Selbstleid
Dieses Erstlingswerk ist ein Katalog. Der Leser findet sich in eine Ausstellung versetzt, geht beim Lesen durch eine bunte, schmalfedrige Galerie, einen Kreuzgang, wo in jedem Bogen ein Bild hängt, ein Gebet, eine himmelschreiende Pantomime in zaghaft kurzen Schritten. Zierliche Bemühungen in einer dünnen Luft, so sieht es von weitem aus, Vorbereitungen auf den eigenen Tod von nahem.
Der Eindruck einer Ausstellung findet seine Bestätigung darin, daß einerseits die einzelnen Geschichten in ihrer Gesamtkonzeption den Charakter einer Bilderfolge mit Begleittext haben — man könnte sie „Moritaten" ohne Exposition, Anrufen der Musen, Bürger etc. und ohne Epilog, „Moral von der Geschichte“, Pointe nennen — wobei diese Bilder dem „Cartoon“, dem „comic - Strip“ vergleichbar sind. Es sind geschriebene Beckett-Illustrationen, wiedererzählte Passagen aus BergmannFilmen, weitergeführte Kafka-Szenerien. Von Baum zu Baum schwingende Tarzan-Figuren tauchen auf und unter. Fellinis Julia und ihreGeister, ein gewisser Kniff könnten als weitere Anleihen genannt werden, E. Gorey, Schnecks Night Clerk, Das Schloß, Harras, Godot, Texteum Nichts, Eichs Hörspiele und Enzensbergers Bürger-Beschreibungen. Zwischendurch und über Allem: Radfahrer in der Luft, ChagallFiguren schräg im Wind. Der Zöllner Rousseau. Eine Welt des Traumes, des Irrealen, eine Welt in einer tödlichen Schwebe tut sich vor dem Leser unvermittelt auf Andererseits — und das verstärkt ebenfalls den Eindruck des Bildhaften — ist die Hauptperson, - die handelnde „Ich“-Figur vorbestimmt und fixiert, von einer zweifelhaften Umwelt in ihrem Handlungsradius eingeschränkt. Das Leiden an sich selbst, der Monolog, regiert und versperrt jeden möglichen Zugang, was für die Figur ein weiterer Grund zum Leiden ist. Dieses potentiell gesteigerte Leiden ist quasi die Vorstufe zu einer statischabsurden Welt. Das „Ich“ wird immer Leierkastenmann, Heiliger, Großer Zauberer, Vereinsmitglied bleiben.
Doch vermitteln diese Maskeraden nicht den Eindruck des „Normal-Verbrauchers“, sondern den des Gequälten, des Ausgelachten. Der denkende Clown ist der out-law einer lächerlich-bedrohlichen Gesellschaft. Ein aus den Mülltonnen der Zeit Sprechender klagt und klagt an.
Im Verlauf der Geschichten werden die deformierten Körper zu „Symbolen“ für Seelenzustände, „deformierte Symbole“ werden zu „Chiffren“ für subjektiv erlebte Inner-Weltkatastrophen. Aber immer ist es das an sich und der zum Teil selbstverschuldeten Umwelt leidende „Ich“, das durch sein eigenes Denken einerseits und durch johlende Menschenmengen andererseits Spießruten läuft und die Gasse taumelnd verläßt. Ein neues Bild bietet sich an: Enzors Einzug Jesu in Brüssel oder M. Hausers Odysseus (Darmstädter Angst-Ausstellung).
Dietrich Werners Figuren werden ihr „Ithaka“ nie erreichen, ihren geistigen Siedelplatz. Für sie gibt es keinen Angelpunkt der Einsicht, selbst, wenn es eine Einsicht in die Unmöglichkeit von Verständnis und Verständigung wäre Das Lied des Leierkastenmanns tönt durch leere Straßen einer toten Stadt, des Clowns Bemühungen in der Luft sind umsonst und für niemanden wahrnehmbar, es ist gleich, out-law oder in-law zu sein. In den Fenstern nistet nicht einmal das Grauen, was einem die Möglichkeit des Widerstands gäbe. Es ist also an der Zeit, sich in den steinernen und endgültigen Sarkopharg des Schweigens einweisen zu lassen. Wulf Goebel