Karl Raimund Popper’s sozialphilosophisches Hauptwerk trägt den selbstbewußten Titel 'Die offene Gesellschaft und ihre Feinde* - die Türen der J.W. Goethe-Universität blieben für den Diskus-Mitarbeiter verschlossen, als am 8.Juni der FB Wirtschaftswissenschaften dem Autor jenes berühmten Werkes den Ehrendoktor verlieh; war diese Verletzung des bürgerlichen Rechtes der Pressefreiheit etwa einem mutmaßlichen Feind der offenen Gesellschaft zugedacht?
Popper habe ich vor 11 Jahren kennengelemt: im Sommer 1968 tanzte in Wien der internationale Philosophenkongreß. Am Rande des philosophischen Geschäftes, das weitgehend unberührt von den Problemen der realen Welt in den Akademien abgewickelt wurde,gab es zwei Fernsehdiskussionen, in denen einige interessierte Philosophen über den VietnamKrieg, über den Einmarsch der Tmppen in die CSSR und die antiautoritäre Protestbewegung diskutierten. In einer Diskussion trafen Ernst Bloch und Karl Popper aufeinander. Beide mußten eine Antwort auf die Frage finden, was heute am meisten not tue; Bloch sprach von dem Protest gegen die Mächtigen — ich erinnere mich noch heute an seine blumige Sprache mit ihrer emotionalen, mitreißenden Diktion. Popper dagegen — auch vom Äußeren her der Gegenpol — hielt sich bescheidenst zurück: „Wessen wir heute mehr denn je bedürfen, ist etwas mehr intellektuelle Bescheidenheit!“ Als ich ein Jahr später an die Universität kam, avancierte das Buch über den ’Positivismusstreit in der deutschen Soziologie* zum Favoriten unserer wissenschaftskritischen Diskussionen: Adorno und Habermas auf der einen, Albert und Popper auf der anderen Seite der Barrikaden. Natürlich überzeugten mich die Argumente der Kritischen Theoretiker mehr als die der Positivisten, zu denen wir — Unterabteilung 'Kritischer Rationalismus* — Albert und Popper trotz ihres Geschreis nach Differenzierung rechneten; ’Du Positivist* wurde zur höchsten Form unserer Abqualifizierung.
In diesen Diskussionen wurden mir die Position, die Begründung und die (wissenschaftsjpolitische Gefährlichkeit der Popper’schen Philosophie bewußt.
Popper’s Lehre lebt von dem konstitutiven Zusammenhang von Wissenschaftstheorie und Sozialphilosophie: seine Theorie des wissenschaftlichen Fortschritts verweist letzten Endes auf Konsensprozesse innerhalb der Wissenschaftlergemeinschaft, die das Modell für gesamtgesellschaftliche Klämngs- und Einigungsprozesse abgeben. Gesellschaftliche Probleme werden für Popper durch Sozialplanung gelöst, deren Grundlage gesetzartiges Wissen über das menschliche Sozialverhalten und deren Voraussetzung die Undiskutierbarkeit der Planungsziele ausmacht.
Wie liest sich das in Popper’s Werken? Diese Theorie ist zu einflußreich und zu falsch, als daß ich mit diesen zwei Sätzen über sie hinweggehen dürfte; stellt sie doch das aufgeklärte Bewußtsein eines wachsenden Teiles unserer Hochschullehrerschaft dar: Philosophen wie Becker, Pädagogen wie Eckel, Wiwis wie Fleischmann und Unipräsidenten wie Krupp, um nur einige Beispiele zu nennen; bei den Naturwissenschaftlern stellt sie sich in vielen Fällen als deren ein-geborene, spontane Philosophie (Althusser) dar: „Es ist doch selbstverständlich, daß die Wissenschaft nach diesen Prinzipien voranschreitet! Wie sollte eine demokratische Massengesellschaft denn sonst ihre Pobleme lösen?“ Popper’s 'Logik der Forschung* versteht sich als Kampfschrift gegen Psychoanalyse und Marxismus und als Organon des wissenschaftlichen Fortschritts: wissenschaftliche Gesetze müssen die logische Form von Allsätzen besitzen, die universellen Es-gibt-nicht-Sätzen logisch äquivalent sind. (Beispiel: Alle Raben sind schwarz — Es gibt keine weißen Raben.) Die Gesetze können in dieser Form widerlegt, falsifiziert oder (vorläufig, bis zu einer späteren Widerlegung) bestätigt werden, wenn man sie mit der sprachlichen Fassung von Beobachtungsergebnissen oder Meßresultaten (Basissatz) vergleicht, die die logische Form eines universellen Es-gibt-Satzes besitzen (Beispiel: Es gibt einen weißen Raben.) Alles kommt letzten Endes auf die Basissätze an; was als Basissatz anerkannt wird, entscheidet sich in der freien Experimentier- und Diskutiergemeinschaft der Wissenschaftler. Historische Traditionen, ökonomische Zwänge, innerwissenschaftliche Konkurrenz- und Machtmechanismen, das reale Chaos im Verhältnis von Theorie und Gegenstandsbereich, das alles verschwindet im Popper’schen Nebel des kritischen Rationalismus.
Popper’s Bild einer funktionierenden Demokratie (um es nicht in Vergessenheit geraten zu lassen: so denken auch Werner Becker, Gerd Fleischmann und Hans-Jürgen Krupp) beschreibt die institutionell gesicherte rationale Diskussion freier Bürger; Feinde dieser offenen Gesellschaft sind nun nicht etwa — wie wir es erfahren — die Parteien, unsere zentralistisch organisierten Verwaltungen, die gewaltförmig strukturierte Arbeitswelt, die Verrechtlichung aller politischen Auseinandersetzungen, die Ausbeutung der Natur, nein, es sind die theoretisch-wissenschaftlichen Systeme, die sich Popper’s Bild von einer empirischen Wissenschaft nicht fügen wollen: an erster Stelle der Marxismus, dessen Erzvater Hegel und die metaphysische Tradition.
Um die Gefährlichkeit der Popper’schen Sozialphilosophie im Blickfeld erscheinen zu lassen, muß ich noch einmal auf die Wissenschaftstheorie zuiückgreifen. Wissenschaftliche Sätze sind - nach Popper — Wenn-dann-Sätze, sie stiften einen erklärenden Kausalzusammenhang zwischen zwei Ereignissen; ihre logische Form eröffnet ihre prognostische, ihre technologische Potenz: wenn ich einen Vorgang derart erkläre, kann ich ihn auch Voraussagen, bzw. technisch erzeugen, ich muß nur das als Ursache erkannte Ereignis produzieren, dann wird das als Wirkung entdeckte Ereignis als Folge eintreten. Die Popper’sche Theorie der gesellschaftlichen Problemlösungen, das sogenannte ’piecemeal engineering 1 , ist die gesellschaftspolitische Extrapolation dieser Methodologie (Habermas): In dem technologischen Modell der Planung gehen die Menschen nicht als handelnde Subjekte, sondern als von wissenschaftlich exakten Gesetzmäßigkeiten regierte Objekte ein; die Politiker geben bestimmte Ziele der Planung vor, die die Verwaltungen dann in bestimmte Mittelempfehlungen gemäß ihren Kenntnissen der sozialen Gesetze umformulieren. Die Ausführenden sind dann wieder die Politiker. Dieser Gesellschaft droht die Spaltung des Bewußtseins in Werte und Tatsachen und die Aufspaltung der Menschen in zwei Klassen — in Sozialingenieure und Insassen geschlossener Anstalten (Habermas). An dieser Stelle endet der wissenschaftstheoretische Spaß: die Popper’sche Sozialphilosophie wird gegenwärtig empirisch umgesetzt: in einem riesigen sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekt — u.a. unter Leitung von Krupp — werden Sozialindikatoren, darunter verstehen die Soziologen wesentliche, meßbare Bestimmungsgrößen des sozialen Lebens, für die BRD formuliert; diese sollen — als Zielvariable eines sozialtechnologischen Modells — die Grundlage für die bürgernahen Politstrategien der SPD-Technokraten abgeben. Diese beeindruckende Kette von Wissenschaftstheorie, Sozialphilosophie, empirischer Sozialforschung und sozialdemokratischer Politik schließt sich denn auch zum Kreis: Unser aller Kanzler hat eigenhändigzwei Bände eingeleitet, die das Verhältnis von Sozialdemokratie und Kritischem Rationalismus einsegnen wollen:
Auch in ganz anderen gesellschaftlichenSystemen sind die Probleme der an derLebensqualität zu messenden Gestaltungvon Städten und ländlichen Räumenäußerst komplex. Hieran zu arbeiten, be-deutet deshalb: systematisch und schritt-weise viele einzelne Gesetze und Vor-schriften zu ändern, Einzelprobleme an-zupacken und zu lösen, die Veränderungeben 'Stück für Stück ‘ in konkreten Re-formschritten herbeizuführen (’piecemealsocial engineering ‘ - wie Karl Poppersagt). “ P.S. Unser Ex-Präsident war auch einer jener gelackten Türsteher, die alle nichtgeladenen Gäste, die wie meine Wenigkeit als Öffentlichkeitsvertreter Einsichten in die Theorie der offenen Gesellschaft suchten, am Eintritt zu hindern wußten: Akademische ’huis clos‘ als Apotheose der Sozialdemokratie
Benno Bär
München/Landshut Pfingsten 1979