem Ereignis änderten die Sowjets ihre Haltung völlig. Erneut wurden russische Truppen nach Ungarn entsandt, und Mikojan traf abermals in Budapest ein, diesmal jedoch, um Nagy zu stürzen und eine Majonettenregierung unter JanosKadar einzusetzen.” (Kalter Krieg. Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam. Bd. 2. Berlin 1969 S. 54 f.)
Der (studentische) Konvent beauftragte den AStA, Schritte zu unternehmen, damit gegenüber dem sowjetischen Ehrenmal in der Straße des 17. Juni ein ‘Gedenkzeichen an den Volksaufstand in Ungarn’ aufgestellt werde. (8)
Auf dem sechsten Deutschen Studententag (1960) sagte Willy Brandt zu einer der zur Debatte stehenden Thesen — “Mehr Mut zur Politik” —: „Gestatten Sie mir zu sagen, daß es weder befriedigend noch beruhigend ist, wenn die Sprecher der akademischen Jugend es für nötig halten, den Mut zur Politik zu fordern. Die Pflicht zur Politik würde mir persönlich mehr Zusagen.” Das Thema dieses Studententages war “Abschied vom Elfenbeinturm”.
Die Beurteilung der politischen Aktivität der Studentenschaft durch Politiker, Verwaltung, Öffentlichkeit und den überwiegenden Teil der Professorenschaft änderte sich in dem Maße, wie die ASten sich zu politischen Themen äußerten, die der den Adenauerschen ‘CDU-Staat’ kennzeichnenden Integrations- und Restaurationspolitik widersprachen: Am 14. Februar 1962 lehnte der damalige Rektor der Freien Universität Berlin Prof. Dr. Emst Heinitz eine Solidaritätssammlung für algerische Flüchtlinge und Studenten, die der AStA durchführen wollte, ab (9). Der gleiche Rektor erteüte am 8. Juni 1962 eine Erlaubnis für eine ‘Solidaritätssammlung für die Kommilitonen in der sowjetischen Besatzungszone’ (10). Der AStA-Vorsitzende schrieb daraufhin in der Studentenzeitung FU-Spiegel im Juni 1962: „Es besteht Anlaß zu der Annahme, daß mit verschiedenen Maßstäben gemessen wird.” Der Rektor der FU warf dem AStA „fehlende Bereitschaft zur sachlichen Zusammenarbeit” vor (11). Diese Kontroverse markiert den eigentlichen Beginn der Diskussion über das sogenannte politische Mandat.
(Das Recht der Studentenschaften, zu allen politischen Fragen Stellung zu beziehen, war vorher nie wesentlich in Frage gestellt worden. Heute läßt sich daher nicht mehr sagen, wie Gerichte und Juristen sich entschieden hätten, wenn 1953 oder 1956 ein Student gegen die ASten geklagt hätte, die damals die gewaltsame Unterdrückung der Volks- bzw. Arbeiteraufstände in der DDR und in Ungarn anklagten 3 Die politisch und juristisch entscheidende Auseinandersetzung um die Freiheit der Meinungsäußerung der Studentenschaften fand nach der Erschiessung Benno Ohnesorgs statt: Der AStA der Universität Tübingen schickte ein Telegramm an den regierenden Oberbürgermeister von Berlin, Heinrich Albertz und forderte ihn darin zum Rücktritt auf. (Albertz trat im gleichen Jahr zurück, die politischen Kontroversen um das Verhalten der Polizei beim Schahbesuch und die Erschießung Ohnesorgs mögen dazu beigetragen haben.) Ein Tübinger Student klagte gegen den AStA, dieser habe nicht das Recht solche Äußerungen abzugeben. Der Tübinger AStA wurde in einem Verfahren durch alle drei Instanzen bis hin zum höchsten Verwaltungsgericht der Bundesrepublik verurteüt, nicht hochschulbezogene Äußerungen zu unterlassen. Die Gerichte beurteilten dabei die Berechtigung der Studentenschaft, sich politisch zu äußern, nach der im folgenden dargestellten Theorie, die noch nie in einem Urteü gegen eine Studentenschaft angewendet worden war.
Die Rechtssprechung zum politischen Mandat
Die Urteile besagten, die verfassten Studentenschaften seien Körperschaften des öffentlichen Rechts. Eine solche Körperschaft könne nur vom Staat eingerichtet bzw. anerkannt werden. Diese staatliche Einrichtung der Studentenschaft mache sie zu einem Verband, der nur die Aufgaben wahmehmen dürfe, für die ihm gesetzlich oder satzungsgemäß vom Staat eine Kompetenz verliehen worden sei. Die Studentenschaft sei damit eine Instanz der mittelbaren Staatsverwaltung und wie jede andere staatliche Verwaltung strikt an die ihr erteilten Kompetenzen gebunden, wenn sie handele. Die Kompetenzen, die den Studentenschaften erteilt seien, beschränkten sich jedoch auf die Äußerung zu hochschulbezogenen Problemen. (Diese Theorie setzte voraus, daß die Tätigkeit der verfassten Studentenschaft genausogut von einer Verwaltungsbehörde wahrgenommen werden könne und daß, auch wenn die Studentenschaften so organisiert seien, keine Rechtsverletzung der Studenten vorliege.) Politisches Mandat, dJi. Meinungsäußerungen zu nicht direkt hochschulbezogenen Fragen, und Zwangskörperschaft seien nicht miteinander vereinbar. Die Teilnahme einer Körperschaft des öffentlichen Rechts am politischen Willensbildungsprozess des Volkes verletze den Grundsatz der Staatsfreiheit eben dieser Willensbildung und sei unvereinbar mit dem Prinzip der staatsbürgerlichen Repräsentation innerhalb eines parlamentarischen Systems.
Diese Theorie der Gerichte wurde durchweg zur herrschenden Meinung in der Rechtswissenschaft. In den letzten acht Jahren wurden die ASten in der Bundesrepublik in hunderten von Verfahren dazu verurteilt, politische Äußerungen # die nicht rein hochschulbezogen sind, zu unterlassen . (Zwar ließen sich oft die Grenzen zwischen ‘hochschulbezogen’ und ‘allgemeinpolitisch’ micht genau ziehen; in den meisten Fällen wurden dann dennoch die ASten verurteilt.) Der Hessische Verwaltungsgerichtshof verschärfte seine Rechtssprechung im Laufe der Zeit, so daß 1975 gegen den AStA der Universität Frankfurt der folgende Beschluß gefaßt wurde, der als Standardformulierung die entsprechenden Entscheidungen dieses Gerichts ziert:
„Der AStA kann sich zur Rechtfertigung für die Ausübung des politischen Mandats insbesondere nicht auf § 27 Abs. 2 Nr. 5 und 6 des Hessischen Hochschulgesetzes berufen. Nach § 27 Abs. 2 Nr. 5 HHG obliegt dem AStA zwar die Aufgabe der ‘Förderung der politischen Büdung und des staatsbürgerlichen Verantwortungsbewußtseins der Studenten’. Die ‘Förderung’ dieser Ziele durch den AStA berechtigt ihn aber nicht zur Abgabe allgemeinpolitischer Erklärungen, Forderungen und Stellungnahmen. Nach dem Gesetzestext (‘Förderung’) darf die Studentenschaft lediglich dafür sorgen, daß die von den verschiedenen politischen Gruppierungen in Staat und Gesellschaft vertretenen Vorstellungen die Studenten auch erreichen. Sie ist hierbei aber zur größtmöglichen Zurückhaltung verpflichtet und darf bei der Organisation pollitischer Veranstaltungen weder mit der Auswahl oder der Formulierung der Themen noch mit der Verpflichtung der Referenten ein eigenes politisches Engagement erkennen lassen.”
Daß das Recht der Studentenschaften in der bundesrepublikanischen RechtswissenSchaft so verändert wird, wie es konservativen Konzepten entspricht, ist eine Erscheinung, die schon in der Zeit zwischen 1933 und 1945 in der deutschen Rechtswissenschaft häufig anzutreffen war. Für solche Entwicklungen haben Rechtswissenschaftler den Begriff “Rechtsfortbildung” entwickelt; er verdeckt, daß es sich hier um eine Rechtsrückbüdung handelt. Schon der Begriff “Demokratisierung” wirkt bei vielen konservativen Rechtswissenschaftlem panikerzeugend.*
Das politische Mandat und die verfassten Studentenschaften aus der Sicht von CDU und SPD
Mit der Begründung, die ASten hielten sich nicht an die ihnen durch die Gerichtsurteile gesetzten Grenzen, werden die Gerichts-
*Das Marburger Manifest vom 17.4.1968 zur Politisierung und sogenannten Demokratisierung der Hochschulen — unterschrieben von 1.500 Professoren — enthielt die These, daß die angestrebte studentische Mitbestimmung eines Kulturstaates unwürdig sei: Dies ergebe „die Tatsache, daß kein anderer Kulturstaat außer der BRD und der VR China auf den Gedanken kam, eine so kostbare und kostspielige Institution wie die Universität zu ‘demokratisieren’ ”.
entscheidungen von der CDU/CSU quasi als ‘gerichtliche’ Argumente für die Abschaffung der verfassten Studentenschaften ins Feld geführt. Auch bei Teilen der SPD sind diese rechtswissenschaftlichen Theorien auf fruchtbaren Boden gefallen; der hessische Kultusminister sagte 1975 im Hessischen Landtag: in einer Zeit, in der RCDS-Mitglieder in den ASten die Mehrheit hatten, da habe ich niemals von ihrer Seite — ich meine von seiten der CDU oder von irgendeiner anderen Seite — ein Wort gegen das Inanspruchnehmen des allgemeinen politischen Mandats gehört. Da haben die ASten mit der größten Selbstverständlichkeit allgemeinpolitisches Mandat für Dinge in Anspruch genommen, für Dinge, die Ihnen paßten, genauso wie hier und heute die eine oder andere Industrie- und Handelskammer allgemeinpolitisches Mandat in Anspruch nimmt... Wir müssen einmal gerade rücken, auch hier in diesem Hause, daß es nicht gebührlich ist, wenn AStASprecher sich so geileren, als seien sie die gewählten Vorstandsmitglieder einer studentischen Gewerkschaft... Sie sind die Spitze der verfassten Studentenschaft, zu der - kraft von uns geschaffenen Gesetzes — jeder Student gehört. Und sie müssen sich fragen lassen..., ob es eigentlich erträglich ist, daß die Beiträge einer Minderheit für die politischen Auffassungen einer Mehrheit verwandt werden, oder nicht.” Der Minister deutete dann die Möglichkeit an, die verfassten Studentenschaften aufzulösen, und schloß:
„Entweder machen wir Ernst mit dieser Eingrenzung, und ich bin bereit, Ernst zu machen, oder aber wir öffnen einen Freiheitsraum für politische Betätigung, aber dann unabhängig von der zufälligen Mehrheit in solchen Gremien .”(12) (Einem Bericht der FR zufolge wird der amerikanische Präsident von weit weniger als 50% aller Amerikaner gewählt, da die Wahlbeteiligung regelmäßig um 50% beträgt. Die Anwendung des Krollmannschen Rezepts hätte hier sicher interessante Ergebnisse zur Folge.)
Die Sprache kennzeichnet das Diskussionsniveau von Politikern, die sich mit allem abschließend und mit nichts gründlich befassen. Abgesehen davon zeigt der Beitrag eine weitgehende Unkenntnis der politischen und juristischen Fragen, die sich aus dem Problem der demokratischen Selbstverwaltung in Form öffentlich-rechtlicher Körperschaften ergeben .“Zufällige Mehrheiten”, die durch demokratische Wahlen zustande kommen, das ist das gleiche Argument, das nationalsozialistische Theoretiker schon gegen demokratisch-parlamentarische Einrichtungen der Weimarer Republik gebrauchten. SPD-Politiker geben so ein Prinzip preis: das der studentischen Demokratie, gegen das die CDU/CSU opponiert, seitdem die ASten mehrheitlich von linken Studentengruppen gestellt werden. Der hessische Kultusminister rückt in die Nachbarschaft des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, der zur von ihm beabsichtigten Abschaffung der verfassten Studentenschaft erklärte: „Wenn es uns gelänge, mit dem RCDS, der Jungen Union oder der Schüler-Union die ASten zu besetzen, wäre die Lage anders.” (13)* Die Sympathisanten müßten so in die Ekke gedrängt werden, daß sie sich nicht mehr rühren könnten.
* Ausgerechnet in Baden-Württemberg wurde zum ersten Mal eine verfasste Studentenschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts eingerichtet. Der württembergische König Wilhelm I. erließ am 2.1.1821 eine Verordnung über die Bildung eines Studentenausschusses an der Universität Tübingen. Dieser wurde von der Gesamtheit aller Studenten gewählt. Er sollte ein Organ sein, “durch welches hinreichend begründete und von ihm zuvor beratene Wünsche der Gesamtheit oder eines beträchtlichen Teils der Studierenden an die akademischen Behörden gebracht werden, und mit welchem sich diese über solche Wünsche, über die Möglichkeit ihrer Erfüllung, über die Bedingungen, die etwa dabei stattfinden müßten etc. besprechen.”(14)
Die Körperschaften des öffentlichen Rechts als Einrichtungen der demokratischen Selbstverwaltung in Preußen und Deutschland
Die Argumente für und gegen die Beibehaltung der verfassten Studentenschaft haben für die Frage der politischen Demokratie eine Bedeutung, die über den Problemkreis der Organisation der Studentenschaft hinausgeht. Das wird klar, wenn man die Entstehung und Entwicklung der politischen Selbstverwaltung in den westeuropäischen, parlamentarisch verfassten Staaten, besonders in Deutschland berücksichtigt.
Ein Endpunkt dieser Entwicklung ist für Deutschland die Theorie, die in den Urteilen zum politischen Mandat der Studentenschaft zum Ausdruck kommt. Ihr markantester Repräsentant ist Emst Forsthoff. Er sieht den Ursprung der Selbstverwaltung in der gemeindlichen Selbstverwaltung des Bürgertums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts., Die Gesellschaft, und das war der dritte Stand , das Bürgertum, betrachtete die gemeindliche Selbstverwaltung als die ihr zukommende Organisationsform und spielte sie gegen den Staat aus... Die Spannungen wurden erst um die Mitte des Jahrhunderts überwunden, als mit der allgemeinen Einführung des Konstitutionalismus das Bürgertum einen festen Platz innerhalb der staatlichen Gesamtordnung einnahm.”(l 5) In der distanzierten Sprache Forsthoffs klingt noch etwas von der Empörung über die (leider allzugeringen) demokratischen Bestrebungen des preußischen und deutschen Bürgertums nach, die schon im 19. Jahrhundert die meisten deutschen Staatsrechtslehrer empfanden.
Forsthoff steht damit allerdings nur in der Tradition der deutschen Rechtswissenschaft : schon bei Hegel wird die Ambivalenz der demokratischen Selbstverwaltung in der preußischen Gesellschaft beschrieben; die Wissenschaft gibt hier nur die Zustände der Gesellschaft wieder. Hegel bezieht im folgenden Zitat den Begriff ‘Korporation’ auf die Standesorganisationen des Bürgertums (Handwerker bzw. ähnliche Berufe): „In unseren modernen Staaten haben die Bürger nur beschränkten Anteil an den allgemeinen Geschäften des Staates; es ist aber notwendig, dem sittlichen Menschen außer seinem Privatzwecke eine allgemeine Tätigkeit zu gewähren. Diese»Allgemeine, das ihm der moderne Staat nicht immer reicht, findet er in der Korporation.“ (16) „Der Zweck der Korporation als beschränkter und endlicher hat seine Wahrheit“, fährt Hegel fort, ,Jn dem an und für sich allgemeinen Zwecke und dessen absoluter Wirklichkeit; die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft geht daher in den Staat über.“ Von Hegel bis zu Forsthoff hat das Bürgertum einen Kompromiß mit dem bürokratischen Obrigkeitsstaat zu Lasten demokratischer Entwicklungsmöglichkeiten geschlossen; „er bedeutete aber praktisch den Verzicht darauf, auch den Staat zu demokratisieren“, schreibt Ulrich K. Preuß (17). Das Bürgertum begnügte sich mit demokratischen Rudimenten auf der Ebene der Gemeindeverwaltung und der berufsständischen Organisationen.
Diese fehlende Konsequenz bei einer radikalen Verwirklichung der Demokratie kennzeichnete zwar schon die französische Revolution. „Die revolutionäre Idee des nationalen Einheitsstaats war im Grunde der örtlichen und landschaftlichen Autonomie abgeneigt; sie führte in ihrer Konsequenz dahin, die kommunalen Verbände nur als Gliederungen der einheitlichen Masse der gleichberechtigten Staatsbürger gelten zu lassen, durchaus nicht als Träger einer republikanischen Selbständigkeit und eines korporativen Eigenlebens. Die Praxis lief freilich, nachdem die alte Bürokratie zertrümmert worden war, zunächst auf fast anarchische Zustände hinaus. In der Theorie hat sich jedoch die Konstituante bemüht, die Gemeindefreiheit und ihr Eigenrecht mit jenem strengen Stattsgedanken zu versöhnen.“ (18) Der qualitative Unterschied zur preußischen und deutschen Entwicklung aber liegt in der Tatsache, daß sich das demokratische Bürgertum in Preußen und den deutschen Einzelstaaten machtmäßig nie gegen den Obrikeitsstaat und den Konstitutionalismus durchsetzte. „Das deutsche Bürgertum“, schreibt Peter von Oertzen (19), „hat nach der Reichsgründung auf die Verwirklichung seiner freiheitlichen Verfassungsideale verzichtet — es ist ‘saturiert’ und hat mit den im Staate herrschenden konservativen Kräften einen Kompromiß geschlossen, der darin besteht, daß ihm durch Erhaltung des formalen Rechtsstaats die ökonomisch-soziale Bewegungsfreiheit gesichert wird, während die eigentliche Staatsgewalt der Monarchie und dem von ihr gelenkten Verwaltungsapparat überlassen bleibt.“
Diese gesellschaftliche Entwicklung beeinflußte auch die rechtswissenschaftlichen Theorien. Die demokratischen Strukturen in der gemeindlichen Selbstverwaltung und in der Selbstverwaltung durch öffentlichrechtliche Körperschaften wurden theoretisch fast durchgehend als staatlich zugestandene und kontrollierte Rechtsinstitutionen konstruiert. Forsthoff begründet die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, besonders seit der Jahrhundertwende zunehmende Einschränkung der demokratische! Selbstverwaltungsstrukturen damit, dal (Massen)Demokratie eine Gefährdung des (vernünftigen) Status quo bedeutet hätte. Auf Grund des Wachstums der städtischen Einwohnerschaft habe es nicht mehr die für die Selbstverwaltung notwendige ,relativ homogene, relativ bodenständige und dadurch zur Gemeinschaft verbundene Bürgerschaft“ gegeben (2o).
Die rechtliche Konstruktion der Körperschaft des öffentlichen Rechts im Übergang vom Konstitutionalismus zum Faschismus
Immerhin waren sich Rechtswissenschaftler um 1900 der politischen und demokratischen Inhalte des Selbstverwaltungsbegriffs genau bewußt und betonten auch die Folgen für die Politik und die Rechtswissenschaft, wenngleich dies für die weitgehend konservativ eingestellten Professoren ein Ärgernis darstellte. So schrieb einer der angesehensten und bekanntesten Rechtswissenschaftler des Verwaltungsrechts, Otto Mayer, 1924: „Auch hier ist es die Machtfrage, die politische Frage, die den Begriff belebt . . . Gerade deshalb, weil das Politische hier so stark hereinspielt, hat die Rechtswissenschaft an dem Begriff „Selbstverwaltung“ wenig Freude erlebt. Von Haus aus handelt es sich um ein Schlagwort, das aufgekommen ist, um die angestrebte größere Selbständigkeit der Gemeinden zu bezeichnen und den Gegensatz zu ihrer hergebrachten „bureaukratischen Bevormundung“ . . . Die Selbstverwaltung bedeutet, daß diese Verwaltung von oben herunter möglichst zurückgedrängt werde zugunsten des Machteinflusses der Körperschaftsmitglieder.“ (21)
Die Körperschaft des öffentlichen Rechts im Nationalsozialismus
Diese Erkenntnisse wurden von den meisten während des Nationalsozialismus tätigen Rechtswissenschaftlem unterdrückt bzw. verdrängt: die Theorie, nach der die Studentenschaft als öffentlich-rechtliche Körperschaft ein Teil der mittelbaren Staatsverwaltung ist, wurde in wesentlichen Teilen von konservativen Rechtswissenschaftlern während des Nationalsozialismus entwickelt. Bei Forsthoff führte dann diese Theorie (nach 1945) praktisch zur Abschaffung der Selbstverwaltung: „Der Ausdruck Selbstverwaltung im politischen Sinne kommt eigentlich nur in den Definitionen vor. Hier kann er sehr wohl entbehrt werden.“ (22) Die Stellung des Staates gegenüber den Selbstverwaltungskörperschaften sei so sehr verstärkt worden, daß man ihnen keinen qualitativ eigenen Aufgabenbereich mehr zuerkennen könne. Forsthoff datiert die Krise der Selbstverwaltung auf das Ende der Weimarer Republik. „Die Staatsaufsicht erwies sich als zu eng bemessen, um einen ungesunden und zur Polykratie hinführenden Selbständigkeitsdrang der rechtsfähigen Verwaltungseinheiten zu zügeln, und die genossenschaftlichen Strukturelemente wurden die Beute eines zersplitterten und zur sachlichen Entscheidung nicht mehr befähigten Parteiwesens. Dementsprechend waren auch die zur Überwindung der I ise getroffenen Maßnahmen. Die Staatsaufsicht wurde für alle rechtsfähigen Verwaltungseinheiten (während des Nationalsozialismus, W.B.) wesentlich verstärkt . . . und die gesamte verselbständigte Verwaltung näher an den Staat herangezogen. Das bedeutete zugleich eine Zurückdrängung der durch Mißbrauch diskreditierten genossenschaftlichen (lies „zur Demokratie neigenden“ W.B.) Elemente.“ (23)
Als Ergebnis der Entwicklung seit dieser „Krise“ weist Forsthoff den Körperschaften der Selbstverwaltung einen neuen Aufgabenbereich zu, in dem sich ihre Qualitäten erst entfalten würden: den der Disziplinierung von Sozialbereichen. Als Vorbild für diese Funktion öffentlich-rechtlicher Körperschaften gelten ihm die wirtschaftlichen Zwangsverbände, die in Deutschland während des ersten Weltkrieges zur besseren Leitung und Koordination der Kriegswirtschaft gebildet wurden. „Für die Entwicklung der neueren Zeit“, stellt Forsthoff fest, „ist lediglich bemerkenswert, daß die herrschaftliche Verbandsstruktur auf Kosten der genossenschaftlichen mehr und mehr an Boden zu gewinnen scheint.“ (24) Als Beispiel für diese Entwicklung führt Forsthoff dann „die Schaffung von Leitungsverbänden, wie sie nach 1933 in großem Stil erfolgte (Reichsnährstand, Reichskulturkammer usw.)“, an. Bei Forsthoff werden die Rechtsinstitutionen und Theorien, die im nationalsozialistischen Staat entstanden sind, auf die bundesrepublikanische Wirklichkeit übertragen, indem Forsthoff ihre ausdrücklichen nationalsozialistischen Akzente und Funktionen verschweigt sowie die Rechtsformen und die Einrichtungen als politikfreie, sachlich durch ihren vorausgesetzten Zweck gerechtfertigte Konstruktionen ausgibt.
Die Rechtswissenschaft in der BRD: unter dem Überhang von preußischem Konstitutionalismus und faschistischem Etatismus....
Die große Mehrzahl der Rechtswissenschaftler in der Bundesrepublik hat sich kaum mit der Tatsache auseinandergesetzt, daß der Nationalsozialismus auch in juristischer Hinsicht den Sieg des nationalsozialistischen Systems, das heißt der gegen Sozialismus und Demokratie gerichteten Konterrevolution bedeutete und daß viele der seither forgeschriebenen Theorien die Male dieser ihrer geschichtlichen Herkunft tragen. Auf diese Weise ist eine (verborgene) Kontinuität rechtsiwssenschaftlicher Theorien vom Nationalsozialismus bis in die Rechtswissenschaft der Bundesrepublik entstanden, im Widerspruch zum parlamentarisch-demokratischen System der Bundesrepublik. Die Gerichte haben demzufolge durchgehend die Selbstverwaltungskörperschaften der Studentenschaften als mittelbare Staatsverwaltung eingeordnet. Damit werden eigentlich kollektiv handelnde Körperschaften des öffentlichen Rechts, denen die öffentlich-rechtliche Qualifikation durch staatliche Anerkennung zuteil geworden ist, zu Staatsorganen gemacht,um siebesser disziplinieren zu können.
In der Geschichte der Bundesrepublik findet sich schon sehr früh ein Beispiel für dieses Verfahren: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1958 über die Volksbefragung zur Atombewaffnung. Die Hamburgische und die Bremer Bürgerschaft (SPD-Regierungen) hatten ein Gesetz über eine in ihren Stadtstaaten durchzuführende Volksbefragung zur Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen verabschiedet. Das Bundesverfassungsgericht entschied, daß die Gesetze nichtig seien, weil das Volk bei einer Volksbefragung zwar nicht über die Atombewaffnung entscheide, aber doch als Staatsvolk handele. Die Teilnahme eines Bürgers an einer Volksbefragung sei nicht nur Betätigung seines Rechts auf Teilnahme am Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung; vielmehr handele der Bürger in dieser Form als Staatsbürger, da die Abstimmungin Form, Bedeutung und Durchführung Wahlen ähnele. „In dieser Eigenschaft“, führte das Bundesverfassungsgericht aus, ,flacht der Bürger nicht von seinem gegen den Staat gerichteten Grundrechten der freien Meinungsäußerung oder des Petitionsrechts Gebrauch.“ (25) Das Tätigwerden eines Staatsorgans sei aber“ ... — gleichgültig in welcher Form und mit welcher Wirkung es geschieht — im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat durch Kompetenznormen verfassungsrechtlich begrenzt.“(25) Im Grundgesetz ist keine Kompetenz des „Staatsvolks“ zu kollektiver Meinungsäußerung in Form einer Volksbefragung aufzufmden. So wurde in dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die ganze Bevölkerung der Bundesrepublik aus der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Staatsorgan erhoben — zwecks Disziplinierung.
. .. . und die Konsequenz für die politische Auseinandersetzung um die verfasste Studentenschaft
Entscheidend für eine Bekämpfung dieser Tendenzen ist die Kenntnis der im Ansatz geschilderten historischen Entstehung der deutschen „Verstaatlichungskrankheit“. Nur dann sind diese Tendenzen als notwendiges Produkt nicht der Verfassung und der Gesetze der Bundesrepublik, sondern der politischen Strömungen und Kräfte zu begreifen, die die entsprechenden Rechtstheorien im politischen Leben der Bundesrepublik durchgesetzt haben; auf dieser Ebene ist die Etatisierung der verfassten Studentenschaft anzugreifen. Helmut Ridder hat dies deutlich hervorgehoben: “Es muß klar gesehen werden, daß der antigesellschaftliche deutsche Verstaatlichungstumor nicht so schlichtweg auf dem Holz des Kapitalismus wächst (der ihn sicher gerne pflegt und metastasieren läßt), sondern auf dem ewig frischen des überwältigenden konstitutionellen Überhangs, das heißt auf dem einzigartigen Zerbrechen der bürgerlichen Revolution ...(in Deutschland W.B.). Andere nichtfaschistische bürgerliche Demokratien in Europa kennen dergleichen nicht. Sie sind ... zumindest im zentralen Gegenstandsbereich, der ungehinderten gleichen Partizipation aller am politischen Prozeß der Meinungsbildung, mehr Sozialstaat als die Bundesrepublik Deutschland.“ (26)
Zusammenfassung
1. Die Studentenschaft hat sich demokratische Selbstverwaltungsorgane geschaffen. Diese Organe wurden zur Zeit ihrer Enstehung als Demokratisierung eines gesellschaftlichen Teilbereichs gegen eine obrigskeits- und polizeistaatliche Regierung begriffen.
2. Der Staatsapparat der Weimarer Republik hat diese Selbstorganisation der Studenten anerkannt und zwar im wesentlichen in den Formen, durch die die verfasste Studentenschaft noch heute in rechtlicher Hinsicht charakterisiert wird
3. Der Nationalsozialismus beseitigte die Zwangsmitgliedschaft aller Studenten in der verfassten Studentenschaft, da für ein autoritäres Gesellschaftssystem homogene und demokratisch organisierte Selbstverwaltungskörperschaften einen Widerspruch zur angestrebten totalitären Diktatur bedeuten
4. Die Studentenschaften der Bundesrepublik wurden zunehmend politisch diszipliniert, seitdem sie eine demokratische bzw. sozialistische Politik verfolgten.
5.Die dabei verwendeten Argumentationen und Theorien stammen aus der noch heute teilweise obrigkeitsstaatlichen deutschen Rechtswissenschaft, die unter dem Nationalsozialismus eine nochmalige “Reinigung“ von demokratischen Elementen und eine Verfestigung der traditionell antidemokratischen Strukturen erfuhr. An diese Tradition wird in den letzten Jahren in vielen Entscheidungen der höchsten Gerichte und in den Theorien mancher Rechtswissenschaftler wieder angeknüpft.
Wolfgang Bock
Anmerkungen:
(1) Denifle, Die Universitäten des Mittelalters bis 1400. Bd. 1 Berlin 1885 S 197 ff. — z. B. verpflichteten die Scholaren der Universität von Bologna den berühmten Juristen Guido de Suzaria vertraglich, ihnen für 300 Lire jährlich außerordentliche Vorlesungen zu halten.
(2) Bartsch, Die Studentenschaften in der Bundesrepublik Deutschland, (Diss.) Köln 1968. S. 11 f
(3) Wentzcke, Geschichte der Deutschen Burschenschaft. Bd. 1 Heidelberg 1919 S. 351
(4) Bartsch a.a.O. S. 13
(5) Nitsch/Gerhard/Offe/Preuß, Hochschule in der Demokratie. Neuwied/ Berlin 1965 S. 417 f
(6) Presseinformation des Niedersächsischen Ministers für Wissenschaft und Kunst Nr. 72/77 v. 6.9.1977 S.l
(7) Fichter/Lönnendonker (Hrsg.) Freie Universität Berlin 1948-1973 Hochschule im Umbruch (Teil 11 19491957) Berlin 1974
(8) Fichter/Lönnendonker a.a.O. S. 35 (8.11.1956)
(9) Fichter/Lönnendonker (Teil 111 19571964) Berlin 1974 S. 42
(10) a.a.O. S. 46 (11)a.a.O.
(12) ^Stenografischer Bericht über die Sitzung des Hessischen Landtags vom 28.1 1.1975 S. 1219 f.
(13) Süddeutsche Zeitung vom 13.9.1977
(14) Süddeutsche Zeitung vom 10./11.9. 1977 S. 11; Bartsch a.a.O.
(15)Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts Bd. 1, Allgemeiner Teil München/Berlin 1958 7.Aufl. S. 413
(16) Hegel, Werke in 20 Bänden. Frankfurt/M. 1970. Bd. 7 Rechtsphilosophie Zusatz zu § 254. S. 396 f.
(17) Zum staatsrechtlichen Begriff des Öffentlichen. Stuttgart 1969 S. 129
(18) Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1969 S. 57
(19) Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus. Frankfurt/M. 1974 S. 322
(20) Forsthoff a.a.O. S. 414
(21) Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. II München/Leipzig 1924 3. Aufl. S. 357
(22) Forsthoff a.a.O. S. 415
(23) a.a.O. S. 418
(24)a.a.O. S. 428
(25) Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Bd. 8 S. 104
(26) Die soziale Ordnung des Grundgesetzes in: J. Mück (Hess. Verfassungsrecht. Opladen 1975 (Bd. 5 der Bad Wildunger Beiträge zur Gemeinschaftskunde) S. 131