Die Stiefel des Vaters
Aus dem Inneren der Wohnung dröhnt der Krawall eines Spielmannzuges, einen Marsch schmetternd, trampelnd, unverwüstlich und jeden der hinzukommt hinauswerfend, eine militante Strapaze für Ohren und Gedächtnis, eine monarchistische Gehirnwäsche, die dem Vater unaufhörlich durch den Kopf geht. Erzieht ausgedehnte Kreise durch die Wohnung hinaus an den Vorgärten vorbei in die Felder hinein über die Wiesen weiter hinunter in den Eichwald hinaus über das Sumpfgelände nach Kronthal zum Hardberg zum Grand Hotel abwärts nach Mammolshain über das süße Gründchen wieder in die Wohnung hinein zum Plattenspieler, bergauf, berab ein unermüdlicher Schritt mit Stock, Hut und Regenmantel, der ihn verhüllt, ein Gummimantel grau wie ein Soldatencape, lang bis zu den Füßen und immer im Takt geradeaus, querfeldein: der Radetzkymarsch. Das Gepfiffe des Vaters quillt aus seinem gealterten Gesicht. Er rennt davon. Wer ist hinter ihm her? Der Vater legt die Platte auf, geht zum Schuhschrank und schaut sich die vierundzwanzig weißen Schuhkartons an. In jedem befindet sich ein Paar Stiefeletten. Ich trage keine anderen Schuhe, sagt er, zählt die Schuhe durch: Werktagsschuhe, Sonntagsschuhe, Reserveschuhe und ausgediente. Der Vater wirft keine StiefeJetten weg, als verlöre er sonst etwas von seinem vorwärtsstürmenden Drang, seinem Marschgepäckrhythmus. Zwei Weltkriege habe ich mitgemacht, sagt er, ich war in Albanien, Griechenland, in Bosnien, Mazedonien, Kroatien während des ersten, in Frankreich und Rußland während des zweiten. Wo meine Füße überall waren, sagt er zu seinen entblößten weißen Füßen beim Zehnägelschneiden. Er sagt es immer wieder, betrachtet sie, schaut in die Kartons, überlegt, welche Stiefeletten nimmt er diesmal dran? Es kommt ihm auf eine möglichst synchrone Abnutzung an. Der Vater ist alt. Seine schönste Zeit war die Militärzeit, sagt er. Wamm, frage ich. Warum, antwortet er, das verstehst du nicht. Er erzählt von Partisanen, Schüssen, Granaten und von den undurchdringlich weiten Ebenen. Er schwärmt nicht vom Krieg, er weiß, daß es grausam war, aber trotzdem. Seither glaubt er nicht mehr an Gott.
Hitler war ein Rindvieh und größenwahnsinnig. Der Vater sieht dem Hitler ähnlich, weil er auch so einen kleinen Schnurbart hat. Wäre der Hitler nicht gewesen, wäre der Vater jetzt nicht in Neuenhain, er wäre in Dobrany. Und von Dobrany kommen all seine Erinnerungen her. Er liebt seine Tochter und haßt den Schwiegersohn. Der Schwiegersohn dreht die Sicherungen heraus: dem Vater bleibt der Mund offen, ein großes zahnloses Loch, in dem das Gebiß klappert: das war der Radetzkymarsch, eine große Stille im offenen Mund des Vaters, plötzlich kein Spielmannszug, kein Kommando, kein Wutausbruch. Der Vater fällt in sich zusammen, stürzt hinunter in den Keller an den Sichemngskasten, sucht den Schwiegersohn. Dieses Schwein, brüllt der Vater durch’s Haus hinauf in den ersten Stock, wo der Schwiegersohn die Türen verschlossen hat. Vor Zorn stirbt der Vater, vor Langeweile und wegen der Abschaffung der Monarchie. Er hat nie seine Schuhe geputzt. Dafür gab’s Dienstmädchen, den Karl, und als es die nicht mehr gab, eben die Mutter.
Wolfgang Utschick
Diese Skizze erscheint im September 1979in: Hans-Ulrich Müller-Schwefe (Hrsg.),Männersachen. Verständigungstexte (edi-tion suhrkamp 717) und im November indem Roman von Wolfgang Utschick, DieVeränderung der Sehnsucht (suhrkamptaschenbuch 566).