Die hohe Zeit des Sprachkritikers ist die Frühstücksstunde. Obwohl es unbekömmlich sein soll, während der Mahlzeit zu lesen, schlingt er abwechselnd Honigbrötchen und sprachliche Leckerbissen in sich hinein. So bleibt kein Tag ohne Würze. Unsere Publizistik ist für den Sprachkritiker das gefundene Fressen.

Da liest er in der WELT: „Was könnte künftige Historiker daran hindern, den Herbst 1966 abzuklopfen und aus seinem abbröckelnden Stuck, Weimar zum Trotz, einen neuen Meilenstein des Verfalls zusammenzukehren?“ (9. 11. 1966). Welch herrliche Metapher. Man sollte meinen, das mundete. Doch der verwöhnte Sprachkritiker reagiert auf solche Delikatessen eher müde. Welche Hausfrau — und unser Kritiker legt gern seine Funde der Kaffee kochenden Wirtin vor — merkte nicht, daß man — der WELT zum Trotz — keinen Meilenstein zusammenkehren kann? Sogar die Wirtin winkt ab: zu evident Ähnlich steht es mit einem Ausspruch des SPD-Abgeordneten Wienand, der — natürlich vor Bildung der Großen Koalition — zum Thema Bestechung im Verteidigungsministerium sagte: „Man soll den Sumpf der Korruption mit Stumpf und Stiel ausräuchern“. Ein gestielter Sumpf, der sich räuchern läßt - zu schön, um wahr zu sein. Hier hat der Sprachkritiker nichts mehr zu bestellen. Er läßt die Zeitung sinken.

Man kann mit wenigen großen Worten eingestehen, daß man nichts zu sagen hat; man kann aber auch viele Worte machen und dadurch zugeben, was man eigentlich verschleiern wollte. Die gepflegte FAZ hat manchmal ein Faible für solch vornehme Verklausulierung der unangenehmen Wahrheit. Lassen wir, sprachkritische Honigschlecker, die wir sind, folgenden Satz auf der Zunge zergehen: „Obwohl es gegenwärtig so gut wie keinen diesbezüglichen Druck in der Berliner Bevölkerung beiderseits der Mauer gibt, so kann nicht ausgeschlossen werden, daß sich mit dem Näherrücken der Festtage bei dem einen oder anderen der Wunsch verstärkt, die Verwandten im Ostsektor, zumal wenn es sich um Eltern, Kinder oder Enkel handelt, auch diesmal, wie während der letzten drei Jahre, zu sehen.“ (FAZ 15. 9. 1966) Welch altväterlicher, zugeknöpfter Stil. Aber das schlechte Gewissen schaut aus allen Knopflöchern. Die FAZ schreibt, was sie nicht schreiben möchte. In der Tat: obwohl Ost und West seit Jahren mit ungeheuerem Propagandaaufwand um die Anerkennung der DDR streiten, sind Eltern und Kinder vielleicht doch noch nicht so politisiert, daß sich nicht, „bei dem einen oder anderen“, „zumal“ wenn die Verwandtschaft eng ist, ein primäres Interesse am Wiedersehen regte. Es ist wirklich nicht völlig auszuschließen.

Sigmund Freud hat gezeigt, wie durch einen lapsus linguae, ein absichtsloses Versprechen, eine verdrängte Wahrheit entgegen den Absichten des Sprechers ans Licht kommen kann. Journalistische Fehlleistungen in diesem Sinne gibt es viele, wenngleich der Rückschluß aufs Motiv nicht immer eindeutig ist.

Emotion trübt nicht nur das Urteil, sondern auch die Sprache. Als die WELT den schwarzen Jazzmusikern der USA „ständigen Zorn und rassenklägerischen Fanatismus“ attestierte (5.

11.1966) , machte sie es sich inhaltlich zu leicht. Das falsche Adjektiv „rassenanklägerisch“ gibt davon, auch grammatisch, Kunde. Ob Jazz die weiße Rasse anklagen kann, wage ich nicht zu entscheiden. Aber eine „rassenanklägerische“ Musik gibt es bestimmt nicht.

Ein weiterer Fall des unbeabsichtigten Ausplauderns unangenehmer Wahrheit: Es ist bekannt, daß Präsident Johnson, da er zunehmend Rücksicht nehmen muß auf die Stimmen der Republikaner und des rechten-Flügels der Demokraten, von seinen eigenen Entwürfen für progressive Rassen- und Sozialgesetze mehr und mehr Abstriche macht. Heinz Barth, der Amerika-Korrespondent der WELT, nimmt darauf Bezug in einem Artikel, in dem es heißt: „Es sind Stimmen, die Johnson fehlen werden, wenn er dem Kongreß die noch rückständigen Sozial- und Rassengesetze abringen will“. (10.

11.1966) Da steht es: die heutigen Gesetzentwürfe von Johnson sind rückständig. Aber wer diesen Satz prüft, wer zudem die Tendenz von Heinz Barths Berichterstattung kennt, der weiß genau, daß der Weltmann überhaupt nicht beabsichtigt hatte, von linksliberaler Warte aus Johnson mit dem Makel der Rückständigkeit zu behaften. Er wollte es nicht sagen; aber er hat es gesagt. Was er sagen wollte, war dies: die „noch ausstehenden Gesetze“, deren Verabschiedung ansteht. Das Freudsche Versprechen brachte etwas anderes an den Tag.

Mit folgendem Fall geraten wir noch mehr auf das Gebiet des Wiener Seelenarztes. Die Wirtin müssen wir diesmal bitten, wegzuhören. Es dreht sich um einen Ausspruch des marokkanischen Königs Hassan, dessen Innenminister Oufkir bei der Verschleppung und Ermordung des marokkanischen Oppositionspolitikers Ben Barka eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Als General De Gaulle die Mörder, ohne Rücksicht auf Opportunitäten, verfolgen lies, protestierte der ertappte Hassan mit dem Ausspruch: „Ein derartiger Fall steht in den Annalen der Geschichte einzig da“. Das überlieferte uns die WELT vom 28. 10. 1966. Nur schreibt sie „Analen“ statt „Annalen“ und verhilft so, gewiß ohne bewußte Absicht, der schmutzigen Wahrheit ans Licht. (Vielleicht war es aber auch nur der Druckfehlerteufel, der, sich Freudscher List bedienend, Hassan mit einem kräftigen ,merde‘ dementierte.) Der Sprachkritiker hat genug gemeckert. Er verläßt für heute sein undankbares Geschäft, um sich Wichtigerem zuzuwenden. Der Kaffee ist kalt.

Daß allerdings Sprachkritik gelegentlich unmittelbar an den nervus rerum rührt, bewies ein Leserbriefschreiber der ZEIT. Hermann Schult aus Heidelberg schrieb zu einer Bildunterschrift der ZEIT: „Ich erlaube mir, meinem Befremden darüber Ausdruck zu geben, daß Sie die Mißhandlung eines Partisanen durch einen Soldaten als .verhören' bezeichnen. Hier sind Sie der Sprachregelung der Machthaber auf den Leim gegangen“.

An dieser Differenz hängt in der Tat die Humanität. Die ZEIT, eine liberale Zeitschrift, ließ den Einwand gegen sich gelten und veröffentlichte den sprachkritischen Leserbrief.